»Da fehlte nur noch die Fackel«
Chana Dischereit über Diskriminierung von Roma auf der Flucht, uralte Ressentiments und deutsche Erinnerungslücken
Interview: Nelli Tügel
Etwa 400.000 Roma leben in der Ukraine, es mehren sich Berichte über Fälle von Diskriminierung auf der Flucht und Ausgrenzung aus der Geflüchtetenhilfe. Auch am Bahnhof in Mannheim kam es zu einem antiziganistischen Vorfall. Chana Dischereit vom Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, der die Betroffenen vertritt, spricht über den Vorfall, über die Lage von Roma in der Ukraine und fehlendes historisches Bewusstsein.
In Mannheim kam es am 23. März zu einem antiziganistischen Vorfall – was ist dort passiert?
Chana Dischereit: An diesem Abend waren mehrere Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, am Bahnhof in Mannheim angekommen. Sie wurden von ehrenamtlichen Helfer*innen in Empfang genommen. Die betroffenen Familien, etwa 22 Personen, suchten dann die Räumlichkeiten der Deutschen Bahn auf, die diese für Geflüchtete aus der Ukraine zur Verfügung stellt und die das Deutsche Rote Kreuz betreut. Dort gibt es etwas zu Essen, zu Trinken und auch Betten zum Übernachten, weil viele Geflüchtete spätabends erst am Bahnhof ankommen. Auch die betroffenen Personen kamen am späten Abend in Mannheim an. Schon als sie auf dem Weg zu den DB-Räumlichkeiten waren, wurde den sie begleitenden Bahnhofshelfer*innen gesagt, dass die Räume geschlossen seien – was sich als falsch herausstellte. Die erschöpften Menschen konnten sich hinsetzen, woraufhin sich eine Diskussion mit dem DB-Sicherheitspersonal darüber entwickelte, ob die geflüchteten Roma sich in den DB-Räumlichkeiten aufhalten dürften. Es wurde unter anderem behauptet, Männer seien in dem Raum nicht zugelassen, was nicht stimmt, wie die Bahn uns im Nachhinein bestätigt hat. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich ohnehin auch andere geflüchtete Männer im Raum. Und während der Auseinandersetzung kamen weitere, männliche Geflüchtete in den Raum, die weder kontrolliert noch angehalten wurden.
Zeug*innen haben uns berichtet, dass in der Auseinandersetzung mit dem DB-Sicherheitspersonal Sätze gefallen sind wie: »Solche Menschen kommen hier nicht rein.« Es wurde sich darauf bezogen, dass in der Woche davor etwas von den Essensvorräten geklaut worden sei, von »genau diesem Klientel«. Die DB-Sicherheit gab intern bei der Anfrage nach Verstärkung und an die Bundespolizei, die sie ebenfalls dazurief, weiter, dass es sich nicht um ukrainische Geflüchtete handele. Die Bundespolizei kontrollierte dann die Ausweise, mit denen alles in Ordnung war.
Dennoch baute sich DB-Sicherheitspersonal am Ort auf, eine Person der DB-Sicherheit hatte einen Dobermann-Hund dabei, aus privaten Gründen, wie die DB-Sicherheitsleitung am Tag darauf im internen Gespräch mit uns als Verband und den Bahnhofhelfer*innen erklärte und wofür es auch eine Entschuldigung gab. In dem Gespräch sagten die Verantwortlichen der Bahnhofsleitung selbst, da habe »nur noch die Fackel« gefehlt – sie sind sich also bewusst, was für ein bedrohliches Bild das Personal da abgegeben hat. Nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Bahnhofshelfer*innen waren davon verängstigt, auch noch als ich sie am Tag danach getroffen habe.
Hat sich die Deutsche Bahn inzwischen geäußert?
Die Bahn hat sich öffentlich für »Missverständnisse« entschuldigt – die DB-Sicherheit und das DRK vor Ort seien sich nicht einig gewesen, ob für so viele Personen Hotelgutscheine ausgestellt werden könnten. Das ist allerdings die Regel: Wenn der Raum voll ist, dann werden den Geflüchteten Hotelgutscheine zur Verfügung gestellt. In der Tat hat uns ein Bahnhofshelfer berichtet, dass es auch eine Diskussion um die Hotelgutscheine für die betroffenen Geflüchteten gab, da wurde dann gesagt: »Wer soll das bezahlen?«
Chana Dischereit
ist Wissenschaftliche Referentin für Politik und Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg.
Wie ging es an dem Abend für die Betroffenen weiter?
Sie wurden noch am selben Abend zur Erstaufnahmestelle nach Heidelberg gebracht – einer der DB-Sicherheitsleute soll das kommentiert haben mit den Worten: »Zug nach Heidelberg: Tschüss!«
Wie geht es den Betroffenen jetzt – steht ihr weiter in Kontakt?
Ja, wir stehen in Kontakt und wurden von ihnen bevollmächtigt, ihre Rechte zu vertreten. Es geht ihnen den Umständen entsprechend: Sie machen sich große Sorgen um zurückgebliebene Familienmitglieder in der Ukraine. Auch haben sie von weiterer Diskriminierung auf der Flucht berichtet, etwa davon, dass sie in der Ukraine beim Versuch, die Grenze zu überschreiten, von anderen Geflüchteten nach hinten in der Schlange gedrängt wurden.
