Pleite-Adler
Der Immobilienskandal um das Hamburger Holsten-Areal gipfelte jüngst in einem Hungerstreik rumänischer Arbeiter
Von Theo Bruns
Hungerstreik« ist auf zwei Transparenten zu lesen, die am frühen Morgen des 27. Juli von Bauarbeitern auf dem Dach eines Gebäudes auf dem Hamburger Holsten-Areal gehalten werden. Auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei werden gerade Abrissarbeiten durchgeführt. Vielleicht hätte niemand etwas von der Aktion erfahren, wenn nicht eine Anwohnerin die Szene fotografiert und das Foto einer lokalen Initiative zugespielt hätte. Diese recherchierte und erfuhr vom Bauleiter des zuständigen Abrissunternehmens Freimuth, dass der Protest wegen nicht gezahlter Löhne seitens des Subunternehmens SAR Industrieservice stattgefunden hat. Eine Internetrecherche ergibt, dass zeitgleich eine ähnliche Aktion in Düsseldorf organisiert wurde. Bei den um ihren Lohn betrogenen Arbeitern handelt es sich um Angestellte einer rumänischen Firma, die von SAR als Sub-Subunternehmen beauftragt und nicht bezahlt wurde. Im Hamburger Fall verständigt die Holsten-Areal-Initiative »knallt am dollsten« Presse, Bezirksamt und Gewerkschaften. Gemeinsam mit Mitgliedern der benachbarten Fux Genossenschaft führt sie eine spontane Solidaritätsaktion auf dem Gelände durch.
So wird der Fall einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die Hamburger DGB-Vorsitzende Tanja Chawla schaltet sich ein und fordert, »dass auf den Baustellen in Hamburg Arbeitnehmer*innenrechte eingehalten« und konsequente Kontrollen durchgeführt werden. Denn die Kettenvergabe von Aufträgen hat System und dient der Lohndrückerei und Entrechtung der Arbeitenden. Den Bauarbeitern ist es also mit der mutigen Aktion gelungen, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Dazu beigetragen hat ein schnelles Zusammenwirken von Initiativen aus dem Recht-auf-Stadt-Kontext und Gewerkschaften. Das Abrissunternehmen Freimuth teilte auf Anfrage mit, dass es die Zusammenarbeit mit dem SAR Industrieservice eingestellt habe. Die Vorfälle seien nicht tragbar. Über den Verbleib der hungerstreikenden Arbeiter habe man keine Kenntnisse, wisse jedoch, dass diese »nicht mehr da« seien. Die Firma SAR Industrieservice wollte am Telefon keine Auskunft geben.
Die Kettenvergabe von Aufträgen hat System und dient der Lohndrückerei und Entrechtung der Arbeitenden.
Ecken, Kanten, Spekulanten
In Hamburg wurde auf diese Weise ein weiteres Kapitel in einem größeren Wirtschaftskrimi aufgeschlagen. Denn bei der in letzter Instanz für die Arbeitsbedingungen auf dem Grundstück verantwortlichen Eigentümerin handelt es sich um Consus Real Estate, eine Tochter der Adler Group, eines Skandalinvestors, der seit Monaten für Negativschlagzeilen in der Presse sorgt. Die Nichtbezahlung von Rechnungen beauftragter Subunternehmen und Handwerksbetriebe gehört bei ihm zum System, wie zuletzt die ARD-Story »Der Immobilienpoker« eindrucksvoll belegt hat. Als sich der Carlsberg-Konzern 2016 entschied, den Standort der Holsten-Brauerei in Altona aufzugeben, verzichtete der Hamburger Senat unter Olaf Scholz darauf, ein Vorkaufsrecht geltend zu machen. Ein fataler Fehler: Das Gelände wechselte innerhalb kurzer Zeit vier Mal den Besitzer, ohne dass mit dem Bau der geplanten 1.240 neuen Wohnungen begonnen wurde. Dies geschah im Rahmen sogenannter Share Deals, bei denen formal nicht Grundstücke, sondern Firmenanteile verkauft werden.
