Gott und Vaterland
Nach Mario Draghis Rücktritt droht in Italien ein Triumph der Rechten
Von Jens Renner
Nun wählen sie wieder, ein halbes Jahr vor dem Ende der Legislaturperiode in Italien. Der 25. September 2022 könnte ein historisches Datum werden, auch für die italienische radikale Linke. Wahlerfolge auf nationaler Ebene konnte sie schon lange nicht mehr feiern. Diesmal ist es noch schlimmer: Sie hat nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Noch nie in den vergangenen Jahrzehnten sah es so düster aus im Mutterland des Faschismus. Nun droht nicht weniger als dessen Rückkehr – genau 100 Jahre nach dem »Marsch auf Rom«.
Bewaffnete Sturmtrupps braucht es dazu nicht. Was auf Italien zukommen könnte, beschreibt Norma Rangeri, die Chefredakteurin der kommunistischen Tageszeitung Il Manifesto, mit drastischen Worten: »Unter einer schwarzen Regierung müssten Millionen Menschen ohne Arbeit und Zukunft die Zeche zahlen; Bürgerrechte würden schrittweise ausgehöhlt; die Lehrpläne würden gemäß dem dreifachen Gebot Gott-Vaterland-Familie umgestaltet; Migrant*innen, die eingebürgert werden wollen, müssten die Namen und Daten der Gedenktage aus dem Programm der Lega auswendig lernen …« (Il Manifesto, 31.7.2022) Letzteres klingt nach Satire, kommt den rechten Visionen von »nationaler Wiedergeburt« aber ziemlich nahe. Zusammengefasst hat sie Giorgia Meloni von den postfaschistischen Brüdern Italiens (Fratelli d’Italia/FdI) in ihrem 2021 erschienenen, 300 Seiten starken Bestseller »Io sono Giorgia« (»Ich bin Giorgia«), einer Mischung aus Autobiografie und politischem Manifest.
Schwester Giorgia und ihre Brüder
Mit »Ich bin« beginnen auch die sechs Kapitelüberschriften – die Autorin ist: Giorgia, Frau, Mutter, rechts, Christin, Italienerin. Geboren 1977 in Rom, trat sie mit 15 Jahren in die Jugendorganisation des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) ein; 2006 wurde sie Abgeordnete der aus dem MSI hervorgegangenen Alleanza Nazionale (AN) und nach den Neuwahlen 2008 mit nur 31 Jahren Jugendministerin in der Regierung Berlusconi. Ende 2011 trat sie zurück und verließ das aus Forza Italia und AN gebildete Rechtsbündnis Popolo della Libertà. Ein Jahr später folgte der Schritt, von dem sie jetzt mit einigem Pathos erzählt: die Gründung der Partei der Fratelli d’Italia, so genannt nach der ersten Zeile der italienischen Nationalhymne. Als Parteisoldatin gestartet, sei sie 2014 nicht aus persönlichem Ehrgeiz Parteivorsitzende geworden, sondern um die italienische Rechte – und vor allem das geliebte Vaterland – zu retten.
Besonders aggressiv tönt sie bei ihren öffentlichen Auftritten. Jüngst reiste sie, nicht zum ersten Mal, zu ihren rechten Freunden von VOX nach Spanien, wo sie sich – nach eigener Aussage – wie zu Hause fühlt. Am 12. Juni hielt sie im andalusischen Marbella eine Rede, die ihre Gastgeber*innen begeisterte. In demagogischen Gegenüberstellungen listete sie ihre reaktionären Bekenntnisse auf: »Ja zur natürlichen Familie, nein zur LGBT-Lobby, nein zur Gender-Ideologie. Ja zu sicheren Grenzen, nein zur massenhaften Einwanderung, nein zur islamistischen Gewalt. Ja zur Souveränität des Volkes, nein zu den Brüsseler Bürokraten. Ja zur Arbeit für unsere Staatsbürger, nein zur internationalen Hochfinanz. Ja zu unserer Zivilisation, nein zu denen, die sie zerstören wollen.«
In Italien riefen ihre Tiraden eine Welle der Kritik hervor. Ihre Fans aber halten zu ihr. Als Anführerin der mit Abstand populärsten der drei rechten Parteien – FdI, Lega und Forza Italia – könnte sie sogar Regierungschefin werden. Vorausgesetzt, der Rechtsblock gewinnt die Wahlen. In Umfragen liegt er zwischen 40 und 45 Prozent. Aufgrund eines völlig undemokratischen Wahlgesetzes, mit einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, könnte das für eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate in den beiden Parlamentskammern reichen, wie Wahlforscher*innen errechnet haben. Damit wären auch Verfassungsänderungen möglich, etwa die Einführung eines autoritären Präsidialsystems.
