Internationalismus von oben
Vor 40 Jahren gründete die DDR die »Schule der Freundschaft« – ehemalige Schüler*innen möchten ihre Geschichte nun selbst erzählen
Es ist das Jahr 1986. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), im sachsen-anhaltinischen Staßfurt, kursiert ein Dokument, welches »nur für den Dienstgebrauch« vorgesehen ist. Es ist eine Sammlung des Direktors für Berufsausbildung von Argumenten mosambikanischer Schüler*innen »zur Kennzeichnung der ideologischen Position« der Bevölkerung in der DDR. Darin äußert sich ein Schüler wie folgt: »Wenn DDR-Bürger in Mosambique arbeiten, dann erhalten sie gegenüber der Bevölkerung Bevorzugungen. Mosambiquanische Bürger in der DDR werden abweisend von der Bevölkerung behandelt.« (1)
Im selben Dokument weist der Direktor darauf hin, dass jugendliche und erwachsene DDR-Bürger verärgert seien über die teilweise gute Kleidung einiger mosambikanischer Jugendlicher und hält Zitate wie »Denen geht es zu gut«, »die werden verwöhnt« und »die kriegen Devisen« fest. Auch physische und verbale Angriffe auf die jungen Afrikaner*innen werden vermerkt. Ein anderer mosambikanischer Schüler schlussfolgert: »Lieber vorzeitig nach Mosambique zurück, und dort gegen die Südafrikaner kämpfen, als hier in der DDR zu bleiben und auch zu kämpfen.«
Im Zeitraum von 1982 bis 1988 besuchten Kinder und Jugendliche aus Mosambik die »Schule der Freundschaft« (SdF) in Staßfurt, Sachsen-Anhalt, um dort eine Schulausbildung zu erhalten. Von 1986 bis 1990 kamen ca. 300 namibische Schüler*innen im Internat der Ausbildungsstätte hinzu, die eine technische Oberschule im fünf Kilometer entfernten Nachbarort Löderburg besuchten. 2022 jährt sich die Gründung der SdF zum 40. Mal. Die Erinnerung an das ambitionierte Ausbildungsprojekt ist umstritten. Für manche ist es noch immer ein Beispiel gelungener internationaler Solidarität, für andere verdeutlicht die SdF die Widersprüchlichkeit zwischen der staatlichen »Völkerfreundschaft« und der durch strukturellen, institutionellen sowie alltäglichen Rassismus geprägten Lebensrealität von migrantischen Arbeiter*innen und Schüler*innen in der DDR.
Jahrzehnte der Befreiung
Das Projekt »Schule der Freundschaft« war nicht das erste seiner Art. Bereits im Jahr 1955 kamen im Zuge einer Kooperation zwischen DDR und Nordvietnam 350 Kinder in zwei sächsische Heime, um dort eine Schulbildung zu erhalten. Doch insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren verstärkte sich das Interesse der DDR-Öffentlichkeit am afrikanischen Kontinent.
Das Jahr 1960 war ein Wendepunkt für anti-koloniale afrikanische Befreiungsbewegungen. Allein in diesem Jahr erkämpften 17 Staaten ihre Unabhängigkeit. Die Welt befand sich im Umbruch, der afrikanische Kontinent stand im Zentrum dieses Umbruchs. Die sich verändernden globale Verhältnisse schlugen sich auch in der politischen Ausrichtung der SED wieder. So hieß es in der Verfassung der DDR von 1974: »Die Deutsche Demokratische Republik unterstützt die Staaten und Völker, die gegen den Imperialismus und sein Kolonialregime, für nationale Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen, in ihrem Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt.« Der proklamierte Internationalismus wurde seitens der DDR-Funktionär*innen durchaus auch praktisch. Beispielsweise durch die Ausbildung von ghanaischen Ingenieur*innen, die Ausbildung von Kämpfer*innen und Spion*innen für den Kampf gegen das südafrikanische Apartheidregime oder die Ware-Gegen-Ware-Handelsbeziehungen mit mehreren afrikanischen Ländern.
Wenn du Freund*innen finden wolltest, dann musstest du was Illegales machen.