Das kommunale Vorkaufsrecht wird so ausgehebelt. Die Immobilie erfuhr eine enorme Wertsteigerung von ursprünglich ca. 55 Millionen – so der Wert des Industriegeländes – auf zuletzt 364 Millionen. Die Folge: Angesichts des spekulativ hochgetriebenen Grundstückspreises und der Renditeerwartungen des Investors waren Mietpreise von mehr als 20 Euro netto kalt pro Quadratmeter für die frei finanzierten Wohnungen zu erwarten. So zeichnete sich ein Quartier ab, in dem Wohnen mehrheitlich nur für Gutverdienende möglich wäre. Für eine solidarische Stadtentwicklung schien das Holsten-Areal damit – auch unter der grünen Bezirksregierung in Altona, die für die Aushandlung des städtebaulichen Vertrags mit Consus verantwortlich zeichnet – unwiederbringlich verloren.
Gegen diese Politik formierte sich jedoch Widerstand. Im Sommer 2020 gründete sich die Holsten-Areal-Initiative, die sich in ironischer Anspielung auf die Biermarke »knallt am dollsten« nennt. Mit Podiumsdiskussionen, vielfältigen Aktionen und einem medienwirksamen Flaschenballett begleitete sie fortan die Entwicklung. Ihre Kritik an den Inhalten des städtebaulichen Vertrags: Die Beschränkung auf ein Drittel geförderter Wohnungen gehe an den realen Bedarfen völlig vorbei, da die Hälfte der Bewohner*innen Hamburgs Anspruch auf eine Sozialwohnung hat, deren Zahl ohnehin seit Jahren sinkt. In der Summe würden wenigen bezahlbaren Wohnungen zwei Drittel sündhaft teure Apartments und Eigentumswohnungen im Luxussegment gegenüberstehen. Dies würde zu Gentrifizierungseffekten im gesamten Wohnumfeld und steigenden Preisen führen, letztlich zur Vertreibung ärmerer Bevölkerungsschichten aus den innenstadtnahen Quartieren.
Die extrem dichte Bebauung mit der einhergehenden Verschattung verstoße zudem gegen das Gebot der Herstellung gesunder Wohnverhältnisse. Bebauung und Grünflächenplanung genügten nicht den Anforderungen des Klimawandels. Der Vertrag veranschauliche in exemplarischer Weise, was dabei herauskommt, wenn die Stadt Wohnen oder andere Bereiche der Daseinsvorsorge Investoren überlässt, deren vorrangiges Ziel maximale Renditen sind. Eines der größten Neubauvorhaben der Stadt schien gegen die Wand gefahren worden zu sein. Doch dann kam alles anders.
Wer nicht vorkauft, muss später enteignen
Im Oktober 2021 platzte mit dem Bericht des britischen Hedgefondsmanagers Fraser Perring, der bereits den Wirecard-Skandal aufgedeckt hatte, eine mediale Bombe: Er warf dem neuen Eigentümer des Geländes, der Adler Group, Bilanzbetrug, Scheinverkäufe, intransparente Transaktionen und ein ans Kriminelle grenzendes Geschäftsgebaren vor. Die Vorwürfe konnten auch von der Wirtschaftsprüfungsfirma KPMG nicht widerlegt werden, die dem Konzern das Testat für den Jahresabschluss 2021 verweigerte. Auch die Bafin und die Staatsanwaltschaft Frankfurt leiteten Ermittlungen ein. Damit scheint die »Methode Adler« an ihr Ende gekommen zu sein. Die Aktie befindet sich in freiem Fall, eine Insolvenz kann nicht mehr ausgeschlossen werden.
