Alltag ohne Cops
Daniel Loick und Vanessa E. Thompson haben ein Buch für die Abschaffung der Polizei herausgegeben
Von Amina Aziz
Als George Floyd vor zwei Jahren in Minneapolis durch die Hände eines weißen Polizisten starb, wurde auch in Deutschland die Black Lives Matter Bewegung sehr aktiv. Eine Hauptforderung der Bewegung wurde hierzulande zum Thema: die Abschaffung der Polizei. Die Debatte in den USA war jedoch viel grundsätzlicher und radikaler. In Minneapolis gab es in Folge der tödlichen Polizeigewalt eine Abstimmung darüber, ob die Polizeibehörde abgeschafft werden solle, um stattdessen eine Behörde für öffentliche Sicherheit zu schaffen. Obwohl keine Mehrheit dafür stimmte, gab es eine breite gesellschaftliche Debatte über die Polizei und ihre Behandlung marginalisierter Bevölkerungsgruppen, Bestrafung und die Durchsetzung von Sicherheit.
Als Anfang August dieses Jahres in Deutschland vier Menschen binnen einer Woche durch Polizeischüsse ums Leben kamen, blieben nicht nur bundesweite Proteste aus, auch war die Forderung nach Abschaffung der Polizei kaum zu hören. Dabei ist die aktive Rolle von Polizei und anderen Sicherheitsbehörden wie dem Verfassungsschutz bei rassistischen Morden in den vergangenen Jahren immer wieder Thema einer breiten Öffentlichkeit gewesen. Abolitionistische Ideen (von lat. abolitio = abschaffen) sind hierzulande aber kaum anschlussfähig und werden durch eine konservatives bis rechtes Meinungsklima selten gehört. Es gelingt nicht, Alternativen zum staatlichen Gewaltmonopol in die Diskussion zu bringen. Viele können sich Alltagssituationen wie einen Verkehrsunfall oder häusliche Gewalt nicht ohne Klärung durch die Polizei vorstellen.
Debatte auf Deutsch
Erstmals sind mit dem Sammelband »Abolitionismus« deutschsprachige Texte einem größeren Publikum aus dieser Debatte zugänglich. Der von der Rassismus- und Migrationsforscherin Vanessa E. Thompson und dem Philosophen und Sozialwissenschaftler Daniel Loick herausgegebene Band liefert mit 20 Beiträgen teils bekannter Intellektueller und Aktivist*innen wie Ruth Wilson Gilmore, Angela Davis und Mumia Abu Jamal eine runde und vertiefende Grundlage zur Auseinandersetzung mit dem Thema. Sie machen deutlich, dass es beim Abolitionismus nicht nur um die Polizei und andere Formen staatlicher Gewalt geht, sondern viel mehr um das Hinterfragen von Herrschaft.
Abolitionismus hat seinen Ursprung in den Massenaufständen, zum Beispiel in Form von Streiks, gegen Versklavung und Plantagenkapitalismus.
Noch im Vorwort räumen sie mit der falschen Annahme auf, Abolitionismus hätte seine Ursprünge als moralische, weiße aufklärerische Bewegung. Stattdessen rücken sie die Geschichtsschreibung der Black Radical Tradition in den Fokus, die aufzeigt, dass Abolitionismus seinen Ursprung in den Massenaufständen, zum Beispiel in Form von Streiks, gegen Versklavung und Plantagenkapitalismus hat. Unter Bezug auf radikale Denker wie W.E.B Du Bois und Stuart Hall grenzen sich die Herausgeber*innen vom Linksliberalismus ab und begründen, weshalb Reformen innerhalb eines repressiven, ausbeutenden Systems dieses weiter aufrechterhalten. Gleichzeitig verwehren sie sich gegen eine Hackordnung der Konzepte wie Abolitionismus in die Tat umgesetzt wird, etwa die vorherrschende Mode intersektionelle Ansätze als grundsätzlich bürgerlich und systemintegrativ abzutun.
Die für den Band gesammelten und teils ins Deutsche übersetzten Texte der letzten Jahre und Jahrzehnte sind in die fünf Abschnitte »Abolitionistische Demokratie«, »Strafen und Gefängnis«, »Polizei«, »(Queer-) Feministische Perspektiven« und »Abolitionistische Horizonte« gegliedert, die aufeinander aufbauen, aber auch für sich gelesen werden können, wobei ältere Texte, wie ein Gespräch mit Michel Foucault, neuere mit aktuellen Bezügen ergänzen.