Draghi geht. Bleibt seine Agenda?
Wegen dieser keineswegs unrealistischen Schreckensvision appelliert Il Manifesto an »alle antifaschistischen, progressiven und linken Kräfte«, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Insbesondere gelte es, auf aussichtslose Kandidaturen zu verzichten. Die Alternative aber wäre ein rein »technisches« Bündnis, vor allem mit dem Partito Democratico (PD), um möglichst viele Wahlkreise zu gewinnen. Die meisten Linken sehen darin mit Recht eine Zumutung. Denn der PD war die verlässlichste Stütze des zurückgetretenen Premiers, des parteilosen Ex-Bankers Mario Draghi. Dessen neoliberale Politik aber war und ist vorrangig darauf gerichtet, die italienische Wirtschaftsleistung wieder auf den Stand vor der Pandemie zu heben. Zum Teil gelang das sogar – auf Kosten wachsender sozialer Gegensätze. Darauf verwies ausgerechnet Ex-Premier Giuseppe Conte, seit einem Jahr Chef der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento Cinque Stelle/M5S). Aufgeschreckt durch desaströse Umfragewerte für seine Partei, forderte er Anfang Juli in einem offenen Brief an Draghi Maßnahmen gegen »die zunehmende Distanz zwischen Privileg und Mangel, zwischen Luxus und Elend«. Nötig seien die Ausweitung des Bürgergeldes (reddito di cittadinanza) für die Armen, ein gesetzlicher Mindestlohn, die Umwandlung prekärer in unbefristete Arbeitsverhältnisse, Steuererleichterungen für niedrige und mittlere Einkommen sowie massive Investitionen in erneuerbare Energien. Insgesamt waren Contes neun Punkte eher ein Appell als ein Ultimatum.
Das kam dann von Draghi: Er werde nur gemeinsam mit den Fünf Sternen weiter regieren; die von Conte in Aussicht gestellte Tolerierung seiner Regierung lehnte er ab. Auf Draghis Ultimatum folgte ein Veto von Silvio Berlusconi und Matteo Salvini: Eine Zusammenarbeit mit Contes Partei sei nicht länger möglich. Damit war das Ende der extrabreiten Koalition der »nationalen Einheit« besiegelt. Dass die Parlamentarier*innen von drei mitregierenden Parteien – Fünf Sterne, Lega, Forza Italia – der abschließenden Vertrauensabstimmung über Draghis Regierung fernblieben, war nur noch der Schlussakkord.
Das Dilemma der Linken
Eine Debatte über Contes ziemlich moderates Reformprogramm fand nicht statt, auch nicht bei der Demokratischen Partei. Die will Draghis Agenda fortsetzen, ihn im Herbst am liebsten sogar zurückholen, sollte das Wahlergebnis das hergeben. Die nötigen Stimmen erhofft der PD sich in der »Mitte«, um die allerdings diverse Parteien konkurrieren. Stimmen von links nimmt man, im Austausch gegen ein paar Parlamentssitze, gern mit – inhaltliche Zugeständnisse sind damit nicht verbunden. Entsprechend schwierig dürfte es werden, das linke Wähler*innenpotenzial auszuschöpfen.
Schon bei den Regional- und Kommunalwahlen der vergangenen Jahre ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich gesunken. Studien ergaben, dass insbesondere ärmere und jüngere Wahlberechtigte sich der Stimme enthielten. Bei der Parlamentswahl 2018 hatten viele von ihnen für die Fünf Sterne gestimmt und so der vermeintlich ganz anderen Partei zu einem Ergebnis von fast 33 Prozent verholfen. Sich diese Proteststimmen zurückzuholen, war das erklärte Ziel nicht nur der Linken, sondern auch des PD. Damit sind sie gescheitert. Jetzt stehen sie vor der Aufgabe, möglichst viele Wähler*innen gegen den drohenden Sieg des Rechtsblocks zu mobilisieren. Das ist schwierig, aber nicht aussichtslos. Norma Rangeri widerspricht in ihrem zitierten Leitartikel energisch denjenigen Linken, die sich schon jetzt mit der Niederlage abfinden und sich »auf den langen Marsch als Opposition in einem faschistischen Italien« vorbereiten wollen. Die Gegenposition, der auch Rangeri anhängt: Das Schlimmste befürchten, das Äußerste dagegen tun! Auch Durchhalteparolen haben manchmal ihre Berechtigung.