Die Dritte Welt als globale Alternative
Die Versuche antikolonialer Aktivist*innen, eine Weltordnung jenseits der Blockkonfrontation zu entwickeln, bildeten eines der letzten internationalistischen Projekte des 20. Jahrhunderts – was wurde daraus?
Von Robert Heinze
Kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hielt der Botschafter Kenias, Martin Kimani, bei den Vereinten Nationen eine Rede auf der außerordentlichen Sitzung zu Russlands Entscheidung, die Republiken Donezk und Luhansk anzuerkennen. Darin stellte er zwei Modelle nationaler Selbstbestimmung einander gegenüber: das ethnische Modell, das er Russland vorwarf zu verfolgen, und ein »pragmatisches« Modell, das seiner Ansicht nach die afrikanischen Nationen in der Dekolonisierung übernommen hatten: die ihnen aufgezwungenen Grenzen anzuerkennen, um Kriege zu vermeiden, aber gleichzeitig ökonomische, politische und legale Integration auf kontinentaler Ebene zu verfolgen.
Kimani bezog sich damit auf die ursprünglichen Ziele der Organisation of African Unity (OAU), der Vorläuferorganisation der African Union (AU). Während viele seinen Einwurf und den darin enthaltenen Vergleich des postkolonialen mit dem postsozialistischen Raum feierten, kritisierten andere die »Heuchelei« dieses Vertreters einer Regierung, die selbst seit Jahren im Zuge des Anti-Terror-Einsatzes regelmäßig die Grenzen Somalias und des Sudan verletzt. Der kenianische Journalist Patrick Gathara ging weiter in seiner Kritik: die OAU selbst sei von Beginn an ein Projekt afrikanischer Eliten gewesen, die mehr an der Kontinuität kolonialer Verhältnisse interessiert waren als an wirklicher Dekolonisierung.
Diese Diskussion verweist auf die grundsätzliche Ambivalenz eines der letzten internationalistischen Projekte des 20. Jahrhunderts, nämlich die Versuche von Politiker*innen, Aktivist*innen und Intellektuellen, ausgehend von internationaler Koordination und Organisation der unabhängigen Nationalstaaten in der Dritten Welt, eine alternative Weltordnung jenseits der Blockkonfrontation und des ungleichen Tauschs zu entwickeln. Wenn wir uns, wie es Nelli Tügel in ak 680 forderte, mit der Frage nach den Grundlagen linker Weltpolitik jenseits von Appellen an etablierte diplomatische und völkerrechtliche Institutionen auseinandersetzen wollen, lohnt es sich, die Entwicklung eines klassenbasierten linken Internationalismus zum national gerahmten Antiimperialismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verfolgen. Es geht dabei nicht nur um interne Entwicklungen der internationalen Linken, sondern auch um die Zwänge von außen, denen sie sich in jeweils neuen historischen Konjunkturen ausgesetzt sahen. Dabei zeigt die Perspektive von Kommunist*innen aus der Dritten Welt, wie schwierig es für Internationalist*innen wurde, jenseits des Nationalstaats zu ag(it)ieren. Vor allem diejenigen, die in der Komintern oder in einer der antiimperialistischen Organisationen in ihrem Umfeld – etwa Münzenbergs Liga gegen Imperialismus – aktiv gewesen waren, sahen sich nach 1945 mit neuen Realitäten konfrontiert und mussten überlegen, wie sich in einer Welt der Nationalstaaten internationalistische Modelle politischer Organisation aufrechterhalten ließen.
Den antikolonialen Moment verpasst
Die linken Debatten um das Recht auf nationale Selbstbestimmung, das zuerst in den »14 Punkten« des US-Präsidenten Woodrow Wilson am Ende des Ersten Weltkrieges formuliert worden war, begannen mit den auf dem 2. Kongress der Komintern vorgestellten »Thesen zur nationalen und kolonialen Frage«. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich viele antikoloniale Aktivist*innen endgültig von Wilsons Modell losgesagt, nachdem ihnen klar geworden war, dass seine Version der »nationalen Selbstbestimmung« zuallererst für die osteuropäischen Länder gelten sollte, die aus den Trümmern der europäischen Imperien hervorgegangen waren, und gar nicht für die existierenden Kolonien in Asien und Afrika. Die Debatte zwischen Lenin und dem indischen Kommunisten Manabendra Nath Roy, die dem Entwurf der Thesen der Komintern voranging, verweist dabei auf den grundsätzlichen Widerspruch, der die antikoloniale Bewegung bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg prägte. Lenin war der Ansicht, dass im Zuge der Entwicklung der Kämpfe Kommunist*innen zunächst mit den bürgerlich-nationalistischen Bewegungen zusammenarbeiten sollten. Roy bestand darauf, dass diese Zusammenarbeit höchstens taktisch und zeitlich begrenzt sein könne und revolutionäre Massenbewegungen letztendlich nur außerhalb der nationalistischen Organisationen entstehen könnten.