Paulino Miguel
Das Interesse der DDR am portugiesisch kolonisierten Afrika erwachte insbesondere Anfang der 1970er Jahre mit der sich andeutenden Niederlage der europäischen Diktatur. Diese leistete unter António de Oliveira Salazar und Marcelo Caetano am längsten erbitterten Widerstand gegen die politische Dekolonisierung. Doch Mitte der 1970er Jahre erkämpften Angola, Mosambik, Guinea Bissau, Cape Verde sowie São Tomé und Príncipe ihre Unabhängigkeit. Nur fünf Jahre später besuchte der SED Generalsekretär Erich Honecker selbst mit einer Delegation die mosambikanische Frente de Libertação de Moçambique (Mosambikanische Befreiungsfront) FRELIMO. Am 24. Februar 1979 unterschrieb er gemeinsam mit ihrem Anführer Samora Moisés Machel ein Abkommen »über die zeitweilige Beschäftigung mosambikanischer Werktätiger in sozialistischen Betrieben in der DDR«. (2) In diesem Zeitraum entstand auch die Idee eines gemeinsamen Ausbildungsprojektes in Form der »Schule der Freundschaft«. Die Erziehungsministerin Graça Machel setzte auf professionelle Erziehung im westeuropäischen, sozialistischen Staat, um die Industrialisierung des Landes und die Ausbildung von Fachkräften voranzutreiben.
Am 16. September 1982 wurde die Schule der Freundschaft eröffnet und der Unterricht begann mit 899 Schüler*innen. Doch während SED und FRELIMO das ambitionierte Bildungsprojekt umsetzten, verfestigten sich in der Staßfurter Bevölkerung Gerüchte. In einem Bericht der Dienstbesprechung eines Ministers vom 15. September 1981 wurden einige Befürchtungen der Bevölkerung hervorgehoben. Sie sorgte sich darum, dass sich »die Versorgung der Bevölkerung (…) und die (…) Berufsausbildungsmöglichkeiten für Jugendliche der DDR verschlechtern könnten«. (3)
Zwischen Ausflügen und Ausbrüchen
Der Alltag der Schüler*innen war streng durchgetaktet. Kontakt mit der DDR-Bevölkerung sollte lediglich im offiziellen Rahmen auf »außerunterrichtlichen Veranstaltungen« stattfinden. Allein im Unterrichtsjahr 1986/87 waren es 34. Gefeiert wurden Festtage wie Weihnachten oder der »Jahrestag des Sieges über die portugiesischen Kolonialisten«. Eingeführt wurden die Schüler*innen auch in sorbische Osterbräuche oder sie nahmen an Vorträgen zur »Empfängnisverhütung« teil.
Paulino Miguel, ein ehemaliger Schüler der SdF, erinnert sich: »Wenn du Spaß haben und Freund*innen finden wolltest, dann musstest du was Illegales machen. Unser Alltag war komplett durchdekliniert. Wir hatten zum Beispiel eine Ausgangskarte. Die mussten wir mitnehmen, wenn wir gegangen sind, und aufhängen, wenn wir gekommen sind. Wir sind rein in die Schule, ganz pünktlich, haben die Karte aufgehängt, und dann sind wir über den Zaun wieder in die Stadt. Draußen gab es auch Mädels oder Jungs, die warteten schon mit Bier am Zaun. Da haben wir dann unsere Freunde getroffen, die mit uns ins Fußballstadion und in die Kneipe gegangen sind. Oder Liebschaften gefunden. Das Schönste dabei war: Keiner hat den anderen verraten.«
Miguel betont immer wieder: »Wir Kinder aus Mosambik haben den Zaun zwischen uns und den anderen nicht gebaut, die Staßfurter Bevölkerung auch nicht. Das war die SED-Regierung mit ihrem ›Bruderstaat‹. Sie betrogen uns um unsere Kindheit und unsere Beziehungen zu den Staßfurter*innen.«
Doch mit der Zeit häuften sich auch die Angriffe auf die Jugendlichen. Auch die physischen Angriffe wurden von Seiten der Schule schriftlich festgehalten. So versuchten laut der Akten am 13. Mai 1987 vier angetrunkene DDR-Bürger in das Landwohnheim einzudringen. Sie wollten »tätliche Auseinandersetzungen mit den moc. Jugendlichen beginnen«. Der Heimleiter konnte dies verhindern.
»Lange Zeit wurde geleugnet, dass es überhaupt Alltagsrassismus gab. Klar, wir haben uns auch gegen verbale Attacken gewehrt und ›du Hitler‹ oder ›du Rassist‹ oder sowas gerufen. Wir haben auch miteinander darüber gesprochen, aber wir neigten damals dazu, den Rassismus durch Witze zu übertönen. Aber so richtig Zeit, sich damit auseinanderzusetzen und zu trauern, gab es gar nicht. Hinterher war man oft allein«, so Miguel.
