Schweres Ringen um Aufklärung
Der Untersuchungsausschuss zum rassistischen Anschlag in Hanau soll mögliche Behördenversäumnisse aufklären – bisher enttäuscht er die Erwartungen
Von Cihan Balıkçı
Parlamentarische Untersuchungsausschüsse (PUA) werden von der Politik gerne als schärfstes Schwert der staatlichen Aufklärung präsentiert. Deswegen sind die Erwartungen an sie hoch, auch wenn die Ergebnisse dem oft nicht gerecht werden. Auch an den Ausschuss zu dem rassistischen Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020, der seit letztem Dezember in Wiesbaden läuft, richten sich enorme Erwartungen. Der Täter ist tot, einen Gerichtsprozess wird es nicht geben. Der Ausschuss ist die vielleicht einzige Möglichkeit, offene Fragen, wie der Anschlag geschehen konnte, zu klären. Dabei stehen vor allem kleine, aber nicht minder wichtige Detailfragen im Zentrum.
In der »Kette des Versagens«, wie die Initiative 19. Februar aus Hanau das Behördenhandeln vor, während und nach der Tat beschreibt, erwartet niemand eine*n einzelne*n Verantwortliche*n. Vielmehr setzt die »Kette« sich aus vielen kleinen offenen Fragen zusammen, wer in den Behörden wann welchen Fehler gemacht hat. Offene Fragen bestehen zur Waffenerlaubnis des Täters, zum unterbesetzten Notruf, dem verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, der Arena-Bar, zur Obduktion der Ermordeten sowie zur fehlenden Information von Angehörigen hierüber und zu vielen anderen Dingen.
Dass es überhaupt einen Ausschuss gibt, der sich mit den offenen Fragen zum Handeln der Behörden befasst, war keine Selbstverständlichkeit. Ursprünglich hatten die Parteien des Landtags dies nicht als notwendig erachtet. Erst nach dem unaufhörlichen Druck von Angehörigen und Unterstützer*innen entschieden sich SPD, FDP und Linkspartei dazu, diesen zu beantragen, dem sich dann auch die Regierung aus CDU und Grünen anschloss. Bis zu den Landtagswahlen im Herbst nächsten Jahres ist der Ausschuss angesetzt. Anhörungen von Sachverständigen und Zeug*innen enden voraussichtlich einige Monate zuvor.
Sachverständige ohne Akteneinsicht
Die ersten vier Sitzungen gehörten ganz den Angehörigen der neun Opfer des rassistischen Anschlags. Doch auch das musste von ihnen erkämpft werden: Ursprünglich wollte der Ausschuss zuerst Sachverständige anhören. Dagegen machten Angehörige und Unterstützer*innen Druck, bis der Ausschuss sich umentscheiden musste. In vier äußerst emotionalen Sitzungen berichteten Angehörige von ihrer Trauer, ihrem Schmerz, den schrecklichen Folgen für sie und ihre Familien durch den Verlust ihrer Angehörigen. Sie traten aber auch selbstbewusst auf und machten deutlich, dass es sich bei ihren Forderungen um Aufklärung nicht um einen Wunsch handele, sondern um ihr Recht. Besonders eindrücklich zeigte sich dies, als Angehörige die Abgeordneten mit eigenen Untersuchungen konfrontierten und ihnen hierzu im Plenarsaal Material verteilten.
In äußerst emotionalen Sitzungen berichteten Angehörige von ihrer Trauer, ihrem Schmerz und den schrecklichen Folgen ihres Verlustes.
Zum Beispiel das Gutachten von Forensic Architecture, zum verschlossenen Notausgang am zweiten Tatort, das Angehörige und Initiative 19. Februar selbst beauftragt hatten. Forensic Architecture ist eine am Goldsmiths College der University of London angesiedelte Forschungsgruppe mit einer Schwesterorganisation in Berlin. Die Forscher*innen haben in einem multiprofessionellen Team bereits 80 Gutachten erstellt, unter anderem eine Untersuchung des NSU-Mordes an Halit Yozgat. Mithilfe einer peniblen Rekonstruktion der Geschehnisse in der Arena-Bar, dem zweiten Tatort, konnte Forensic Architecture zeigen, dass alle fünf Personen genug Zeit gehabt hätten, um durch den Notausgang zu entkommen. Wäre der Notausgang offen gewesen hätten sie alle den Anschlag überleben können, so das Gutachten.
Auf die Sitzungen mit Angehörigen folgten drei Tage, an denen Sachverständige befragt wurden. Die weiteren Sachverständigen sollten zur Einsatztaktik der Polizei aussagen – der Informationsgehalt ihrer Einlassungen hielt sich aber in Grenzen. Für ihre Aussage wurden ihnen lediglich drei Pressemitteilungen der Staatsanwaltschaft Hanau zur Verfügung gestellt, Akteneinsicht bekamen sie nicht. Das benannten alle Sachverständigen als Einschränkung ihrer Aussagefähigkeit.