Die Entwicklung der Komintern enttäuschte viele ihrer antikolonialen Mitglieder. Während der Invasion Äthiopiens durch das faschistische Italien 1935 erreichte die weltweite antikoloniale Bewegung einen ungeahnten Aufschwung. Aktivisten wie W.E.B. DuBois, C.L.R. James oder George Padmore radikalisierten sich und gaben jeden Glauben daran auf, den Völkerbund als Institution für die antikoloniale Sache nutzen zu können. Gleichzeitig aber verpasste die Komintern laut C.L.R. James, die auf europäische Volksfronten fokussiert war, die Gelegenheit, in die Bresche zu springen. Der antikoloniale Moment des Abessinienkriegs, so James, hätte gemeinsam mit revolutionären Konjunkturen wie in Frankreich und Spanien und unter aktiver Koordination der Komintern eine Möglichkeit geboten, eine internationale Massenbewegung aufzubauen und die »Heuchelei« der den Völkerbund dominierenden imperialistischen Staaten und ihrer zahnlosen Sanktionspolitik offenzulegen. Die Komintern aber entschied sich, gegen den Faschismus auf die Volksfrontstrategie zu setzen, die eine Kooperation mit imperialistischen Mächten in Europa erforderte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es für jede antikoloniale Politik darauf an, sich auf den Nationalstaat als Gefäß für Souveränität zu beziehen, denn vor den Vereinten Nationen konnten nur Nationalstaaten als unabhängige Einheiten anerkannt werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sahen sich diese antikolonialen Aktivisten, darunter Kwame Nkrumah, Ho Chi Minh, Jomo Kenyatta, Eric Williams und andere, die später die erste Generation postkolonialer Staatschefs werden sollten, mit einer neuen globalen Realität konfrontiert. Mit den Vereinten Nationen (UN) hatte sich nicht nur das Völkerbundmodell internationaler Organisation endgültig etabliert. Von nun an kam es für jede antikoloniale Politik darauf an, sich auf den Nationalstaat als Gefäß für Souveränität zu beziehen, denn vor den Vereinten Nationen konnten nur Nationalstaaten als unabhängige Einheiten anerkannt werden. Prominente antikoloniale Aktivist*innen kehrten aus den Metropolen in ihre Heimatländer zurück, in denen ebenfalls rückkehrende Soldaten, streikende Arbeiter*innen und revoltierende Bäuer*innen gemeinsam mit lokalen bürgerlichen Vereinen die Basis für die bald gegründeten nationalistischen Parteien bildeten. International entwickelten sie als zentrale Strategie die Durchsetzung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung als ein Menschenrecht.
Neue Internationale Wirtschaftsordnung
Dabei behielten die linken Antikolonialist*innen ihren globalen Horizont immer bei. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung für die Kolonien als Menschenrecht war zuerst auf den panafrikanischen Konferenzen der 1940er Jahre gefordert worden und wurde zum Kern des antikolonialen Aktivismus; die Perspektive selbst blieb aber international und solidarisch. Die UN war notwendiger Raum der politischen Aktivität, aber die politischen Entwürfe wiesen darüber hinaus. Denn in einer trotz Dekolonisierung weiterhin imperialistischen Welt, in der Abhängigkeiten politischer und vor allem ökonomischer Art bestehen blieben, hatte die nationale Selbstbestimmung einen globalen Kampf gegen den Imperialismus und die Entwicklung alternativer Weltordnungsmodelle zur Voraussetzung. Gleichzeitig sahen sich Kommunist*innen wie der Ökonom Samir Amin mit dem Problem konfrontiert, in bürgerlich-nationalistischen Strukturen zu arbeiten, die aber im Zuge der ungleichen Position ihrer Nation im Weltsystem versuchten, entwicklungspolitisch progressive Politiken zu entwickeln.
