Wenn der Nato-Partner mordet
Die Türkei intensiviert Drohnenangriffe auf die Selbstverwaltung in Rojava – vor allem politisch aktive Frauen werden zum Ziel
Von Anita Starosta
Es war der 81. Angriff dieser Art seit Jahresbeginn: Am Dienstag, den 27. September, gegen Mittag traf eine türkische Bayraktar-Drohne ein Fahrzeug auf einer Straße nahe der Stadt Girkêlegê und tötete Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero. Beide waren seit Juni Vorsitzende der Abteilung Justizreform für die Region Cizîrê der Autonomen Selbstverwaltung Nordostsyrien und unter anderem für die Überführung der Gefängnisse in die zivilen Verwaltungsstrukturen zuständig. Sie waren an diesem Tag unterwegs, um Gefängnisse in der Region zu besuchen.
Seit Monaten führt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan einen Krieg niedriger Intensität gegen Nordostsyrien (Rojava), vor allem mit Kampfdrohnen. Immer häufiger werden dabei Zivilist*innen getötet, insbesondere Frauen, die sich für feministische Belange einsetzen – so wie Zeyneb Sarokhan.
Im April traf ich Sarokhan und Yilmaz Şero in Rojava im Rahmen von Projektbesuchen der Hilfsorganisation medico international. Zeyneb Sarokhan war für ihr Engagement für Frauenrechte in der Region bekannt. Sie arbeitete lange als Frauenbeauftragte und war unter anderem zuständig für ein Waisenhaus, das medico seit 2019 unterstützt. In diesem Waisenhaus finden Kinder Zuflucht, deren jesidische Mütter versklavt und von IS-Schergen missbraucht wurden. Den Frauen war es nach ihrer Befreiung oft nicht möglich, ihre Kinder mit zurück in ihre Gemeinden zu nehmen. Sarokhan sorgte dafür, dass Mütter und Kinder Kontakt halten können. Zudem gelang es ihr, mehrere Zusammenführungen von jesidischen Müttern, die inzwischen im Irak leben, und ihren Kindern zu organisieren. Dazu verhandelte sie mit US-Diplomat*innen, Vertreter*innn der jesidischen Gemeinde, den entsprechenden Personen in Nordostsyrien und Nordirak – kein leichtes Unterfangen bei dem hochsensiblen Thema.
Angriffe gegen die autonome Selbstverwaltung
Zeyneb Sarokhan setzte sich aber auch für Frauenhäuser und anonyme Wohnungen ein, in denen verfolgte und von Gewalt betroffene Frauen Zuflucht finden. Der Bedarf in Nordostsyrien ist hoch, und bisher gibt es wenige Anlaufstellen. Ihre Analysen zu Ursachen der Gewalt gegen Frauen und möglicher Präventionsarbeit waren äußerst wichtig, sind diese Themen auch heute noch oft ein Tabu in der Gesellschaft.
Yilmaz Şero leitete im April das Gefängnis in Qamişlo, in dem Sozialarbeiter*innen der medico-Partnerorganisation Purity 30 inhaftierte Jugendliche begleiten, die unter dem IS groß geworden sind. Mit Şero konnte ich damals die schwierige Situation dieser Jugendlichen besprechen und ihre Zelle im Gefängnis besuchen. Zuletzt setzte er sich für den Umzug der inhaftierten Jugendlichen in sogenannte Rehabilitationszentren ein. Kurz vor ihrer Tötung nahmen Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero an einem Training von Purity für 50 Mitarbeiter*innen eines neuen Rehabilitationszentrums teil, in dem der besondere Schutz von Kindern und ihre Rechte unterrichtet wurden.
Mit Zeyneb Sarokhan und Yilmaz Şero sind zwei Menschen ermordet worden, die sich für die zivile und demokratische Weiterentwicklung der Region eingesetzt haben. Ihr Tod hinterlässt eine große Lücke und schwächt die Selbstverwaltung – und vermutlich war das auch das Ziel des Attentats. Darüber hinaus breitet sich in der Bevölkerung ein Gefühl der Unsicherheit aus, das den Alltag prägt. Die Menschen haben Angst, wenn sie zum Beispiel im Park sitzen. Wer könnte als nächstes getroffen werden? Diese Morde erzeugen ein klaustrophobisches Klima, auch unter denjenigen, die in zivilgesellschaftlichen Initiativen jenseits der Verwaltungsstrukturen aktiv sind. »Jetzt sind wir alle Ziele. Sie machen keinen Unterschied mehr zwischen militärischem Personal und zivilen Mitarbeiter*innen der Selbstverwaltung oder der Zivilgesellschaft«, schreibt mir kurz nach dem Drohnenangriff ein enger Bekannter.
Krieg gegen Frauenbefreiung
Viele Angriffe der Türkei richten sich gezielt gegen die Frauen der Selbstverwaltung oder in den militärischen Strukturen, besonders, wenn sie im Kampf gegen den IS aktiv sind. Ein wichtiges Merkmal der Selbstverwaltung ist, dass zentrale Funktionen paritätisch besetzt sind. Auch das ist einer Regierung wie der türkischen ein Dorn im Auge.
