Mai 2020
Niemand hat unsere Gastautorin als Kind so sehr geliebt, wie ihre Schwestern. Diese Liebe ist schwer zu ersetzen
Von Cennet Alkan
Viele Frauen sind in dieser Minute an dem Ort, an dem sie tatsächlich sein wollen: Sie schlafen gerade in diesem Moment mit einer Frau oder einem Mann ihrer Wahl.
Eine Frau, viele Frauen. Zu 50 Prozent sind sie ein Teil dieser Erde und tragen dazu bei, dass die Menschheit sich vermehrt. Sieben Milliarden sind wir jetzt schon.
Meine Mutter war eine starke Frau. Sie hat die Eisenstange geschwungen, wenn auch nur irgendein Verrückter eine meiner Schwestern oder mich geärgert hat. Sie stand Tag und Nacht auf den Beinen mit dem nächsten Geschöpf im Bauch. Sechs Kinder hat sie zur Welt gebracht, eines davon hat es leider nicht geschafft und musste zur Mutter Erde zurückgebracht werden. Ich habe erst mit 18 davon erfahren. Es war ein Junge. Ali.
Meine Großmutter hat alle hinter sich hergezogen und durchgefüttert. Sie hat mir meine Kleider genäht und mir beigebracht, wie man türkischen Kaffee kocht.
Oma Sabriye hatte immer einen ernsten Ausdruck im Gesicht. Sie war das typische Beispiel einer Alphawölfin Anfang der 70er. Sie arbeitete von früh bis spät in einer Fabrik, die Verpackungen herstellte. Trotzdem hat sie es immer geschafft, uns alle zum Lachen zu bringen. Sie verstellte gerne ihre Stimme und fluchte über meinen Großvater, dass er nie etwas auf die Reihe kriege. Ich habe mich sehr wohl bei ihr gefühlt. Ihre Linsensuppe war unmöglich zu toppen. Sie hatte nie ein Problem damit, wenn ich in meine Phantasiewelt abgetaucht bin.
Einmal bin ich als kleines Mädchen von einem langen Spaziergang nach Hause gekommen und meine Mutter fragte mich, was ich denn in meiner Faust versteckte. Ich öffnete sie und lauter Marienkäfer flogen durch die Wohnung, steuerten auf das offene Fenster im Wohnzimmer zu und flatterten davon. Sie sollten meine ersten Haustiere werden. Nur musste ich zu meinem Bedauern feststellen, dass sie auch so frei leben wollten wie ich. Von da an wusste ich, erst wenn ich in einem Schloss wohne mit einem riesigen Garten, kann ich so viele Haustiere haben, wie ich will.
Cennet Alkan
wurde in Berlin-Kreuzberg geboren, ist leidenschaftliche Veganerin und Sternzeichen Fische. Als Schauspielerin und Autorin versucht sie, sich die Dimensionen dieser Welt zu erklären. Dafür reist sie immer mal wieder in ihre Vergangenheit und bringt von dort Fragmente mit, die sie in schriftliche Formen verwirklicht. Manchmal begegnet ihr währenddessen ihr kleines, freches Ich, das ihr – und vielleicht auch anderen – viel zu erzählen hat. Außerdem setzt sich Cennet für ihre hochsensible Seite ein und fordert ihre Umwelt dazu auf, diese als Stärke anzuerkennen. Wenn sie einen Wunsch frei hätte, würde sie das Recht auf eigenen Wohnraum für jeden Menschen in Deutschland realisieren. Zurzeit arbeitet sie an einem Gedichtband mit dem Schwerpunkt Wut und Seelenwanderung.
Ich erinnere mich an meine älteste Schwester. Sie hat oft auf ihrer Geige gespielt und viel gelesen. Sie hat mir vermittelt, dass ein schlaues Mädchen es weit bringen kann.
Meine zweitälteste Schwester war die Jeanne D´Arc unter uns Mädchen. Sie hatte die Kraft von tausend Löwinnen und hat mich immer beschützt, egal vor wem.
