Vom Zuschauer zum Bombenbauer
Er wollte einen hessischen Ableger der »Atomwaffendivision« gründen und Anschläge begehen – nun sitzt der 20-jährige Marvin E. in Frankfurt auf der Anklagebank
Die rechtsterroristische Atomwaffendivision (AWD) trat erstmals 2015 in Florida in Erscheinung. Nach dem Prinzip des führerlosen Widerstands sollen Mitglieder hauptsächlich über das Internet rekrutiert werden, um diese für einen bewaffneten »Rassenkrieg« zu begeistern. Das Netzwerk und seine Anhänger*innen, die für mindestens fünf Morde in den USA verantwortlich sind, verbindet die Melange aus Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und Hass auf homosexuelle Menschen. Mittlerweile finden sich nicht nur im Internet Personen unter der extrem rechten, terroristischen Marke zusammen – auch in die deutsche neonazistische Szene gibt es Verstrickungen der AWD. Ein Anhänger aus Hessen muss sich seit August 2022 in Frankfurt vor Gericht dafür verantworten.
Der 20-jährige Marvin E. sitzt seit dem 16. September 2021 in Untersuchungshaft. Wie die Antifa-Gruppe TASK publik machte, kandidierte der Tischlerlehrling aus dem nordhessischen Spangenberg zuvor für den dortigen CDU-Kreisverband bei der Kommunalwahl. Dass E. 2021 durch das SEK festgenommen und dem Haftrichter in Karlsruhe vorgeführt wurde, wurde der Öffentlichkeit erst nach dem Abschluss des Wahlkampfes für die damals kurz bevorstehende Bundestagswahl bekannt – womöglich auch, weil diese Causa mitten in einem Wahlkampf für die CDU wirklich nicht gut ausgesehen hätte.
Die ermittelnde Generalbundesanwaltschaft (GBA) wirft dem 20-Jährigen vor, versucht zu haben, eine terroristische Vereinigung zu gründen sowie eine schwere staatsgefährdende Straftat geplant zu haben. E. teile die Ideologie der Atomwaffendivision: für einen von der extremen Rechten herbeiphantasierten Tag X habe er Sprengstoff gehortet, welche Ermittler*innen bei ihm zahlreich auffanden. Er soll sich in Chatgruppen mit anderen AWD-Anhänger*innen sowie Interessierten ausgetauscht haben. Außerdem versuchte E. Personen aus seinem Umfeld für die AWD zu rekrutieren und plante mit diesen Plakat-Aktionen mit neonazistischen Inhalten in Kassel. Einen Freund und ehemaligen Mitschüler fragte er im Chat pathetisch: »Schwörst du der Atomwaffendivision die Treue?«.
Selbstgenähte AWD-Abzeichen
Marvin E. wuchs in Spangenberg mit drei Geschwistern auf. Die Familienverhältnisse beschreibt er vor Gericht als schwierig, seine Familie habe seit seiner Zeit in Untersuchungshaft den Kontakt zu ihm abgebrochen. Vor seiner Festnahme machte er eine Ausbildung zum Schreiner und beschäftigte sich nach Feierabend mit Bombenbauanleitungen und rechter Ideologie. Anleitungen fand er auf YouTube, Materialien bildeten Alltagsgegenstände und Zubehör aus dem Internet. Er hortete neben 600 kleinen Sprengkörpern sechs größere Bomben, die mit Stahlkugeln gefüllt waren und einen erheblichen Schaden hätten anrichten können. Auch Propagandamaterial für die AWD, die er in Hessen aufbauen wollte, stellte der Lehrling selbst her. So plante er einen Onlineshop der AWD hochzuziehen. Dort sollten wohl u.a. selbstgenähte Patches mit einschlägigen Nazi-Symbolen vertrieben werden. Solche Vorhaben oder auch angefertigte Fotos von ihm in Flecktarn-Ausrüstung und Hitlergruß zeugen von seiner neonazistischen Ideologie.
Neben dem Austausch mit anderen Gleichgesinnten, von denen E. im Prozess stets angibt, nicht zu wissen, wer sie seien, da sie sich nach seinen Angaben anonym im Internet ausgetauscht hätten, hegte er »mehrere Gedankenspiele«. So habe er überlegt, den Bundestag anzugreifen oder gemeinsam mit seinen ihm vermeintlich unbekannten Kamerad*innen von ihnen verhasste Personen wie Linke, Migrant*innen oder Jüdinnen und Juden zu töten. Auch ein Propaganda-Video eines Schulamoklaufs verschickte er an einen Freund und gab im Gericht an, dass auch dies eine mögliche Idee gewesen war.
Der Angeklagte verbrachte viel Zeit im Internet, betrieb bis zu seiner Festnahme einen eigenen YouTube-Kanal mit Meinungsvideos und Streams von Onlinespielen. Auch diverse rassistische Telegram-Gruppen, die der AWD zuzurechnen sind, wurden im Chatverlauf des Angeklagten gefunden. E. beschrieb vor Gericht, wie er am Anfang in größeren öffentlichen Gruppen der AWD nur zugeschaut habe, was andere schrieben. Nach einer Prüfung im Zwiegespräch durch andere Mitglieder sei er in private Gruppen eingeladen worden.
Prototyp eines »neuen« Rechtsterroristen
Im bisherigen Prozessverlauf gab er sich aussagebereit, jedoch fühlten die Richter*innen und die GBA dem Angeklagten bislang nicht allzu stark auf den Zahn. Zu möglichen weiteren Personen im Netzwerk der AWD bleibt Marvin E. einsilbig. Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland derzeit mindestens ein größeres Ermittlungsverfahren mit zehn Beschuldigten wegen »Verdacht der Mitgliedschaft, der versuchten Mitgliedschaft oder der Unterstützung der terroristischen Vereinigung« läuft, wäre es die Aufgabe des Gerichts, genau in dieser Frage besonders gründlich zu sein.
Radikalisierung und Kontakt zu anderen Neonazis verlaufen online und anonym. Netzwerke darüber hinaus sind für diese Form des rechten Terrors nicht notwendig. Waffen für die geplanten Taten werden selbst gebaut.
Schon vor der Festnahme von Marvin E. fiel die AWD in Deutschland mit Aktivitäten auf: Der Eisenacher Neonazi und Betreiber der Szene-Kneipe »Bull’s Eye«, Leon Ringl, sitzt derzeit in Untersuchungshaft, da er unter dem Label Knockout51 mit weiteren Beschuldigten, u.a. dem aus Hessen stammenden Bastian A., eine kriminelle Vereinigung gegründet haben soll. Einige Jahre zuvor war Ringl ein aktiver Nutzer des 2019 geleakten internationalen Onlineforums »Iron March« der AWD. Dort prahlte er mit seiner antisemitischen Einstellung und gab an, die internationale Vernetzung mit und durch die AWD betreiben zu wollen. Auch Flugblätter der AWD mit Mordaufrufen, die 2019 in mehreren Universitäten auftauchten, unter anderem in Frankfurt, waren vor Gericht bisher kein Thema. Es besteht wenig Hoffnung, dass in diesem Gerichtsverfahren die offene Frage nach der Vernetzung der AWD und deren Akteur*innen in Deutschland geklärt werden wird.
Der Prozess liefert jedoch prototypische Einblicke in die Funktionsweise dieser seit einigen Jahren bestehenden »neuen« Form des Rechtsterrorismus: Radikalisierung und Kontakt zu anderen Neonazis verlaufen online und anonym. Netzwerke darüber hinaus sind für diese Form des rechten Terrors nicht notwendig. Waffen für die geplanten Taten werden selbst gebaut.
Zugleich bieten diese Umstände die Gefahr einer Entpolitisierung und Bagatellisierung: Bei Marvin E.s Plänen scheinen die Grenzen zwischen einem rechtsterroristischen Anschlag und einem Schulamoklauf mitunter zu verschwimmen. Dass er aus einer klaren NS-Ideologie heraus handelte, kann aber nicht geleugnet werden. Und der Umstand, dass die Bomben selbst gebaut wurden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, was sie hätten anrichten können, hätte E. seine Pläne in die Tat umgesetzt.