Für einen solidarischen Antiimperialismus
Ukrainer*innen vollstrecken keine Nato-Interessen, sondern kämpfen für Selbstbestimmung – ihre Kapitulation zu fordern ist grotesk
Von Ilya Budraitskis, Oksana Dutchak, Harald Etzbach, Bernd Gehrke, Eva Gelinsky, Renate Hürtgen, Zbigniew Marcin Kowalewski, Natalia Lomonosova, Hanna Perekhoda, Denys Pilash, Zakhar Popovych, Philipp Schmid, Przemysław Wielgosz, Christoph Wälz und Christian Zeller
Die Debatte um eine Positionierung zum Ukraine-Krieg innerhalb der deutschen Linken ist – nach anfänglicher Überraschung und Orientierungslosigkeit – mittlerweile festgefahren. Es wurden Analysen verfasst und Positionen eingenommen, dabei haben sich mehr als zwei Lager herausgebildet. In ak haben wir uns in den ersten Monaten nach Beginn dieses Krieges vor allem bemüht, linke Stimmen aus Russland und der Ukraine zu dokumentieren. Die Kontroversen in der deutschen Linken haben wir dagegen bislang kaum abgebildet – und es gibt Positionen, denen wir in ak auch künftig keinen Raum bieten werden. Eine Diskussion aber scheint uns notwendig. Dabei wäre unser Anspruch momentan nicht, abgeschlossene Positionen zu fixieren, sondern zunächst Forderungen und Fragen zu Ende zu denken und auch Schwächen transparent zu machen. In ak 684 veröffentlichen wir zwei Beiträge, die sich nicht direkt aufeinander beziehen (ein Text kritisiert die bisherige Berichterstattung in ak, der andere – dieser – einen in der jungen Welt erschienenen Artikel), aber dennoch gegeneinander gelesen werden können. Ein Beitrag aus der ak-Redaktion ist in Arbeit und soll in der nächsten Ausgabe erscheinen.
Am 9. Juni veröffentlichten Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler und Winfried Wolf in der Jungen Welt eine ausführliche Stellungnahme, in der sie sich für einen »antimilitaristischen Defätismus« und für die Aufgabe des militärischen Widerstandes der Ukraine gegen den russischen Besatzungskrieg aussprechen. Der Text steht exemplarisch für eine in weiten Teilen der alten Friedensbewegung und der nur zum Schein antiimperialistischen Linken verbreiteten Haltung, die sich die Realität des Krieges zurechtbiegt und letztlich im Sinne des Putin-Regimes argumentiert. Damit zielt sie meilenweit an einer solidarischen antiimperialistischen Perspektive vorbei. Wir nehmen den Artikel daher zum Anlass für eine grundsätzliche Entgegnung über eine notwendige antiimperialistische und auf globale Solidarität verpflichtete ökosozialistische Perspektive.
Selbstverständlich verurteilen die Autoren am Anfang des Textes die Invasion in der Ukraine »ohne jede Einschränkung oder Relativierung«. Doch anschließend tun sie genau das: Sie relativieren die Aggression, indem sie die Verantwortung für den Krieg umdrehen: Nicht Putin, der wiederholt jeden Waffenstillstand jenseits einer Kapitulation der Ukraine abgelehnt hat, sei für den Krieg verantwortlich, sondern das »Regime« in Kyiv, das noch eine Woche vor dem Beginn des russischen Angriffs Verhandlungen über eine Neutralität angeboten hatte.
Hinter dieser Umkehr der Verantwortung steht eine grundsätzliche Fehleinschätzung des Putin-Regimes, dessen Charakter die Autoren nicht ansatzweise näher zu bestimmen versuchen. Im Gegenteil, sie setzen die protofaschistische Putin-Diktatur mit der korrupten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in der Ukraine gleich. Für die Autoren sind es ganz einfach »zwei bürgerliche Staaten, beide durch ein Oligarchensystem bestimmt«.
