Mehr Geld, mehr Waffen
Im Windschatten des Ukraine-Krieges wird das Militär aufgerüstet. Ein Überblick
Von Jürgen Wagner
Der russische Krieg gegen die Ukraine hat hiesigen Militarisierungsbestrebungen massiven Rückenwind verliehen. Dazu gehören unter anderem der massive Ausbau der Nato-Militärpräsenz in Osteuropa, der Aufbau einer neuen EU-Eingreiftruppe und die größte Erhöhung des Bundeswehretats in seiner Geschichte.
In der Nato-Russland-Grundakte von 1997 sagte die Nato bis auf weiteres zu, keine substanziellen Kampftruppen dauerhaft in Osteuropa zu stationieren. Im Prinzip hatte sich dies bereits mit dem Beschluss des Warschauer Nato-Gipfels von 2016 erledigt, vier Nato-Kampftruppen in Bataillonsgröße (1.000 bis 1.500 Soldat*innen) in den baltischen Staaten und in Polen zu stationieren.
Noch vor Ausbruch des Krieges kündigte Großbritannien an, das von ihnen geführte Nato-Bataillon in Estland um 900 Soldat*innen zu verstärken. Kurz darauf verkündete Deutschland den Ausbau seiner Truppen-Präsenz in Litauen, wo es das dortige Nato-Bataillon anführt, um 350 Soldat*innen. Bereits im Dezember letzten Jahres war zudem gemeldet worden, es werde eine zusätzliche Nato-Präsenz in Rumänien unter französischer Führung erwogen.
Bei ihrem Gipfeltreffen am 23./24. März beschlossen die Nato-Staats- und Regierungsoberhäupter dann eine Verdopplung der Nato-Kampftruppen in Osteuropa auf acht Kampfverbände: in Rumänien, der Slowakei, in Bulgarien und Ungarn. Nähere Details sind dazu bislang nicht bekannt – einzig über das Kontingent in der Slowakei ist bereits durchgesickert, dass dort wohl bis zu 2.100 Soldat*innen stationiert werden sollen.
Die direkten Nato-Stationierungen sind aber noch nicht alles: Hinzu kommen noch auf bilateraler Basis in Osteuropa befindliche Kontingente. Hier sind es vor allem die USA, die inzwischen allein nach Polen knapp 9.000 und nach Rumänien 2.000 Soldat*innen verlegt haben. Das alles dürfte allerdings erst der Anfang sein. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind spätestens für den Nato-Gipfel Ende Juni neue Ankündigungen für einen Ausbau der westlichen Militärpräsenz in Osteuropa zu erwarten. Bereits jetzt ist diesbezüglich zum Beispiel in der FAZ zu lesen, dass dort beschlossen werden könnte, die aktuell aus Bataillonen bestehenden Kampfverbände durch bis zu acht Brigaden (jeweils ca. 5.000 Soldat*innen) zu ersetzen.
EU: Eingreiftruppe ohne Konsensprinzip?
Nahezu zeitgleich mit der Nato hielt die Europäische Union am 24./25. März ein Gipfeltreffen ab. Dort wurde unter anderem ein »Strategischer Kompass« genanntes neues EU-Grundlagendokument verabschiedet, das die Richtung für die nächsten fünf bis zehn Jahre prägen soll. Mit den Arbeiten an dem Papier war bereits unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 begonnen worden, der erste Entwurf stammt aus dem vergangenen November. Unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde der Text ein letztes Mal außerplanmäßig überarbeitet. Vor allem rhetorisch wurden deutlich schärfere Töne gegenüber Russland eingefügt.
Wenig geändert wurde an den substanziellen Beschlüssen. Vielmehr wurde betont, dass es nach dem russischen Angriff und der »Rückkehr der Machtpolitik« umso erforderlicher geworden sei, das voranzutreiben, was Militarisierung genannt werden kann. Die »Sicherheit steht auf dem Spiel«, so die zentrale Aussage des »Strategischen Kompasses«. Deshalb müsse die Union »aufgrund der neuen strategischen Landschaft mit deutlich verstärkter Dringlichkeit und Entschlossenheit handeln«.
Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt. Im Gegenteil, diese Ausgaben sind ein Teil des Problems und nicht der Lösung.
Die mit Abstand prominenteste Forderung des Kompasses besteht im von Beginn an enthaltenen Plan, eine 5.000 Soldat*innen umfassende sogenannte Schnelle Eingreiftruppe aufzubauen. Die Aufstellung soll noch in diesem Jahr beginnen und bis 2025 zur vollen Einsatzfähigkeit führen. Vorgesehen ist die Truppe nicht nur für »Rettungs- und Evakuierungseinsätze«, sondern auch für die »Anfangsphase von Stabilisierungseinsätzen«, also Kriegseinsätze in einem »nicht bedrohungsfreien Umfeld«. Ergänzend dazu strebt die Union eine »rasche und flexiblere Beschlussfassung« an – eine freundliche Formulierung für den Versuch, das bislang gültige Konsensprinzip bei Beschlüssen zum Beginn von Militäreinsätzen in wesentlichen Teilen auszuhebeln.