Mit Spannung wurde die letzte Sitzung am 1. April erwartet, da hier erstmals leitende Beteiligte des Polizeieinsatzes der Tatnacht aussagten. Doch auch hier war der Erkenntnisgewinn extrem gering: Der Ausschuss hatte aus verfahrenstechnischen Gründen beschlossen, die Zeug*innen vorerst nur zu Erkenntnissen über den Täter und dessen Motiv zu befragen. Der Einsatz in der Tatnacht selbst wurde weitgehend ausgeklammert, die meisten Erkenntnisse zum Täter waren bereits erkannt. Einzig ein Beamter des BKA erwähnte einen interessanten Vorfall, bei dem 2018 eine Sexarbeiterin die Polizei riefen ließ, weil sie »Todesangst« vor dem späteren Täter gehabt haben soll. Außer einer Anzeige wegen Drogenbesitzes hatte dies offenbar keine Konsequenzen. Viel mehr konnte der Beamte jedoch auch nicht sagen: Das BKA hatte zwar in seinen Ermittlungen nach dem Anschlag die Akten gesichtet, die Sexarbeiterin oder die Polizist*innen von damals wurden aber nicht vernommen.
Die Oberstaatsanwältin Gabriele Türmer, die in der Tatnacht die Obduktion der Getöteten in Auftrag gegeben haben soll, ohne die Angehörigen darüber zu informieren, obwohl dies in Akten teilweise anders und somit wahrheitswidrig festgehalten wurde, machte in Bezug hierauf von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Hierzu laufe noch eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen sie, weswegen sie sich nicht dazu äußere. Bei anwesenden Angehörigen sorgte dies für Aufregung. Wieder bekamen sie keine Antworten auf ihre Fragen.
Streitlustige CDU, Opposition mit Schwächen
Vergangene Untersuchungsausschüsse in Hessen wurden vielfach dafür kritisiert, dass sie sich in Geplänkel und Streitereien zwischen Opposition und Regierung verliefen und dabei der eigentliche Auftrag, Aufklärung zu schaffen, mitunter in den Hintergrund geraten sei. Bei diesem Ausschuss sollte dies anders sein, wurde im Vorfeld angekündigt. Doch von diesem Vorsatz ist nach wenigen Sitzungen nicht mehr viel übrig geblieben.
Insbesondere die CDU und ihr Obmann Jörg Michael Müller treten streitlustig auf. Immer wieder beantragte Müller in den Sitzungen einen kurzen Ausschluss der Öffentlichkeit, um hinter verschlossenen Türen andere Parteien zu kritisieren und ihre Fragen aus formalistischen Gründen abzulehnen. Für die hessische CDU geht es um viel: Seit Jahren steht das von ihnen geleitete Innenministerium unter der Führung von Peter Beuth in der Kritik wegen seines Umgangs mit der extremen Rechten. Doch im Gegensatz zu den anderen Parteien scheint die CDU zumindest eine klare Strategie zu haben: Man bekommt den Eindruck, es gelte insbesondere Vorwürfe nach Fehlern der hessischen Behörden abzutun. Wenn Fehler geschehen seien, ließen diese sich entweder in einem solchen Einsatz nicht vermeiden oder seien die Schuld von anderen.
Die Grünen, die seit 2014 gemeinsam mit der CDU in Hessen regieren, wirken dagegen unscheinbar. Ihre Fragen weichen nicht von der Niemand-ist-Schuld-Linie der CDU ab. Das strategische und zänkische Auftreten der CDU ist umso wirksamer angesichts der Opposition im Ausschuss. Der Linkspartei gelingt es zwar ab und zu, Fragen so zuzuspitzen, dass Sachverständige und Zeug*innen eine klare Antwort geben mussten, wo sie sich vorher noch uneindeutig ausdrückten. Oft fragt die Obfrau Saadet Sönmez jedoch nur danach, ob Sachverständige ihre Einschätzung zu etwas teilen – dies kann dann bejaht oder verneint werden, doch ins Detail müssen die Sachverständigen dadurch nicht gehen. Ähnlich steht es um die zahnlose Befragungstaktik der SPD und deren Obfrau Heike Hofmann.
Die AfD-Abgeordneten scheinen zu wissen, dass sie im Ausschuss nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren haben. Immer wieder wurden in Hanau auf Demonstrationen Transparente mit der Aufschrift »AfD hat mitgeschossen« gezeigt. Hayrettin Saraçoǧlu, Bruder des ermordeten Fatih Saraçoǧlu, machte im Ausschuss die Hetze der AfD gegen Shisha-Bars mitverantwortlich für den Anschlag. Und so versuchen die AfD-Abgeordneten, möglichst unscheinbar aufzutreten. Als ihr Abgeordneter Dirk Gaw in seinen ersten Worten im Ausschuss vom Täter als einem »psychisch Kranken« sprach und direkt auf Twitter kritisiert wurde, die Ideologie ausgelassen zu haben, betonte die AfD wenig später ausdrücklich die rassistische Ideologie des Täters und überwarf sich fast mit Beileidsbekundungen für die Angehörigen. Kein Verdacht soll wohl aufkommen, dass die AfD und den Täter, der privat Sympathien für die AfD geäußert hat, irgendetwas eint.
Was bei all diesen eher Fatalismus verursachenden Umständen doch Mut macht, ist das ungebrochene Engagement von Angehörigen und Aktivist*innen: Angehörige der Opfer konnten durchsetzen, dass Sitzplätze für sie oder Stellvertreter*innen im Ausschuss zu Verfügung gestellt werden. Zu jeder öffentlichen Sitzung hält zudem die Initiative 19. Februar zusammen mit antifaschistischen und antirassistischen Gruppen aus dem Rhein-Main-Gebiet eine Mahnwache in unmittelbarer Nähe des Landtags ab. Dort informieren sie Passant*innen, geben Journalist*innen Interviews und fordern weiterhin Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen.