analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 685 | Kultur

Man soll nicht schlecht über Tote reden

Aber ich frage mich wirklich: Warum lieben so viele deutsche Linke die Queen?

Von Jacinta Nandi

Queen Elisabeth, frontal aufgenommen, mit Krone, einer Schärpe und diversen Orden
Ist es respektlos, über eine Frau zu lästern, die gerade gestorben ist? Naja ... nein. Foto: Julian Calder for Governor-General of New Zealand / Wikimedia Commons, CC BY 4.0

Es ist Donnerstagabend, wir essen gerade. Ich gebe meinem kleinen Sohn mein Handy, so dass er Videospiele damit spielen und ich in Ruhe fertig essen kann. Er sagt: »Jemand ruft dich an!« Ich nehme ihm das Handy weg, mein ältester Sohn, der gerade nach Mannheim gezogen ist, um zu studieren, ist am Apparat.

»DIE KÖNIGIN IST TOT!«, schreit er. »DU HAST ES VON MIR ERFAHREN!«

»Oh mein Gott!«, sage ich. »Ist sie wirklich tot? Ist sie endlich tot? Ist sie tatsächlich gestorben?«

»Ich war es, der dir das gesagt hat!«, sagt mein Ältester.

»Ich will Videospiele spielen«, sagt der Kleine.

»Leo, die Königin ist tot. Sie war so alt. Weißt du, wie alt sie war? Sie war schon Königin, als deine Oma geboren wurde.«

»Die tote Oma oder die lebendige?«

»Beide«, sage ich. »Die tote Oma, die lebendige Oma, beide haben nur sie als Königin gekannt.« Mein kleinster Sohn, der seine Großeltern wegen der Pandemie sehr lange nicht gesehen hat, hat die Angewohnheit, meine Mama »die tote Oma« zu nennen, ihre Ex-Partnerin, meine Tante, »die lebendige Oma,« und meine Stiefmama, die Frau meines Vaters, »die andere Oma«. Plötzlich erinnere ich mich, dass meine Stiefmutter schon 1944 geboren ist. »Als die andere Oma geboren wurde, war die Königin nur eine Prinzessin«, sage ich.

»Videospiele!«, sagt er.

»Jetzt ist nicht die Zeit, um zu fordern, dass die Monarchie abgeschafft wird«, sage ich meinem Großen am Telefon.

»Nee«, sagt er. »Voll unangebracht gerade.«

»Bisschen respektlos«, sage ich.

»Ja«, sagt er. »Man soll nicht schlecht über die Toten reden.«

»Wir warten den Trauermonat ab, und dann erklären wir allen, dass die Monarchie mit der Königin sterben soll.«

»Guter Plan, Mama«, sagt mein Großer. »Videospiele!«, sagt der Kleine. Ich gebe ihm mein Handy, setze mich an den Esstisch, und denke darüber nach. Die Queen ist tot. Ich kann es kaum glauben. Ein bisschen berührt bin ich schon.

Respekt? Nein, es ist Ehrfurcht

Dass ich mich nicht an mein Vorhaben halten kann, daran ist Deutschland und besonders die deutsche weiße Linke Schuld.

»Was für eine tolle Frau!«, schreibt eine weiße deutsche Sozialistin am selben Abend auf Facebook. »Eine tolle Frau, eine starke Frau, eine ungewöhnliche Person.«

»Eine Oma ist gestorben«, schreibt ein weißer deutscher Sozialist. »Aber sie war nicht nur eine Mutter, eine Oma, eine Uroma für ihre Kinder, Enkel, Urenkel – sie war irgendwie eine Oma für unsere ganze Erde.«

»Ich bewundere diese Frau sehr«, schreibt eine andere weiße deutsche Sozialistin auf Facebook. Die Queen war ungefähr seit drei Stunden, so weit ich wusste, tot. »Sie hat ihr ganzes Leben lang für ihr Land gearbeitet. Und lasst uns nicht vergessen, dass sie gegen die Nazis gekämpft hat im Zweiten Weltkrieg. Sie ist also mitverantwortlich für den Sieg gegen Hitler. Wer jetzt über diese besonders starke Frau lästert, möchte eigentlich, dass die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten. Man sollte ein bisschen Respekt zeigen.«

Ich rufe meinen Sohn an.