Politisch konkret wurde das Projekt, den Nationalstaat als Ausgangspunkt für einen globalen emanzipatorischen Aktivismus zu nutzen, in der Konferenz von Bandung und ihren Nachfolgeprojekten, der Blockfreien Bewegung und der Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung (NIWO). Alle drei dienten der Selbstorganisation der Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika, die sich selbst als Dritte Welt bezeichneten. Dieser Begriff, zuerst geprägt von einem französischen Soziologen, erhielt Bedeutung nicht nur als Alternative zu den »zwei Welten« der Blöcke im Kalten Krieg, sondern auch als Anspielung auf den »Dritten Stand«, die Klasse, von der die französische Revolution ausging. Die sich selbst so bezeichnenden Staaten und Bewegungen beriefen sich also nicht auf eine Hierarchie, sondern auf globale Alternativen und revolutionäre Dynamiken.
Schon Manabendra Nath Roy hatte darauf hingewiesen, dass im Kontext kolonialer Ausbeutung, die in den imperialistischen Zentren materielle Zugeständnisse an die Arbeiter*innen ermöglichte, das revolutionäre Subjekt in den Kolonien zu suchen sei. Wie James’ Kritik zeigt, hatte die Komintern das zu wenig berücksichtigt. Bandung und die Blockfreie Bewegung erneuerten diese Strategie, verbanden sie aber mit diplomatischen Missionen, Koordination in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen. Die nationale Selbstbestimmung wurde so zum strategischen Hebel, um mehr Einfluss auf globaler Ebene durch gemeinsames Handeln in der UN-Generalversammlung zu erlangen. Die »Bandung-Ära« war den Worten von Samir Amins nach der Versuch zu zeigen, dass die Bourgeoisien der Dritten Welt entgegen der Kritik von Seiten der Kommunist*innen und Maoist*innen nicht notwendig »Kompradoren« (d.h. abhängig von den Bourgoisien der kapitalistischen Zentren) waren, sondern an der Spitze eines national-populistischen hegemonialen Blocks gegen den »ungleichen Tausch« im kapitalistischen Weltsystem vorgehen konnten und die progressive Entwicklung der Dritten Welt ermöglichen. Deswegen ließen sich kommunistische und sozialistische Staatschefs wie Tito oder Castro, Nyerere und Michael Manley ebenso wie marxistische Intellektuelle wie Amin oder Walter Rodney auf die Zusammenarbeit mit Nationalisten wie Nehru oder Nasser ein.
Das wichtigste Ergebnis dieser Koordination war der Versuch, eine Neue Internationale Wirtschaftsordnung (NIWO) zu etablieren. Bereits Kwame Nkrumah hatte kurz nach der Unabhängigkeit Ghanas festgestellt, dass politische Unabhängigkeit nichts wert war, wenn die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von den ehemaligen Kolonialmächten weiter bestanden. Die Dependenztheorie, die diese Abhängigkeitsverhältnisse analysierte und Rezepte für die Loslösung der neuen Staaten aus ihnen entwickelte, wurde zum wichtigsten Ansatz zur Entwicklung politischer Strategien. Versuche, diese Strategien auf nationaler Ebene umzusetzen, waren allerdings begrenzt; insbesondere das von den Dependenztheoretiker*innen empfohlene »delinking«, die Abkopplung von internationalen Handelsströmen zum Zweck des Aufbaus heimischer Produktion, konnte nicht ohne horizontale Kooperation im Rahmen der Dritte-Welt-Solidarität erreicht werden. Kwame Nkrumah hatte zu diesem Zweck eine Föderation der afrikanischen Staaten nach amerikanischem Vorbild verfolgt; ein Ergebnis davon war die zunächst panafrikanisch und also auf solidarische Zusammenarbeit ausgerichtete OAU.
