Einzigartig und zugleich allgemeingültig
Chanel Miller hat ein erschütterndes und bestärkendes Buch über sexualisierte Gewalt geschrieben
Von Magda Albrecht
Wer erinnert sich? Ein weißer blonder Typ, Marke Sunnyboy, breites Lächeln, ein exzellenter Schwimmer. Einer, der Stipendien einheimste und eine vielversprechende Karriere vor sich hatte. Und dann waren da diese 20 Minuten, die sein Leben versauten, oder wie sein Vater es nannte: 20 minutes of action.
Wenn man die langen Aneinanderreihungen von Lobeshymnen über Brock Turner in den großen US-amerikanischen Zeitungen liest, die 2015 und 2016 veröffentlicht wurden, könnte man meinen, Turner hätte besoffen ein paar Joints geraucht und wäre dafür von 20 Polizisten abgeführt worden. Schwimmer, Karriere, Stipendium, vielversprechend. Und plötzlich alles weg, wegen eines betrunkenen Abends!
Empathie für den Täter
Was wirklich vorgefallen war: Brock Turner hatte im Januar 2015 auf dem Campus der kalifornischen Stanford University eine bewusstlose Frau vergewaltigt und war weggerannt, als zwei Fahrradfahrer ihn fragten, was er hinter einer Mülltone mit einer regungslosen Frau mache. Turner, der bis zuletzt behauptete, dass die Tat einvernehmlich erfolgt sei, erhielt dafür nach einem langen, kräftezehrenden Prozess eine lächerlich geringe Strafe von sechs Monaten Gefängnis, die nach drei Monaten wegen »guter Führung« abgegolten war.
Sein Gesicht und seinen Namen jedoch prägten wir uns ein, ob wir wollten oder nicht. Der Fall stand für das kulturelle, mediale und auch gerichtliche Versagen bei sexualisierten Gewalttaten. Noch vor der #metoo-Bewegung analysierte die feministische Öffentlichkeit, wie (mutmaßliche) Täter in Windeseile zu den eigentlichen Opfern erklärt werden und wie weiße, privilegierte Strukturen einen Täter wie Turner schützen. Hier eine alkoholisierte Frau, Emily Doe genannt, die sich für jede ihrer Handlungen rechtfertigen muss (»Was hatte sie an, wie viel hat sie getrunken, warum war sie eigentlich auf der Party?«). Da ein alkoholisierter Mann, der nicht mehr in der Lage sei, richtige Entscheidungen zu treffen. (»Er war betrunken, darf ein Fehltritt sein Leben zerstören?«) Boys will be boys will be rapists.
2019 gab Emily Doe ihre Anonymität auf und meldete sich zu Wort. Sie sagt: Ich bin nicht das eindimensionale betrunkene Opfer, zu dem mich die Medien machten. Ich habe einen Namen. Chanel Miller hat ein Buch geschrieben, das nun auch auf Deutsch erschienen ist. Es ist das schwer verdauliche Werk einer Frau, die den Glauben an die Institutionen verloren hat und trotzdem unerschütterlich für ihre Wahrheit und ein Stückchen Gerechtigkeit kämpft.
Absurd, dass nichts daran Fiktion ist
Ohne Umschweife nimmt Chanel Miller uns mit in ihre Gedankenwelt, lässt uns in ihre Erinnerungen und Verletzungen eintauchen. Auch wenn stellenweise poetisch, schreibt sie oft roh und schmerzhaft explizit über die Tat und den darauffolgenden Gerichtsprozess, der sie Tag und Nacht körperlich und seelisch vereinnahmte. In langen, ineinander verzahnten Sätzen, aber analytisch immer klar, schreibt sie über ihren Schmerz und gegen ihren Schmerz an. Manchmal lesen sich die minutiös beschriebenen Ereignisse wie ein absurder Krimi. Absurd ist allerdings, dass nichts daran Fiktion ist. Millers Geschichte ist einzigartig und gleichzeitig allgemeingültig. Laut dem Rape, Abuse & Incest National Network (RAINN) erleben mehr als elf Prozent der Student*innen an US-amerikanischen Universitäten sexualisierte Gewalt, die überwiegende Mehrheit davon sind Frauen und queere Personen.
Wie fühlt es sich an, im Krankenhaus aufzuwachen und nicht zu wissen, was passiert ist? Was geht in einer Frau vor, die aus den Medien von den eigenen Gewalterfahrungen erfährt und mit unzähligen Kommentaren konfrontiert wird, die die Tat heruntergespielen? Was macht es mit einer Person, die öffentlich als betrunkenes Party Girl dargestellt wird, ohne eigene Geschichte, ohne eigene Stimme, während Journalist*innen immer wieder neue Entschuldigungen für den Täter in die Zeitungen pinseln? »Der Richter hatte Brock etwas entgegengebracht, das mir immer verwehrt bleiben würde: Empathie. Mein Schmerz war niemals so wertvoll wie Brocks Potenzial«, schreibt Miller und fasst damit sich über mehrere Jahre erstreckenden Prozess in einem Satz zusammen.
Die Stärke von Millers Buch ist die ungeschminkte Darstellung ihrer Verletzungen, ihrer Depressionen und ihrer Wut. Sie sagt uns, dass es okay ist, wenn nicht alles okay ist. Ihre Selbstbestimmung, ihre Handlungsfähigkeit wurden ihr geraubt. Es braucht seine Zeit, um sich und die eigene Stimme wiederzufinden. Dieses Buch ist zutiefst erschütternd und gleichzeitig bestärkend, weil es ausspricht, was viele Betroffene nicht aussprechen können oder dürfen.
Sie wurde gehört
Chanel Miller wurde gehört. 18 Millionen Menschen klickten ihr Statement an, das sie nach der Urteilsverkündung im Gericht vorgelesen hatte und das dann auf BuzzFeed veröffentlich wurde. Zehntausende Menschen protestierten gegen den Richter, der in der Konsequenz abgesetzt wurde. In Kalifornien wurde später die Definition von Vergewaltigung so erweitert, dass der Tatbestand Übergriffe auf bewusstlose oder betrunkene Personen stärker berücksichtigt wird als zuvor.
Miller hat mit Hilfe ihrer Familie und ihres Partners wieder Kraft schöpfen können. Sie zeichnet, sie schreibt, sie fing an, in Comedy Clubs aufzutreten. Aber sie lebt heute auch mit Panikattacken, Ängsten, Schlaflosigkeit und hat ihre Unbeschwertheit verloren. Die aktuelle politische Situation und die schier unzähligen Fälle patriarchaler Gewalt, die im Zuge der #metoo-Bewegung öffentlich wurden, gingen nicht spurlos an ihr vorbei. »Wir leben in einer Zeit, in der es schwierig geworden ist, zwischen den Worten des Präsidenten und denen eines neunzehnjährigen Sexualstraftäters zu unterscheiden.«
Chanel Miller hat ihre Stimme wiedergefunden. Ihren Namen sollten wir uns merken.
Chanel Miller: Ich habe einen Namen. Eine Geschichte über Macht, Sexualität und Selbstbestimmung. Ullstein Verlag, Berlin 2019. 480 Seiten, 20 EUR.