»Die Deutschen heulen voll rum im Facebook«, sage ich ihm. »Deutsche, die so alt sind wie ich. Auch Linke. Es ist echt ein bisschen … zum Kotzen.«

»Ich bin auf einer Kneipentour mit anderen Studierenden«, flüstert er ins Telefon. »Sie heulen hier wirklich. Einer heult. Leute, so jung wie ich.«

»Es ist zum Kotzen!«, sage ich.

»Warum mögen sie die Queen so?«, fragt er mich.

»Die mögen sie nicht«, sage ich. »Sie lieben sie.«

Ist es respektlos, über eine Frau zu lästern, die gerade gestorben ist? Denn das ist das, was die Queen ist: ein normaler Mensch, wie alle anderen, ein sterbliches Wesen, das gerade gestorben ist. Sie war nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch eine private Person. Und diese Person ist gestorben. Ihre Familie trauert. Sie trauern, wahrscheinlich, tatsächlich.

Man soll, besonders als Linke, alle Menschen mit Respekt behandeln. Und auch Menschen, die gerade trauern, sollen respektiert werden. Witze über eine tote Oma, über die Queen in einer Kiste, sind respektlos, pietätlos, wahrscheinlich empathielos. Denn die Queen war auch ein Mensch.

Dieses Wort »Respekt« ist jedoch ein bisschen trügerisch, wenn es benutzt wird, um unser Verhalten gegenüber Queen Elisabeth II. zu beschreiben. Denn wenn man sagt, man müsse die Queen respektieren, redet man nicht wirklich von Respekt, sondern von Ehrfurcht. Die tote Queen, sagt man zurzeit ungefähr zwanzigmal pro Minute, hat ihr Leben lang ihre Pflicht getan, ihrem Land gedient. Sie hat ihr ganzes Leben gearbeitet. Diese Arbeit sollte man mit Respekt würdigen, indem man jetzt, aus Respekt für die tote Queen, das System Monarchie nicht in Frage stellt. Jetzt ist nicht die Zeit zum Lästern. Jetzt ist die Zeit zum Schweigen, zum Respekt zeigen. Zum Trauern.

Aber lasst uns darüber sprechen, was genau diese Arbeit, diese Pflichten waren, die die Queen hatte. Abgesehen von ein paar Wochen, die sie während des Krieges mit einer Ausbildung als Automechanikerin verbrachte, hat die Frau nie in Lohnarbeit gestanden. Ihre Pflichten waren es, Sachen zu machen, die viele Menschen in ihrer Freizeit machen würden – Tee zu genießen, an Picknicks teilzunehmen, Museen oder Schulen zu besuchen. Diese Arbeit, die sie geleistet hat, kommt mir nicht besonders anstrengend oder anspruchsvoll vor. Aber das war auch nicht ihre eigentliche Arbeit.

Die eigentliche Arbeit der Queen war: zu schweigen. Nie beschweren, nie erklären, never complain, never explain. Und sie hat ihr Leben lang geschwiegen.

Die eigentliche Arbeit der Queen war: zu schweigen. Nie beschweren, nie erklären, never complain, never explain. Und sie hat ihr Leben lang geschwiegen. Sie hat über Armut in ihrem Land und Morde in ihren Kolonien geschwiegen. Sie hat von Rassismus geschwiegen. Sie hat ihre behinderten Cousinen verschwiegen, die für tot erklärt wurden, weil es so peinlich war, dass die Queen mit Lernbehinderten verwandt ist. Sie schwieg über Nordirland, sie schwieg über Prince Andrew. Sie musste schweigen. Das war ihre Pflicht. Sie hat es gut hingekriegt.

Queen Elisabeth II. war eine Frau, die glaubte, ihr Blut sei von Gott gesegnet worden. Dass Gott ihre Familie ausgesucht habe, ihre Blutlinie. Sie glaubte, dass sie genetisch dazu bestimmt sei, in Reichtum und Prunk zu leben. Während andere Menschen, ihre Untertanen, zu einem Leben in Armut und Elend bestimmt seien.

Die Königin durfte sich nie fragen, warum sie etwas tat. Es war ihr Blut, das sie dazu bestimmt hatte. Sie durfte sich in ihrer Lebenszeit nie beschweren, nie etwas erklären. Sie hat niemals erklärt, warum ihr der Meereboden gehörte. Warum es einen 400-Millionen-Pfund teuren, gestohlenen Juwelen in ihrer Krone gab. Warum so viele unschuldige Menschen in Kenia sterben mussten, oder in Nordirland, in ihrem Namen. Sie hat nie erklärt, sie hat sich selbst nie gefragt, warum das Königshaus von so vielen Gesetzen ausgenommen werden musste – von Antidiskriminierungs- und Arbeitsschutzgesetzen zum Beispiel, oder während des ersten Jahres der Pandemie vom Räumungsstopp für Hausbesitzer*innen.

