Das 9-Euro-Ticket ist der Game-Changer
Seit Jahren kämpfen einzelne Initiativen lokal für einen kostenlosen ÖPNV. Bisher ohne messbaren Erfolg. Kann das 9-Euro-Ticket das Blatt wenden? Was bisher als naturgegeben und jenseits des diskutablen galt, ist nun auf einmal ein Politikum: die Ticketpreise und die Qualität des ÖPNV sowie des Regionalverkehrs. Und das ist gut so.
Das Ticket ist ein Gewinn für alle, die ein kleines Budget haben. Durch die Begrenzung auf drei Sommermonate wirkt es in der Tat wie ein drolliges Ferienvergnügen. Aber was ist daran so schlimm? Am Pfingstwochenende wurde sichtbar, dass die Bahnen zum Beispiel nach Sylt von vielen Menschen geflutet waren, die sich vermutlich sonst keinen Gruppen- oder Familienausflug dieses Kalibers hätten leisten können. Der Radius hat sich für viele Menschen sprunghaft erweitert. Ganz im Sinne der früheren Wandervogelbewegung, strebt die proletarische Jugend aus der Enge der Mietsbaracken hinaus in die weite Welt; erweitert Horizont und Ortskenntnis. Wer dies verächtlich als Partytourismus und Mitnahmeeffekt abtut, muss sich den Vorwurf des privilegierten Wohlstandschauvinismus gefallen lassen. Dass es tatsächlich auf etlichen Strecken zu voll war, ist dem beklagenswerten Zustand der öffentlichen Infrastruktur anzulasten, nicht denjenigen, die ihre gewonnene Bewegungsfreiheit genießen. Wenn das Angebot keine 3-Monats-Fliege darstellen würde, würde sich vieles entzerren. Denn Hardware sowie Personal würden auf die veränderte Nachfrage hin nachgerüstet werden müssen.
Unter Klimaaspekten ist es ebenfalls ein richtiger, realpolitisch wirksamer Schritt. Der aktuelle IPCC-Report macht zu Recht Angst. Da sich das Zeitfenster für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels gerade final zu schließen droht, müssten die CO2-Emissionen sofort und global auf Null reduziert werden. Direkte Aktionen wie von Ende Gelände weisen deshalb in die einzig richtige Richtung: Stoppt die Nutzung fossiler Energieträger sofort! Ergänzend ist es aber auch wichtig, breit und sofort wirksame, massen- und alltagstaugliche CO2-Reduktionen zu erreichen. Wer den ÖPNV statt des Autos nutzt, halbiert dadurch den CO2-Ausstoß. Halbierung ist nicht die nötige Null – aber in der Summe ein wirklich beträchtlicher Schritt.
Entscheidend wird sein, dass wir uns das 9-Euro-Ticket nicht nach drei Monaten wieder wegnehmen lassen.
Entscheidend wird sein, dass wir uns das 9-Euro-Ticket nicht nach drei Monaten wieder wegnehmen lassen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Es wird bereits vielerorts von der nicht in die Tube rückquetschbaren Zahnpasta fabuliert. Bisher wurde die Forderung nach einem kostenlosen, öffentlich finanzierten ÖPNV stets mit den gleichen falschen Argumenten zurückgewiesen.
Erstens sei dies nicht finanzierbar. Widerlegt durch die bloße Tatsache, dass es quasi über Nacht finanzierbar ist – weil politisch gewollt. Abgesehen davon handelt es sich beim Ticket gar nicht um ein gütiges Geschenk einer grün geläuterten Bundesregierung, sondern stellt im Kern ein systemkonformes staatliches Investitionsprogramm aus der Nachfrage orientierten Mottenkiste dar. John M. Keynes bewies vor fast hundert Jahren, dass wenn der Staat in Infrastruktur investiert, sich in der Folge die Nachfrage nach Autos erhöht, was mittelfristig positiv auch auf die Steuereinnahmen rückwirkt. Der gute Keynes hatte damals nicht den Weitblick seine Theorie auch auf Dosenbier und Fischbrötchen anzuwenden aber immerhin…
Zweitens sei ein kostenloser ÖPNV oder radikal preisreduzierter ÖPNV kein Grund umzusteigen. Es handele sich beim ÖPNV um eine sogenannte preisunelastische Nachfrage. Sinke der Preis werde deshalb nicht mehr nachgefragt, steige der Preis, gebe es keinen nennenswerten Nutzungseinbruch. Ähnlich wie bei Grundnahrungsmitteln. Dies hat die Bundesregierung mit ihrem 9-Euro-Ticket plastisch widerlegt. Die vollen Züge sind ja nun mal sichtbar. Und, dass die die Bahn pünktlicher, schneller, komfortabler werden muss, ist davon absolut unbeeinflusst. Die Bandansage, dass zuerst die Attraktivität steigen müsse, um dann die Preise zu senken, hat sich überlebt.
Das 9-Euro-Ticket ist nicht die Lösung, aber im Hinblick auf das Maximal-Ziel eines Grundrechts auf Mobilität mit einem ticketfreien ÖPNV ein Game-Changer. Beide bisher zentralen Gegenargumente sind regierungsamtlich widerlegt. Diese neue Faktenlage können wir nur dankbar als grundsätzlich veränderte Voraussetzung annehmen. Stritten lokale Umsonst-Initiativen bisher auf verlorenem Posten, können wir nun in eine bestehende Debatte unter signifikant verbesserten Bedingungen intervenieren und uns dabei auf die real gemachten Erfahrungen beziehen und diesen Sommer zum Beginn der Zeitenwende des Nahverkehrs machen.