Ziel der NIWO, vor allem verfolgt von Julius Nyerere in Tansania und Michael Manley in Jamaika, war es, diese Kooperation in die Vereinten Nationen zu tragen und völkerrechtliche Standards zu etablieren, die eine gerechtere wirtschaftliche Weltordnung absichern sollten. Vor allem Nyerere verband diese globale Strategie mit einer autarken, zunächst auf die Reorganisation des Agrarsektors und auf gerechte Landverteilung fokussierten nationalen Entwicklungsstrategie. Darin stand er den Dependenztheoretikern nahe; so lud er unter anderem Giovanni Arrighi und Walter Rodney an die Universität Dar es Salaam ein, um die historische Entwicklung und Kontinuität kolonialer Abhängigkeiten zu erforschen (Rodney schrieb dort Teile seines berühmten Werks »How Europe underdeveloped Africa«).
Der Nachhall der »Globalisierung der Kämpfe« ist bis heute zu spüren.
Nyereres »Arusha-Erklärung«, die diese Strategie programmatisch ausformulierte, wurde von C.L.R. James während eines Aufenthalts an der Universität von Dar es Salaam freundlich, aber skeptisch begrüßt: »It is a fine statement of good intentions, but I have seen many statements of good intentions!« (Es ist ein gutes Statement mit guten Absichten, aber ich habe viele Statements mit guten Absichten gesehen!) Diese Haltung nahmen auch viele andere Marxist*innen der Dritten Welt ein. Samir Amin und die Dependenztheoretiker*innen kritisierten das Projekt der NIWO als reformistisch; letztendlich war sie stärker auf das sozialdemokratische Ideal einer »Wohlfahrtswelt« des schwedischen Ökonomen Gunnar Myrdal ausgerichtet als auf den radikalen Schnitt, den Amins »Delinking«-Strategie forderte.
Das Scheitern von Bandung
Amin hielt dennoch an der Strategie von Bandung fest. Die Spannungen zwischen radikalem Anspruch und reformistischer Taktik wie auch die Spannungen zwischen den kommunistischen und nationalistischen Regierungen innerhalb der Bewegung konnten aber nicht langfristig überbrückt werden. Die horizontale, solidarische Zusammenarbeit in den Organisationen der Blockfreien Bewegung geriet unter Druck, als die in der OPEC organisierten ölfördernden Länder – alle auch Teil der Blockfreien Bewegung – den Ölpreis entgegen der Erwartung und trotz intensiver Verhandlungen in gemeinsamen Institutionen wie der OAU und der Blockfreien Bewegung nicht für andere Länder der Dritten Welt reduzierten. In der Folge der von der Ölpreiskrise ausgelösten Weltwirtschaftskrise fielen die Preise für Rohstoffe wie z.B.für Kupfer, von denen die exportorientierten Wirtschaften in der Dritten Welt weiterhin abhängig waren. Sie mussten Schulden aufnehmen und kamen so zu Beginn der 1980er Jahre in die Schuldenkrise. Diese wiederum ermöglichte die Gegenoffensive über Institutionen wie den IWF und die Weltbank, die die Versuche des Delinking, der staatlichen, sozialistisch orientierten Wirtschaftsplanung und der NIWO mit den Strukturanpassungsprogrammen zurückdrängten.
Das Scheitern von Bandung kann so als Bestätigung der von Nelli Tügel angeführten Warnung Luxemburgs angesehen werden, hat aber ebenso mit den historischen Konjunkturen zu tun, in denen die damit verbundenen Projekte stattfanden. Wie Samir Amin feststellte, waren die in dieser Zeit entwickelten quer zu Blockkonfrontation und ausbeuterischen »Nord-Süd-Beziehungen« entstandenen »Süd-Süd«-Solidaritäten, wie sie von Castros Kuba oder den »frontline states« des Südlichen Afrika im Kampf gegen die Apartheid geknüpft wurden, Teil einer »Globalisierung der Kämpfe«, deren Nachhall auch heute noch zu spüren ist und – wie unvollkommen auch immer – in Projekten wie den Weltsozialforen wieder aufgegriffen wurde. Eine diplomatische Strategie mag in bestimmten historischen Konjunkturen notwendig sein; sie braucht aber immer eine Sensibilität für die Stellung der jeweiligen Nationen im globalen Kapitalismus und für die Nationalstaaten als Terrain sozialer Kämpfe, die letztlich als Subjekt ins Zentrum gestellt werden müssen.