Der Charakter des Krieges
Der Kreml will jede eigenständige Entwicklung der Ukraine verhindern. Die Putin-Führung betrachtet die Ukraine ebenso wie Belarus als Teil von Russland. Sie hat nicht auf den einen oder anderen Schachzug der Nato reagiert, sie verfolgt mit ihrem Krieg vielmehr grundsätzliche Ziele, die sie mit ihrer großrussischen Ideologie begründet: die Zerstörung der Ukraine als unabhängiges Land und die Eingliederung als »Kleinrussland«.
Der sowohl für die Regierungen der USA und Europas als auch für das Putin-Regime überraschend starke Widerstand der Ukraine gegen die russischen Invasionstruppen verhinderte indes eine rasche Besatzung des Landes und die Einsetzung einer prorussischen Marionettenregierung. Erst dieser entschlossene Widerstand gegen die Besatzungstruppen stellte die Nato-Länder vor die Frage umfassender Waffenlieferungen an die Ukraine. Unmittelbar nach Kriegsbeginn rieten die Regierungen der USA und Großbritanniens dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj, das Land zu verlassen, und boten ihm Schutz an. Wie die Führung im Kreml erwarteten sie eine rasche Niederlage.
Mit dem zunächst erfolgreichen Widerstand der Ukraine gegen die russischen Besatzungstruppen erkannten die westlichen imperialistischen Mächte, allen voran die USA und Großbritannien, dann die Chance, mit einer Stärkung der militärischen Möglichkeiten der Ukraine die geopolitische Position Russlands substanziell zu schwächen. Die Nato-Führung scheint allerdings weder an einem langen Krieg noch an seiner Eskalation interessiert zu sein. Nato-Generalsekretär Stoltenberg erklärte am 12. Juni bei einem Treffen in Finnland den Abwägungsprozess: Irgendwann werde die Ukraine bekannt geben müssen, in welche territorialen Verluste sie einwillige und auf welche demokratischen Rechte die Bevölkerung zu verzichten bereit sei.
Zugleich ist offensichtlich, dass europäische Länder wie Deutschland und Frankreich, aber auch Österreich und die Schweiz, die Ukraine nur begrenzt unterstützen. Sie streben eine Verständigung mit der russischen Oligarchie an. Weder liefern sie wirklich die erforderlichen Waffen, noch entlasten sie die ausgeblutete ukrainische Gesellschaft mit einem Erlass der Schulden. Wesentliche Kapitalfraktionen in Europa, vor allem jene, die mit den fossilen Industrien (Deutschland, Österreich) und mit dem internationalen Rohstoffhandel (Schweiz) verbunden sind, haben jahrelang höchst profitable Geschäfte mit den Putin-Oligarchen betrieben. Sie würden gerne rasch zur Normalität zurückkehren und diese Geschäfte wieder aufnehmen.
Die Ukraine ist kein imperialistischer Staat, sondern ein junges Land, dessen Unabhängigkeit und eigene Nationenbildung Russland nicht akzeptiert.
Die Regierungen Europas und der USA sind für die Zuspitzung der geopolitischen Spannungen mitverantwortlich, allerdings nicht wegen der angeblichen Nato-Einkreisung Russlands, die die russische Propaganda an die Wand malte und die viele Linke in Europa übernommen haben. Vergessen wird dabei, dass die Ausdehnung der Nato mit dem Beitritt von Nachbarländern Russlands bis 2004 im Wesentlichen abgeschlossen war. Und vor allem, dass zahlreiche Länder Osteuropas eine Nato-Mitgliedschaft vor allem aus Angst vor einem erstarkenden russischen Revanchismus anstrebten.
Die eigentliche Mitverantwortung der Nato-Staaten für die Verschärfung der Widersprüche liegt an ihrem ökonomischen Interesse an den ehemaligen Sowjetrepubliken. Das Kapital in den imperialistischen Ländern Europas und Nordamerikas suchte nicht nur neue Nato-Mitglieder, sondern wollte primär weitere Märkte erschließen und günstige Rohstoffe beziehen. Dafür brauchte es Regierungen, die den gesellschaftlichen Transformationsprozess ordentlich und notfalls auch mit Gewalt organisieren konnten.
Was wäre die Alternative?
