Mieser Musterschüler
Griechenlands Schuldenkrise gilt seit der Rückzahlung der IWF-Kredite als überwunden, doch das Land ist tief gespalten
Von John Malamatinas
Etwas mehr als zehn Jahre ist es her, dass Tausende Griech*innen das Parlament auf dem berühmten Syntagma Platz stürmten und sich stundenlange Straßenschlachten mit der Bereitschaftspolizei lieferten. Das war am 12. Februar 2012. Damals versammelten sich bis zu 500.000 Demonstrant*innen in Athen, um ihren Widerstand gegen die Sparmaßnahmen des technokratischen Premierministers Loukas Papadimos zu bekunden. Die Polizei setzte große Mengen Tränengas und Blendgranaten ein, während die Demonstrant*innen Steine und Molotowcocktails warfen. Etliche Gebäude wurden in Brand gesetzt. Zwei Tage zuvor hatte ein Generalstreik das Land lahmgelegt, bei dem die Dachgewerkschaften erklärt hatten, »die vorgeschlagenen Maßnahmen würden die griechische Gesellschaft in die Verzweiflung treiben«.
Die Bewegung der Empörten, die nach dem Vorbild der spanischen Indignados und des »arabischen Frühlings« entstanden war, erlebte ihre Initialzündung im April 2010, als der sozialdemokratische Premierminister Giorgos Papandreou vom Deck einer Yacht und vor traumhafter Inselkulisse verkündete, Griechenland würde es »nicht ohne die Hilfe seiner internationalen Partner schaffen« – und damit die drastischen Sparmaßnahmen bereits vorwegnahm.
Im Februar 2012 beantragte die Regierung den zweiten Hilfskredit bei der Europäischen Union (EU) und dem Internationale Währungsfonds (IWF), ohne den Griechenland zahlungsunfähig gewesen wäre – gebunden an die Zusage weiterer Sparmaßnahmen.
In den folgenden Jahren sahen sich die sozialstaatlichen Institutionen einer regelrechten Zertrümmerung ausgesetzt, im Namen der Austerität und angeleitet durch die Troika aus IWF, Europäischer Zentralbank (EZB) und der EU. Durchgesetzt wurden die Reformpakete von Marionettenregierungen wie die von Papadimos oder jener von Alexis Tsipras und seiner Linkspartei Syirza. Tsipras steht bis heute symbolisch für die Ohnmacht progressiver Akteure im politischen System der EU und würgte mit seinem Einknicken gegenüber den internationalen Gläubigern Versuche anderer südeuropäischer Länder ab, sich dem europäischen Schuldenregime zu widersetzen: Trotz der mehrheitlichen Zurückweisung von Reformforderungen in der Bevölkerung und der hohen Zustimmung für einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion unterwarf sich der linke Regierungschef am Ende dem Spardiktat.
»Dunkles Kapitel abgeschlossen«
Ende März dieses Jahres nun kündigte der rechtskonservative Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis an, dass Griechenland gerade 1,85 Milliarden Euro und damit die letzte Tranche seiner Schulden beim Internationalen Währungsfonds zurückgezahlt habe – zwei Jahre früher als geplant. »Griechenland schließt damit ein dunkles Kapitel ab, das 2010 begann. Eine Zeit, die wir nicht noch einmal durchleben dürfen und werden«, so Mitsotakis. Am 20. August endet damit auch die verstärkte finanzielle Überwachung durch die EU-Institutionen, das Land unterliegt dann nur noch jenen finanzpolitischen Kontrollmechanismen, die auch bei den anderen Mitgliedstaaten greifen.
Trotz Rückzahlung der IWF-Kredite und trotz mehrerer Schuldenerleichterungen in früheren Jahren übersteigen die griechischen Staatsschulden die Wirtschaftsleistung immer noch um mehr als das Doppelte.
Weder die wirtschaftliche, noch die politische oder die soziale Krise Griechenlands sind damit jedoch überwunden. Die Haushaltslage ist weiter überdurchschnittlich angespannt. Das Land hat zwar die Schulden an den IWF zurückgezahlt; dieser hatte aber von den insgesamt 272,7 Milliarden Euro an Hilfskrediten nur 32,1 Milliarden beigesteuert. Die restlichen Schulden liegen bei der EU, immerhin mit langen Laufzeiten von bis zu fünfzig Jahren. Trotz strenger Haushaltsdisziplin stieg die Neuverschuldung Griechenlands zudem weiter an, insbesondere im Zuge der Corona-Krise, während der viel Geld etwa in die Rettung des wirtschaftlich wichtigen Tourismussektors floss. Trotz Rückzahlung der IWF-Kredite und trotz mehrerer Schuldenerleichterungen in früheren Jahren übersteigen die griechischen Staatsschulden die Wirtschaftsleistung immer noch um mehr als das Doppelte. Das ist der mit Abstand höchste Wert in der EU.
Ende 2021 schätzte der IWF den Schuldenstand des Landes auf gut 366 Milliarden Euro. Nach Angaben des griechischen Statistikamtes (ELSTAT) stieg die Staatsverschuldung zwischen dem ersten Quartal 2021 und dem zweiten Quartal 2022 nochmals um 13,417 Milliarden Euro.
Am austeritätspolitischen Kurs der Regierung wird sich also wenig ändern. Weite Teile der griechischen Bevölkerung trifft das hart. Bei der Arbeitslosigkeit liegt Griechenland mit 12,3 Prozent knapp hinter Spanien (12,6) und damit auf dem zweiten Platz in der EU, die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 36,8 Prozent die mit Abstand höchste. Auch bei der Inflationsrate belegte Griechenland im Juni mit 11,6 Prozent den Spitzenplatz im Euroraum. Wer das Land verlassen konnte, hat es längst getan.
Autoritärer Normalzustand
Mit Blick auf die Jugend sprechen viele von einer »verlorenen Generation«, die für 3 Euro die Stunde in Cafés und Kneipen jobbt und 800 Euro Monatslohn bereits als großen Luxus empfindet. Auch die Rentner*innen, die ein wichtiger Akteur in der Bewegung der Empörten waren, haben es mittlerweile aufgegeben, auf die Straße zu gehen und nehmen drastische Rentenkürzungen hin. Die wirtschaftsliberalen Reformen, die von der deutschen Regierung unter dem damaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) besonders vehement eingefordert wurden, haben bis heute nicht dazu geführt, dass sich eine stabile Ökonomie herausgebildet hätte. Neben dem Ausverkauf der Flughäfen, Häfen, Telefongesellschaft und allem anderen, was als Staatseigentum von Wert war, wurde das Geld jahrelang in unsinnige Projekte wie die hemmungslose militärische Aufrüstung oder die Bildung einer Universitätspolizei gepumpt oder direkt in den Taschen von Politiker*innen. Einzig der Tourismussektor boomt dank der gelockerten Corona-Maßnahmen wieder. Es profitieren davon allerdings vor allem große Unternehmen, wie TUI und AirBnb.
Aktuell geht es für die griechische Linke vor allem darum, den autoritären Normalzustand zu durchbrechen, das heißt, die Mindeststandards einer Demokratie zu verteidigen.
Diejenigen, die gegen den Kurs der aktuellen Regierung auf die Straße gehen, sind nach wie vor mit massiver Polizeigewalt und Repression konfrontiert. Das gilt auch für Journalist*innen, die es wagen, Gewaltorgien seitens der Staatsmacht zu dokumentieren. Im Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen rangiert Griechenland mittlerweile auf dem letzten Platz in Europa und ist allein gegenüber dem Vorjahr um 38 Plätze abgerutscht. Aktuell erschüttert außerdem ein Abhörskandal die Regierung, weil Mitsotakis offenbar nicht nur mehrere Oppositionspolitiker*innen, sondern auch Journalist*innen durch den griechischen Geheimdienst bzw. mittels der Software Predator überwachen ließ. Auch Feminizide sind in Griechenland an der Tagesordnung. Dass der deutsche Finanzminister Christian Lindner Griechenland jüngst als positives Beispiel für erfolgreiches Schuldenmanagement lobte, ist mehr als zynisch.
Linke Hoffnungen
Und was macht die griechische Linke in dem ganzen Schlamassel? Die Zeit der Massenproteste mit hunderttausenden Menschen ist passé. Zu tief sitzt die Enttäuschung, zu tief die Gewöhnung an die ökonomischen und sozialen Katastrophen. Während Syriza sich bemüht, wieder an die Macht zu kommen – und dabei mehr auf der Welle der Skandale von Mitsotakis reitet als auf dem Erfolg ihres politischen Programms – versucht sich die außerparlamentarische Linke neu zu organisieren. Aktuell geht es dabei vor allem darum, den autoritären Normalzustand zu durchbrechen, das heißt, die Mindeststandards einer Demokratie zu verteidigen. Gruppen wie Diktyo – das Netzwerk für politische und soziale Rechte – oder die antiautoritäre Bewegung, die besonders während der Blockupy-Proteste gegen die Troika in Frankfurt engen Kontakt zu deutschsprachigen Gruppen hatte, sind nicht mehr federführend, begleiten die Proteste aber, wie jüngst gegen die offensichtlichen Doppelstandards der griechischen Justiz: Dem Anarchisten Yannis Michailidis wurde eine vorzeitige Haftentlassung wegen guter Führung verwehrt, während der Schauspieler Dimitris Lignadis, wegen mehrfacher Vergewaltigungen von Minderjährigen verurteilt, auf Kaution freikam. Neue Projekte wie Copwatch.gr versuchen zudem, mit der Entwicklung der polizeilichen Repression Schritt zu halten. Und im Herbst werden neue Studierendenproteste gegen die Etablierung der Universitätspolizei erwartet.
Und wo bleibt die Hoffnung auf Veränderung? Die wichtigste Arbeit gegen das Regime Mitsotakis machen derzeit unabhängige und investigative Journalist*innen, denen es in Zusammenschlüssen wie Reporters United immer wieder gelingt, Skandale aufzudecken wie zuletzt das »griechische Watergate«, jenen Abhörskandal, der bereits zum Rücktritt von Mitsotakis` Stabschef und vom Chef des griechischen Geheimdienstes führte. Noch mehr Hoffnung machte vielen Linken jüngst ein kulturelles Ereignis, das in den sozialen Medien tagelang diskutiert wurde: Beim Auftritt des vor allem unter Jugendlichen beliebten Underground-Rappers Lex in Athen versammelten sich 25.000 junge Menschen: »Was ist der Tod mein Junge im Angesicht der Schande / Ich höre das Backgammon der Arbeitslosen, die Stimme der Kinder / Das unterdrückte Stöhnen der Haushalte.« Seine Texte sind politischer als jede altgebackene linke Erklärung, sie drücken die Verzweiflung vieler, vor allem junger Menschen aus. Derweil staut sich die Wut der verlorenen Generation immer weiter auf, und wenn uns die Geschichte Griechenlands seit der Militärdiktatur eines gezeigt hat, dann, dass sich diese immer mit großer Wucht entlädt. Nach mehr als zehn Jahren austeritätspolitischer Gängelung eines ganzen Landes ist es höchste Zeit dafür.