Dies führte zu einer vorsichtigen Kehrtwende der Hamburger Politik, die bislang entgegen aller Kritik stur an dem städtebaulichen Vertrag mit dem Investor festgehalten hatte. Nun wurde zunächst ein Finanzierungsnachweis für das gesamte Bauvorhaben gefordert und das gesamte Verfahren schließlich auf Eis gelegt. Jüngst unterbreitete die Stadt Hamburg dem Konzern ein Kaufangebot für das Gelände, das die Adler Group jedoch umgehend zurückwies.
Seither ist unklar, wie die Stadt dem in Verruf geratenen Investor das Grundstück tatsächlich entziehen will. Ein wirksames Instrument wäre die Einleitung einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme nach Paragraf 165 Baugesetzbuch, die bis hin zur Möglichkeit einer Enteignung geht. Genau dieses Instrument – laut Stadtplanungsexperte Andreas Pfadt »das schärfste Schwert des Baugesetzbuches« – wird aber von der Stadt nicht in Anspruch genommen. Dies ist besonders paradox, weil eine solche Maßnahme im Hamburger Bezirk Harburg in Bezug auf die dortigen Adler-Projekte eingeleitet wurde, ebenso wie bei zwei Adler-Baustellen in Düsseldorf unter einer schwarz-grünen Stadtregierung. Alarmierend ist auch, dass noch im Juni die Altonaer Kreismitgliederversammlung der Grünen einen Antrag auf Einleitung einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme mehrheitlich abgelehnt hat.
All dies nährt Zweifel an der Ernsthaftigkeit und Konfrontationsbereitschaft der Hamburger Politik gegenüber dem Adler-Konzern. Zudem weckte die Krise von Adler Begehrlichkeiten, und andere Investoren – von Christoph Gröner bis Quantum – brachten sich ins Spiel. Doch niemandem ist damit gedient, wenn lediglich Investor A durch Investor B ersetzt wird und sonst alles beim Alten bleibt. Das exemplarische Desaster einer investoren- und renditeorientierten Stadtentwicklung und Wohnungsbaupolitik veranschaulicht vielmehr eindrücklich, dass diese nicht in der Lage ist, erschwinglichen Wohnraum für die breite Masse der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen.
Die Krise von Adler ist eine historische Chance, einen ganzen Stadtteil dem Imperativ der Profitmaximierung zu entziehen und eine an den Bedürfnissen der künftigen Bewohner*innen ausgerichtete Entwicklung einzuleiten. Damit öffnet sich ein Fenster der Hoffnung für das umkämpfte Areal. Voraussetzung ist, die Verhandlungen mit dem Immobilienkonzern Consus/Adler unumkehrbar für gescheitert zu erklären und die notwendigen Schritte für die Kommunalisierung des Holsten-Areals einzuleiten. Im Anschluss könnte das Grundstück von einem Konsortium gemeinwohlorientierter Unternehmen bebaut werden.
Der städtebauliche Vertrag und der begleitende Bebauungsplanentwurf waren auf die Interessen des Investors zugeschnitten. Beide müssen deshalb endgültig ad acta gelegt werden, um eine alternative Planung für das Holsten-Areal zu ermöglichen und einen sozialen, inklusiven, klimagerechten und lebendigen Stadtteil mit dauerhaft erschwinglichen Mieten zu schaffen. Die zukünftigen Bewohner*innen und die Nachbarschaft müssen real an der Planung beteiligt werden, statt sie mit ritualisierten Formaten bloßer Scheinpartizipation abzuspeisen. Eine Altonaer Bezirksversammlung von unten lieferte dazu am 25. Mai bereits erste Ideen.
Begleitend sind eine neue Bodenpolitik und eine Abschaffung der Share Deals in der geltenden Form unumgänglich, um das städtische Vorkaufsrecht zu stärken und die Bodenpreise zu begrenzen. Ein entsprechender Bürgerschaftsbeschluss von SPD und Grünen aus dem Jahr 2020 (»Konsequent gegen die Spekulation mit Grund und Boden«) blieb bislang folgenlos und im Bereich leerer Rhetorik.