Die Autoren des Beitrags in der Jungen Welt wollen die defätistische Position von Luxemburg, Liebknecht und Lenin im Ersten Weltkrieg auf den gegenwärtigen russischen Besatzungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung anwenden. Angemessener wäre ein kritisches Nachdenken über die Berechtigung antikolonialer Kämpfe. Die Ukraine ist kein imperialistischer Staat, sondern ein junges Land, dessen Unabhängigkeit und eigene Nationenbildung Russland nicht akzeptiert und deshalb seit 2014 militärisch angreift.
Die ukrainische Bevölkerung führt keinen »Stellvertreter-Krieg« der Nato gegen Russland, sondern kämpft für ihre eigene Unabhängigkeit sowie für demokratische und soziale Rechte, die sie unter russischer Besatzung verlieren würde. Die verheerende Menschenrechtssituation in den sogenannten Volksrepubliken im Donbas ist als wahrscheinliche Perspektive unter einem Besatzungsregime Drohung genug.
Selbstverständlich lässt sich der Krieg nur im Kontext der internationalen Rivalität zwischen den großen imperialistischen Mächten verstehen. Die USA und die Nato-Länder bereiten sich mit ihrer bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gestarteten Aufrüstungsoffensive auf mögliche militärische Konflikte mit China und den verschärften Kampf um Rohstoffe und ökologische Senken vor. Daher ist es naheliegend, dass die USA und die europäischen Mächte den Krieg, auch wenn sie ihn nicht wollten, strategisch für ihre Ziele zu nutzen versuchen. Am 19. Mai verabschiedete der US-Senat ein 40-Milliarden Programm zur militärischen und humanitären Unterstützung der Ukraine, was dies zum größten Hilfspaket im Ausland seit mindestens zwei Jahrzehnten machte. Ein Großteil dieser Summe wird allerdings in den USA selber ausgegeben. Dass die USA und europäische Regierungen Waffen aus ihrer eigenen Motivlage heraus liefern, ändert aber nichts daran, dass die Ukraine das Recht hat, sich Waffen zu beschaffen, wo immer sie diese erhält.
Denn was wäre die Alternative? Die Autoren des Beitrages in der Jungen Welt empfehlen der Ukraine und damit auch ukrainischen Linken kaum verhohlen die Kapitulation. Meinen sie ernsthaft, dass sich unter den Bedingungen einer militärischen Besatzungsdiktatur eine lebendige Zivilgesellschaft oder gar kämpferische Gewerkschaften herausbilden können? Sollen die russischen Truppen auf diese Weise friedlich zum Abzug bewegt werden? Diese Vorstellung ist grotesk, und die daraus abgeleiteten Empfehlungen an die Menschen in der Ukraine sind paternalistisch und neokolonial. Die Autoren demonstrieren damit, dass sie mit den sozialistischen, anarchistischen und feministischen Kräften in der Ukraine, Belarus und Russland nicht einmal diskutieren wollen. Sie nehmen diese offensichtlich nicht ernst und in ihrem Beitrag nicht den geringsten Bezug auf sie.
Nicht nur die Autoren, auch andere Intellektuelle, Prominente und linke Gruppierungen in Deutschland fordern einen sofortigen Waffenstillstand. Doch solange die Bedingungen eines solchen Waffenstillstands nicht benannt werden, läuft diese Perspektive auf die Annexion und Kolonisierung weiter Teile des Landes durch Russland hinaus. Möglicherweise werden die Regierungen der westlichen imperialistischen Staaten die Ukraine über kurz oder lang dazu zwingen, im Rahmen einer »Verhandlungslösung« die Souveränität über weite Landesteile im Osten und Süden aufzugeben und damit eine Teilniederlage zu akzeptieren. Insofern stehen jene, die jetzt nach sofortigen Verhandlungen rufen, gar nicht so weit entfernt von »ihren« imperialistischen Regierungen.