Angeordnetes Schweigen
Ihren traurigen Höhepunkt fanden die Angriffe in der Nacht vom 19. auf den 20. September 1987 zwischen 23:30 und 23:45 Uhr. Nachdem der mosambikanische Schüler Carlos Conceição eine Disko verließ, wurde er niedergeschlagen und von den Angreifern über eine Brücke ins Wasser geworfen. Seine Mitschüler*innen versuchten ihm zur Hilfe zu eilen, konnten ihn aber nicht mehr finden. Am nächsten Morgen wurde er tot geborgen. Am darauf folgenden Tag wurden die Schüler*innen der SdF über den Vorfall informiert. Der Bericht über die Veranstaltung zu dem »Vorkommnis in Staßfurt« schockiert in seiner Rationalität. Am Ende heißt es kurz: »An der SdF herrscht Ruhe und Ordnung.«
Die Täter wurden gefasst und einer von ihnen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach zwei Jahren wurde er wieder entlassen. In den Akten der Behörden wird Carlos Conceição als »Ausreisender« geführt. Der Termin seiner »Ausreise« wurde auf den 20. September 1987, den Tag seiner Ermordung, festgelegt. In der »Bilanz über die Jugendlichen der SdF in der Berufsausbildung« der Abteilung Ausländerausbildung ist sein Name schlicht und ordentlich mit rotem Stift durchgestrichen.
»Wir waren sehr wütend. Es war dann für jeden klar: Das, was wir erlebt haben, war wirklich Rassismus. Hass. Wir haben versucht, es den Verantwortlichen zu erklären, aber sie haben es nicht ernst genommen. Wir wussten, dass es immer wieder passieren kann«, sagt Miguel.
Neben Carlos Conceição starben noch mindestens neun weitere Menschen ab den 1970er Jahren in der DDR im Zuge rassistischer Angriffe, viele mehr wurde im Zuge von Hetzjagden und Pogromen verletzt. Doch rassistische Übergriffe wurden meist nicht als solche geführt. Auch den Angehörigen der Opfer wurde der Tod aufgrund rassistischer Übergriffe meist verschwiegen und der Tod ihrer Angehörigen beispielsweise als Folge eines Arbeitsunfalls verkauft. Die Existenz von Rassismus in der DDR, der als alleiniges Problem der kapitalistischen Produktionsweise imperialer Staaten galt, hätte den SED-geführten Staat selbst als scheinbar Realität gewordene Überwindung der alten Ordnung in Frage gestellt.
Auch die Schüler*innen der SdF wurden angewiesen, über den Mord an Carlos Conceição zu schweigen. (4) Doch dieses Schweigen wollen sie nun brechen. Vom 16. bis zum 18. September 2022 versammeln sich einige der in Deutschland gebliebenen ehemaligen Schüler*innen der SdF wieder in Staßfurt, um gemeinsam über ihre Zeit in der DDR zu sprechen. Mit der Veranstaltung »Umstrittene Erinnerungen«, wollen sie 40 Jahre nach der Eröffnung der SdF von ihren Erfahrungen berichten. Ihr Ziel ist es, die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zu gewinnen.
Auch Paulino Miguel ist dabei. Ihm gehe es darum, sich nicht mehr hin-und herschieben zu lassen, sagt er, und darum, die eigene Geschichte zu schreiben: »Ich bin kein Projekt. Oft interviewen uns Leute – und dann? Was passiert dann? Danach sind wir immer noch in der gleichen Situation wie vorher. Manche von uns haben ihre Familien nie wiedergefunden, viele sind traumatisiert oder vereinsamt. Wir haben nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart. Einige leben in prekären Situationen, andere haben Karrieren gemacht. Ich möchte, dass sich Menschen darüber Gedanken machen, was unsere Vergangenheit war, wer wir heute sind und wie unsere Zukunft aussehen könnte. Mein Ziel ist es, dieses Jubiläum groß zu machen. Es ist wichtig, dass wir uns feiern. Niemand hat sich aufgegeben, wir können noch lachen, wir haben Familien, wir sind Menschen. Keine Projekte. Die interessanten Fragen für mich sind: Wie können wir unsere Geschichte wieder aufnehmen? Wie können wir unsere Geschichte schreiben und unseren Kindern weitergeben?«
Eine längere Version des Artikels erscheint (gemeinsam mit Laura Frey) als Teil eines Sammelbands im Frühjahr 2023 bei edition assemblage.
Anmerkungen:
1) Die zitierten Passagen der DDR sind vom Staatssekretariat für Berufsbildung, Bundesarchiv Berlin, DQ/4/1016 bis DQ/4/1019.
2) Amadeu Antonio Stiftung: Angolanische Vertragsarbeiter*innen in der DDR, Berlin 2022.
3) Lutz Reuter & Anette Scheunpflug: Die Schule der Freundschaft – Eine Fallstudie zur Bildungszusammenarbeit zwischen der DDR und Mosambik, Münster 2006.
4) Initiative 12. August: Rassistisch motivierte Todesfälle in der DDR, o.O. 2022.