Was weißt du über die Lage von Angehörigen der Minderheit in der Ukraine selbst?
Nicht anders als in Russland gibt es in der Ukraine eine starke rechte Szene – gerade 2018/19 kam es gehäuft zu antiziganistischen Übergriffen, nicht nur auf Einzelpersonen, sondern auch auf ganze Wohnblöcke. Nicht überall in der Ukraine gibt es solche Übergriffe, das Bild ist also unterschiedlich. In der ukrainischen Armee und territorialen Selbstverteidigungen kämpfen derzeit tausende Roma gegen die russische Invasion, Roma-Organisationen leisten vor Ort in der Ukraine Hilfe – nicht nur für Roma, sondern für alle Menschen, die Bedarf haben. Insgesamt leben etwa 400.000 Roma in der Ukraine, wobei zehn bis 20 Prozent keine aktuellen Papiere besitzen oder nur alte, sowjetische Pässe, was Probleme auf der Flucht nach sich zieht. Im Zusammenhang damit kam es gehäuft dazu, dass Personen daran gehindert wurden, das Land zu verlassen – das wird intensiv beobachtet vom European Roma Rights Center. Für Deutschland ist bisher nicht geklärt, wie mit Roma umgegangen wird, die keine Papiere besitzen. Dass es Menschen ohne Papiere gibt, stachelt natürlich auch wieder Vorurteile an, dass Roma sich Leistungen erschleichen wollen.
In der Bild-Zeitung wurde in einem hetzerischen Text über eine Geflüchtetenunterkunft in München aus der Ukraine geflüchteten Roma abgesprochen, »echte ukrainische Flüchtlinge« zu sein, obgleich sie Pässe besaßen, verbunden mit der Unterstellung, dass sich Menschen Leistungen erschleichen würden, die ihnen nicht zustünden. Dieselben Unterstellungen spielten bei dem Vorfall in Mannheim eine Rolle – hast du Sorge, dass das noch zunehmen wird?
Ja sicher, wir sind besorgt. Zumal wir ja erst am Anfang stehen, die Zahl der geflüchteten Menschen wird steigen. Wenn es Engpässe bei der Versorgung gibt, wird auch Diskriminierung darum herum zunehmen. Helfer*innen geraten an ihre Grenzen und greifen besonders in Stresssituationen auf antiziganistische Vorurteile zurück. Das steckt ja schon in den Vorfällen, über die wir reden, und das hören wir auch aus anderen Ländern, die Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen haben, etwa dass Helferinnen keine Lebensmittel an geflüchtete Roma ausgeben und ihnen unterstellen, sie seien nur da, weil es etwas umsonst gibt. Dass Roma sich etwas erschleichen oder stehlen wollen, ist ein ganz altes antiziganistisches Ressentiment. Sie werden als Kriegsflüchtlinge nicht erkannt – sondern als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge.
Hinzu kommt, dass die spezielle Situation nicht verstanden wird, die dazu führt, dass es eben tatsächlich auch Personen gibt, die keine Papiere haben und zwar gerade aufgrund der systematischen Diskriminierung und der Geschichte. Auch in Deutschland wurden Sinti und Roma übrigens nach dem Krieg Papiere verweigert, sie wurden als staatenlos betrachtet.
Diese Vorfälle zeigen auch, wie wenig historisches Bewusstsein es bezüglich der deutschen Verbrechen an Roma gibt. Dabei ist gerade die Ukraine ein Ort, an dem die Deutschen besonders schrecklich gewütet haben, während des 2. Weltkrieges wurden nicht nur 1,6 Millionen ukrainische Jüdinnen und Juden in der Ukraine ermordet, sondern auch viele Roma.
Der Völkermord an den Sinti und Roma wurde ja erst vor 40 Jahren, gerade war der Jahrestag, in der Bundesrepublik anerkannt – darüber, dass es ihn gab, gibt es nur wenig Wissen und Bewusstsein. Darüber, was in deutschem Namen in Osteuropa passiert ist, herrscht ein noch größeres Unwissen. In der neueren Forschung kommt das aber durchaus vor: In der Ukraine etwa wurden bei Massenerschießungen Jüdinnen und Juden sowie Roma gemeinsam durch SS und andere Einheiten ermordet. Es gab auch Widerstand: Die Krimtataren, die heute unter russischer Repression leiden, haben muslimische Roma systematisch versteckt und so gerettet. Verschiedene Initiativen arbeiten an dieser Erinnerung, so entsteht derzeit eine Enzyklopädie des Völkermordes an den Sinti und Roma Europas, ein anderes Beispiel ist die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die auch das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin betreuen, und hier sehr aktiv sind.
Was kann in den kommenden Wochen getan werden, um zu verhindern, dass Roma von der Geflüchtetenhilfe ausgegrenzt werden?
Momentan gehen wir viel in Gespräche mit den Einrichtungen, den Kommunen und dem Land und versuchen zu sensibilisieren und Hilfe anzubieten – auch bieten wir geflüchteten Ukrainer*innen selbst praktische Hilfe an, allen, nicht nur Roma. Bald werden auch weitere Fragen auf uns zukommen: Nach der Anerkennung des Kriegsflüchtlingsstatus kommen Zugang zu Wohnung, Arbeitsmarkt und vieles mehr.