In den ausgewählten Beiträgen entwickeln sich die eingangs von den Herausgeber*innen angerissenen theoretischen Debatten um die Abschaffung der Verhältnisse, die Versklavung und Ausbeutung ermöglichen. Die Philosophin Joy James kritisiert etwa Foucaults »Überwachen und Strafen«, da er die spezifische Gewalt gegenüber Minderheiten und die rassistische Dimension von Gefängnissen und der Todesstrafe zur Durchsetzung staatlicher Interessen ignoriert habe. Der Sozialwissenschaftler Nikhil Pal Singh argumentiert in »Das Weißsein der Polizei«, dass die moderne Ordnungsmacht im Zuge der Sklaverei entstanden sei. Dadurch sei bei der Verwaltung und Aufrechterhaltung ungleicher, rassistischer Eigentumsverhältnisse das Gegenüber der Polizei als Schwarz definiert wurde. Wo Schwarzsein als Bedrohung definiert werde, sei Gewalt dagegen legitim, das halte bis heute an.
Empfehlungen für die Praxis
Gleichzeitig ist Abolitionismus ein Gegenkonzept zum Status Quo durch die Etablierung alternativer Strukturen und Verhältnisse sowie neuer sozialer Beziehungen. Die Herausgeber*innen zeigen, dass das Konzept nicht nur eine Theorie, sondern eine Bewegung ist, die sich sowohl historisch als auch im Hier und Heute ausprobiert. Sie nennen zum Beispiel die Quilombo-Siedlungen in Brasilien, in denen geflohene versklavte und freigeborene afrikanische Menschen um 1600 eine sich selbst versorgende Republik gegründet hatten, die stetig wuchs und etwa 25.000 Bewohner*innen beherbergte. Aber auch konkrete Gegenmodelle zum Verfolgen und Strafen finden in dem Band Raum. Transformative Gerechtigkeit etwa sucht nach kollektiven Lösungen anstatt staatliche Bestrafung als Lösung von Konflikten zu nutzen.
Abolitionismus scheint nur der Anfang einer kreativen, antikapitalistischen Gegengesellschaft zu sein. So hat die Forderung, kein Geld in die Polizei zu stecken, Potenzial, um so die »materielle Infrastruktur unserer Städte«, wie Amna A. Akbar sagt, zu verändern. Dabei steht praktisch die lokale Gemeinschaft und der konkrete Fall im Vordergrund, aus dem heraus abolitionistische Praxen wachsen, manchmal auch ohne sich Abolitionismus überhaupt auf die Fahne geschrieben zu haben. In Maßnahmen und Projekten zum Beispiel gegen den Missbrauch von Kindern, sexualisierte Übergriffe oder problematischen Drogenkonsum werden Methoden gefunden, wie die Gemeinschaft Betroffene unterstützen, aber auch wenn nötig, der Staat zum Beispiel durch Finanzierung genutzt werden kann. Insbesondere wird bei den Perspektiven auch auf geschlechterspezifische Gewalt auch gegen Mehrfachmarginalisierte wie queere Menschen oder Frauen ohne Aufenthaltsstatus eingegangen, wobei einige Autor*innen radikale Forderungen nach Abschaffung des Status Quo aufstellen.
Damit ist »Abolitionismus« ein zeitgemäßer Sammelband, der die Gewalt und Diskriminierung unserer Zeit aufgreift und mögliche Auswege anbietet. Es ist zu hoffen, dass diese Stichworte einer radikalen Debatte auch in die Universitäten und politischen Treffen Einzug finden.
Es bleibt die Aufgabe geneigter Leser*innen, die größtenteils akademischen Texte in gesellschaftlich anschlussfähigere Inhalte zu wandeln. Dadurch würden Menschen, die möglicherweise nicht so viel Zeit investieren können, von abolitionistische Perspektiven erreicht. Eine größere abolitionistische Bewegung hierzulande könnte realistische und umsetzbare Alternativen zu Herrschaft und staatlicher Gewalt anbieten.
Daniel Loick, Vanessa E. Thompson (Hg.): Abolitionismus. Ein Reader. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 619 Seiten, 28 EUR.