Fern der Heimat
Aufgeblättert: »Nastjas Tränen« von Natascha Wodin
Von Nane Pleger
Wodins auto-fiktionaler Text erzählt die Geschichte hinter Nastjas Tränen, die ihr übers Gesicht laufen, als sie in einer Altbauwohnung im Nachwende-Berlin die wehmütigen Melodien ukrainischer Volksmusik vernimmt: die Geschichte eines unglaublichen Heimwehs nach der Heimat, nach dem Gefühl der Zugehörigkeit. Die Ukrainerin Nastja macht sich Anfang der 1990er Jahre auf den Weg nach Berlin, um Geld zu verdienen, das sie an ihren hungernden Enkel und ihren kranken Mann nach Kiew senden kann. Angekommen wird ihr schnell klar, dass sie, studierte Bauingenieurin, als Putzkraft eine Summe an Geld zusammenbekommt, die nicht nur ihrer Familie, sondern auch Bekannten in Kiew weiterhilft. Und auf Hilfe sind die Menschen in dem post-sowjetischen Land dringend angewiesen.
Die Menschen fanden sich in einer prekären Situation wieder, nachdem der Staat sich von der Sowjetunion ab- und der freien Marktwirtschaft zuwendete: Arbeitslosigkeit, Lebensmittelknappheit und Korruption prägten den Alltag. Eindrucksvoll erzählt der Text von der Not und dem Mangel, die das Leben in der Ukraine zu einem Kampf des Überlebens machten. So ist die Geschichte von Nastjas Tränen auch die vom Leid und den Wirrungen, die das Leben in der Ukraine von 1950 bis 2000 prägten. Vor allem ist es aber die Geschichte von Nastjas Schicksal, dem sie sich in der Ukraine und dann in Berlin fügt, um für ihre Liebsten zu sorgen. In einer berührenden Sprache vermischt Wodin Fiktion und Realität und erzählt direkt ins Herz der Leser*innen und ermöglicht so ein Nachfühlen und Verstehen der Beziehung einer Ukrainerin zu ihrer Heimat.
Natascha Wodin: Nastjas Tränen. Roman. Rowohlt Buchverlag, Berlin 2021. 192 Seiten, 22 EUR.