Seit April wurden acht Kämpfer*innen der kurdischen Fraueneinheit YPJ von Drohnen getötet, darunter hohe Kommandantinnen. Am 22. Juli besuchten Jiyan Tolhildan, Roj Xabûr und Barîn Botan das Frauenforum in Qamişlo, das anlässlich des zehnjährigen Bestehens Rojavas stattfand. Tolhildan sprach dort über die Bedeutung der Selbstverteidigung von Frauen. Alle drei waren auch in der Antiterroreinheit YAT aktiv. Als sie die Veranstaltung gemeinsam verließen und ins Auto stiegen, wurden sie von einer Drohne getötet.
Obwohl der feministische kurdische Freiheitsruf »Jin, Jiyan, Azadî« (Frau, Leben, Freiheit) derzeit um die Welt geht, erhalten die Morde an PKK-nahen Aktivistinnen keine Öffentlichkeit.
Am 4. Oktober wurde eine wichtige Theoretikerin und Aktivistin der kurdischen Frauenlehre Jineolojî, Nagihan Akarsel, vor ihrer Wohnung in Sulaimaniya (kurdisch Silêmanî) in der Kurdistan Region Irak erschossen. Die Frauenrechtlerin Akarsel arbeitete lange als Autorin und Journalistin und widmete sich der kurdischen Jineolojî-Akademie in Sulaimaniya, an der sie forschte und die kurdische Frauenbibliothek einrichtete. Die irakisch-kurdischen Sicherheitskräfte verhafteten den Täter auf der Flucht, machten jedoch bisher keine Angaben zu seiner Identität.
Es ist nicht das erste Mal, dass in Kurdistan-Irak PKK-nahe Aktivist*innen auf diese Art ermordet werden. In einer Zeit, in der feministische kurdische Freiheitsruf »Jin, Jiyan, Azadî« (Frau, Leben, Freiheit) um die ganze Welt geht, weil sich im Iran Frauen gegen das repressive Regime erheben, ist diese Hinrichtung ein besonderer Skandal, der leider jenseits linker kurdischer Kreise kaum Öffentlichkeit bekommt. Sie zeigt jedoch einmal mehr, dass Frauen in relevanten Positionen Zielobjekt der türkischen Regierung sind.
Drohnenmacht Türkei
Bei den bisher 81 Drohnenangriffen, die das Rojava Information Center dieses Jahr in Nordostsyrien zählt, kamen 66 Menschen (darunter 23 Zivilist*innen) ums Leben. Seit April droht Erdoğan mit einer erneuten militärischen Großoffensive – ähnlich wie in Afrin 2018 oder der Grenzregion um Serekaniye 2019. Damals flohen Hunderttausende, von denen ein Großteil bis heute in Flüchtlingslagern auf eine mögliche Rückkehr in ihre Heimatstädte wartet. Leider ohne Perspektive, denn die Gebiete werden von islamistischen Söldnern besetzt gehalten, zudem siedelt die Türkei dort syrische Geflüchtete an, um einen demografischen Austausch zu bewirken.
Bisher hat Erdoğan kein grünes Licht für einen erneuten Militärschlag von den relevanten geopolitischen Akteur*innen erhalten. Ob Putin, Assad, Raisi oder Biden – niemand hat zurzeit Interesse an einem weiteren Krisenherd. Selbst die deutsche Außenministierin Annalena Baerbock äußerte sich bei ihrem Türkeibesuch im Juli offen gegen eine solche Intervention, ein Novum in der deutschen Außenpolitik.
Das türkische Militär intensiviert seither die völkerrechtswidrigen Drohnenangriffe. Auch im Nordirak setzt die Türkei Drohnen ein. Im Juli starben bei einem Drohnenangriff auf ein Tourismuszentrum acht Zivilist*innen. Ungewöhnlich deutlich hat der irakische Ministerpräsident, Mustafa al-Kadhimi, diesen Beschuss als eklatante Verletzung der Souveränität des Landes kritisiert. Bisher konnte sich die Türkei auf die Zustimmung der Regierung und auch des Ministerpräsidenten der Autonomen Region Kurdistan in Irak, Masrur Barzani, verlassen.
Statt den Nato-Partner Türkei für das völkerrechtswidrige Verhalten in die Pflicht zu nehmen, haben sich die Bundesrepublik und die europäischen Staaten entschieden, mit Erdoğan zu kollaborieren, um sich Geflüchtete vom Hals zu halten. Dem autokratischen Herrscher der Türkei wurde mit dem sogenannten Flüchtlingsdeal ein mächtiges Druckmittel in die Hand gegeben.
Aktuell inszeniert sich Erdoğan als neutraler Mittler im Krieg gegen die Ukraine und behindert die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato, da die Länder der türkischen Forderungen nach Auslieferungen angeblicher Terrorist*innen bislang (jedenfalls bis Redaktionsschluss) nicht nachkommen. Im Kontrast zur einhelligen Verurteilung der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine wirkt das Schweigen der Nato-Staaten zu den Anschlägen in Nordsyrien/Rojava und Kurdistan-Irak umso unerträglicher.