Daraus lernte ich, dass es wichtig ist, stark zu sein.
Als meine kleinste Schwester auf die Welt kam, hatte ich das Gefühl, dass sie meine erste Seelenverwandte war. Zum ersten Mal spürte ich wie es sich anfühlt, einen Menschen zu lieben.
Meine Schwestern haben mich zu der gemacht, die ich heute bin.
Wir haben gemeinsam gelacht, geweint, gestritten und uns lieb gehabt.
Ich dachte wirklich, wir würden auf ewig zusammen bleiben und niemals auseinandergehen.
Wir würden Kinder bleiben und nichts würde sich ändern.
Doch mit der Zeit kamen –
Hochzeiten.
Kinder.
Scheidungen.
Rosenkriege.
Ich wollte nicht verstehen, dass wir Frauen heiraten und Kinder kriegen und dass wir uns dann scheiden lassen.
Das ergab für mich keinen Sinn. Ich konnte damit einfach nichts anfangen.
In der Türkei sollte ich mich in einen Jungen verlieben.
Er war ja ganz nett, aber ich wusste, dass aus uns beiden nie was würde.
Ich liebte meine Schwestern. Das reichte mir.
Wir Mädchen spielten im Dreck und kletterten auf Bäume, wir pflückten Aprikosen und tranken aus dem Wasserhahn.
Wir sangen unsere Lieblingslieder aus dem R’n’B-, Pop-, Rap-Genre der unsterblichen 90er-Jahre und hielten unsere Putz-Sessions in unserem etablierten »Family-Discohaus« ab. Nachts schauten wir heimlich die verbotenen Horrorfilme ab 18. Wir schliefen alle in einem riesigen Bett und dachten uns Geschichten aus völlig anderen Welten aus.
Wenn eine von uns traurig war, nahmen die anderen sie in die Arme.
Wir haben gemeinsam alle Krisen überstanden.
Immer wenn eine Schwester nicht da war, habe ich sie entsetzlich vermisst, auch wenn sie nur auf einer Klassenfahrt war.
Nachdem auch ich auf den Geschmack gekommen bin und ein paar Mal mit Männern unterwegs war oder mich sogar verliebt habe, habe ich spüren müssen: Es war nicht dasselbe. Und gehalten hat es nie.
Keiner dieser Männer wusste, was Liebe für mich bedeutet, und ich kann es ihnen nicht mal verübeln.
Meine Schwestern aber haben ihre Wege gewählt und haben sich niedergelassen mit ihren Partnern. Mein Weg lief bis jetzt nicht in diese Richtung.
Ich versuche immer noch, meine Koordinaten zu ermitteln, die mich nach Hause bringen.
Diese Liebe zu meinen Schwestern, ich vermisse sie ständig und kann sie nirgends bekommen. Sie sitzt tief in mir.
Ich habe Frauen, die wie meine Schwestern, meine Mutter oder meine Großmutter sind, im Laufe meines Lebens immer wieder getroffen. Frauen, die sich nichts erzählen lassen. Sie machen, was sie wollen, einzigartige Menschen sind sie.
All die Jahre habe ich mich anders gefühlt und fremd und ich dachte, ich wäre nicht von dieser Welt.
Ständig frage ich mich noch immer, muss ich denn erwachsen werden? Warum tut es so weh, wenn plötzlich alle geliebten Menschen einfach so gehen?
Es wird doch irgendwann auch für mich Zeit, Wurzeln zu schlagen.
Manchmal denke ich, ich wäre die letzte unserer Art und ich wäre es, die uns alle noch zusammenhält.
Es ist Mai 2020, ich sitze in meinem WG-Zimmer ohne irgendeinen Plan wie es weitergeht.
Ich krame in meinen alten Sachen und schaue mir Bilder und Briefe an, die meine Schwestern mir geschrieben haben.
Meine erste große Liebe.
Meine drei Schwestern, meine Mutter, meine Oma.
Das erkenne ich in dieser Zeit.