Geboren für Reichtum oder Armut

Großbritannien ist ein Land, das, ähnlich wie Deutschland, seine Armen hasst. Wenn Geflüchtete eine Rückzahlung vom Sozialamt kriegen und sich damit einen Fernsehapparat kaufen, kommen sie, wie Verbrecher*innen, in die Boulevardzeitung. Wenn die Gefangenen am ersten Weihnachtstag ein paar Scheiben Truthahn bekommen, berichtet die Presse darüber, dass sie ein »Festessen« bekommen hätten. Wenn ein behinderter Opa, der Sozialhilfe bekommt, heimlich Schwarzarbeit macht, indem er Kinder über die Straße zur Schule bringt, kommt es in den Frühstücksnachrichten, als ob es ein großer Skandal wäre. »That’s your money«, betonen die Nachrichtensprecher*innen ernst, »das ist IHR Geld.«

Im Vergleich zu dem Hass auf die Arbeiter*innenklasse, der in den Nachrichten und Zeitungen immer geschürt wird, wurde die Queen mit ihren geklauten Juwelen, ihren 30 Schlössern und Palästen, ihr Leben lang als bescheiden und sparsam dargestellt. Jedes Jahr steht in der Presse, dass die Queen DIESES Jahr ein bescheidenes Weihnachtsessen genießen würde. Es wird bescheidener und bescheidener, jedes Jahr bescheidener, jedes Jahr sagt uns die Presse, DIESES Jahr habe die Queen aus Solidarität mit den Armen, den verzweifelten Familien im Land entschieden, ein bescheidenes Festessen zu genießen. Manchmal reden sie so, als ob die Frau vorhabe, in den Park zu gehen, Kastanien aufzusammeln und eine Suppe daraus zu kochen. Die Queen weiß, dass das Land leidet, und dieses Jahr ist ihr Gürtel richtig eng gebunden. Bescheidenheit im Palast versus Festessen im Knast.

Weiße deutsche Linke haben ein Problem mit Rassismus. Wie die Königin wollen sie nicht über Islamfeindlichkeit oder Kolonialismus sprechen. Ich finde das schade, denn ich finde einen Sozialismus, der nur weißen Menschen helfen möchte, gar nicht so sozialistisch. Aber sogar, wenn man nicht über Rassismus nachdenken will, ist die Reaktion vieler deutscher Linker auf den Tod der Queen beschämend. Um ehrlich zu sein: Es ist respektlos gegenüber den Armen in Großbritannien. Es ist, im wahrsten Sinne, pietätlos.

Die Queen dachte, sie dürfte nichts entscheiden. Ich respektiere sie nicht sehr, aber ich respektiere sie ein bisschen dafür, dass sie so stark an diesen Irrtum glaubte, dass sie ihr Leben dafür ausgeopfert hat. Sie durfte nichts fragen, sich nie beschweren, nie erklären. Es ist nicht respektvoll, so zu tun, als ob auch wir diese Fragen nicht stellen können. Wir müssen die Fragen stellen, die sie ihr ganzes Leben lang nie aussprechen durfte. Wie kann es okay sein, dass manche Leute, wegen ihres Blutes, wegen ihrer Blutlinie, zum Reichtum geboren sind und andere zur Armut?

Sie durfte diese Frage in ihrem Leben nicht stellen. Und es ist genau die Frage, die wir jetzt, nach ihrem Tod, beantworten müssen.

Jacinta Nandi

ist Autorin und lebt in Berlin, außerhalb des S-Bahn-Rings. Ihr letztes Buch heißt »50 Ways to Leave Your Ehemann« – ein Manifest, das alle Frauen in Deutschland ermutigen soll, ihre faulen Ehemänner zu verlassen (mehr oder weniger).

Unterstütz unsere Arbeit mit einem Abo

Yes, du hast bis zum Ende gelesen! Wenn dir das öfter passiert, dann ist vielleicht ein Abo was für dich? Wir finanzieren unsere Arbeit nahezu komplett durch Abos – so stellen wir sicher, dass wir unabhängig bleiben. Mit einem ak-Jahresabo (ab 58 Euro, Sozialpreis 38 Euro) liest du jeden Monat auf 36 Seiten das wichtigste aus linker Debatte und Praxis weltweit. Probeabo gibt es natürlich auch.