Eine gemeinsame Perspektive
Unsere Solidarität gilt dem bewaffneten und unbewaffneten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russischen Besatzungstruppen. Ganz besonders unterstützen wir die Feminist*innen, Sozialist*innen und Anarchist*innen, die sich sowohl mit zivilen als auch militärischen Mitteln politisch eigenständig an diesem Widerstand beteiligen. Wir solidarisieren uns mit den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in der Ukraine, die sich der neoliberalen Wirtschaftspolitik widersetzen und für einen sozialökologischen Wiederaufbau einstehen. Wir stehen selbstverständlich auch an der Seite der sozialistischen, feministischen und anarchistischen Kräfte in Russland und Belarus, die sich ihren Herrschern trotz großer Gefahren und Risiken mutig widersetzen.
Wir widersetzen uns zugleich dem Kapital in unseren Ländern und lehnen die Aufrüstungsprogramme in Westeuropa und der Nato ab.
Der Abzug aller russischen Truppen vom Territorium der Ukraine ist die Bedingung für eine friedliche Beilegung des Konflikts. Erst auf dieser Grundlage kann ein Verständigungsprozess zwischen demokratisch gewählten Vertreter*innen der Regionen im Osten der Ukraine und der Regierung in Kyiv unter internationaler Beobachtung eröffnet werden. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die in den europäischen Ländern versteckten und angelegten russischen und ukrainischen Oligarchenvermögen identifiziert und für humanitäre Hilfe sowie den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden. Die Ukraine ist hochverschuldet. Der Krieg macht eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung unmöglich. Darum sind der Ukraine die Schulden zu erlassen.
Wir widersetzen uns zugleich dem Kapital in unseren Ländern, das weiterhin Geschäfte mit den Putin-Oligarchen betreibt, und wir lehnen die jüngst beschlossenen und vorbereiteten Aufrüstungsprogramme in Westeuropa und der Nato ab. Diese dienen nicht dem Sieg der ukrainischen Bevölkerung in ihrem Existenzkampf gegenüber Russland, sondern eigenen längerfristigen imperialistischen Zielen in der Rivalität um Ressourcen. Wir sprechen uns für die Auflösung der Nato und des von Russland dominierten Militärbündnisses OVKS aus. Stattdessen sind wir für den Aufbau eines demokratischen und kollektiven Sicherheitssystems. Die Rüstungsindustrie in West und Ost ist kontinuierlich zurückzubauen und in gesellschaftlich nützliche und ökologisch verträgliche Industrien zu konvertieren.
Wir unterstützen die Forderung der Klimabewegung nach einem Ausstieg aus russischem Öl und Gas als Schritt zum kompletten Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Es darf nicht länger zugelassen werden, dass das Putin-Regime seine Kriegsmaschinerie mithilfe der Einnahmen aus Öl- und Gasgeschäften sowie dem Verkauf mineralischer Rohstoffen finanziert. Den Preissteigerungen der Energie ist mit einer günstigen gesellschaftlichen Grundversorgung von Energie für Lohnabhängige, einer progressiven Preisgestaltung bei hohem Energieverbrauch und umfassenden Energiesparmaßnahmen entgegenzutreten. Um diese Perspektive durchzusetzen, wollen wir gemeinsam mit der Klimabewegung und gewerkschaftlichen Basisinitiativen eine Bewegung zur gesellschaftlichen Aneignung und für den ökologischen Um- und Rückbau der großen fossilen Konzerne aufbauen.
Diejenigen, die jetzt einen Sieg Russlands in Kauf nehmen, tolerieren auch einen Sieg des »heimischen« fossilen und rohstoffbasierten Kapitals, das mit dem russischen fossilen und extraktiven Sektor eng verwoben ist. Deshalb muss eine neue antimilitaristische Bewegung die Solidarität mit dem zivilen wie bewaffneten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung sowie mit den ukrainischen, belarussischen und russischen Linken hochhalten, die sich dem Krieg des Putin-Regimes widersetzen.
Die Autorinnen sind ein Kollektiv von linken Aktivist*innen aus der Ukraine, Russland, Polen, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Eine ausführlichere und mit Quellenhinweisen versehene Version dieses Diskussionsbeitrags erscheint in der Zeitschrift Emanzipation.