Hierfür soll unter anderem auf das Mittel von sogenannten Ad-hoc-Koalitionen zurückgegriffen werden, die als Kleingruppen im Namen der EU Militäreinsätze durchführen sollen. Ergänzt werden soll dies um die Einführung von »konstruktiven Enthaltungen«, bei denen ein Beschluss nur dann nicht zustande kommt, sollten ihm mindestens ein Drittel der Mitgliedsstaaten, die mindestens ein Drittel der Unionsbevölkerung ausmachen, nicht zustimmen. Das bislang gültige Konsensprinzip wäre damit in einem wesentlichen Punkt faktisch ausgehebelt, und der Einfluss insbesondere von Deutschland und Frankreich würde erheblich steigen. Ob dies tatsächlich gelingen wird, ist noch offen. Gerade für kleine und mittelgroße EU-Mitgliedsstaaten ist das Konsensprinzip ein wesentliches Mittel, um überhaupt einen gewissen Einfluss auf die Entscheidungsfindung in der EU zu haben. Angekündigt wurde im »Strategischen Kompass« jedenfalls, bis 2023 über die praktischen Modalitäten zu entscheiden.
Außerdem sieht der Kompass in diesem Zusammenhang vor, ebenfalls bis 2025 die Kapazitäten der »Militärischen Planungs- und Führungsfähigkeit« so zu erweitern, dass es als EU-Hauptquartier Einsätze im Umfang von bis zu 5.000 Soldat*innen leiten kann. Auch die irreführend benannte Europäische Friedensfazilität soll gestärkt werden. Dabei handelt es sich um einen zwischen 2021 und 2027 mit 5,7 Milliarden Euro befüllten Topf, der außerhalb des EU-Haushaltes angesiedelt ist. Er soll die Aufrüstung befreundeter Akteure – wie nun etwa mit einer Milliarde Euro für die Ukraine – und die Teilfinanzierung von EU-Einsätzen gewährleisten. Die dahinterstehende Überlegung: Je mehr die Kosten für EU-Militäreinsätze über diesen Topf von allen Staaten – und nicht nur von jenen, die sich an einem Einsatz beteiligen – getragen werden, desto größer seien die »Anreize für die Kräfteaufstellung«.
Deutschland: Sondervermögen für die Bundeswehr
Von einer »Zeitenwende« sprach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg Ende Februar. Und in der Tat: Das, was er darin ankündigte und was Mitte März mit den Eckwerten für den Bundeshaushalt bis 2026 umgesetzt wurde, übersteigt alles, was bis kürzlich auch nur ansatzweise für möglich gehalten worden wäre.
Besonders dem unentwegt erweckten Eindruck, die Bundeswehr sei seit Jahrzehnten regelrecht kaputtgespart worden, gilt es, entschieden entgegenzutreten, bildet er doch den argumentativen Nährboden, um die jüngsten wahnwitzigen Erhöhungen des Etats zu rechtfertigen. Tatsächlich stieg der Militärhaushalt in den Jahren 2000 bis 2014 von (umgerechnet) rund 24 Milliarden Euro auf etwa 32,5 Milliarden Euro. Und danach ging es weiter, 2021 beliefen sich die Ausgaben für das Militär auf 46,9 Milliarden Euro. Für dieses Jahr waren ursprünglich 50,3 Milliarden Euro geplant. (Siehe auch ak 651)
Auch ohne die jüngste Finanzspritze ist es also absurd, wenn Heeresinspekteur Alfons Mais schreibt, die Truppe stehe wegen Geldmangels »mehr oder minder blank« da. Noch Anfang Februar dieses Jahres klaffte allerdings zwischen dem, was das Finanzministerium im Finanzplan bis 2026 für die Bundeswehr vorgesehen hatte und dem, was das Verteidigungsministerium demgegenüber als Mehrbedarf angemeldet hatte, eine gewaltige Lücke von 38 Milliarden Euro. Denn vor allem bei den Planungen für die Haushalte nach 2022 gingen die Vorstellungen von Finanz- und Verteidigungsministerium ganz erheblich auseinander, wie die Welt am Sonntag am 12. Februar berichtete. In einer ersten Reaktion hatte das Finanzministerium die Forderungen des Verteidigungsministeriums brüsk zurückgewiesen.
Doch dann kam Scholz mit seiner Regierungserklärung und ging darin weit über das hinaus, was sich die Bundeswehr in ihren kühnsten Träumen wohl erhofft hätte. Der Kanzler machte vor allem zwei gravierende Ankündigungen: erstens, dass der Militärhaushalt künftig mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) umfassen werde und zweitens, dass ein Sondervermögen im Umfang von 100 Milliarden Euro für die Truppe ausgelobt würde. Die ausgelobten zwei Prozent des BIP würden für das laufende Jahr ein Militärbudget von über 72 Milliarden Euro bedeuten. In den am 16. März vom Kabinett beschlossenen Eckwerten des Bundeshaushaltes 2022 und den Planungen bis 2026 bleibt es für dieses Jahr aber bei den geplanten 50,3 Milliarden Euro. Bis 2026 soll der reguläre Verteidigungshaushalt bei 50,1 Milliarden Euro jährlich eingefroren werden. Die sich ergebende Lücke zum Zwei-Prozent-Ziel soll über das Sondervermögen gefüllt werden. Zwar ist einiges zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unklar, aber mit einiger Sicherheit wird damit das Sondervermögen bereits 2025 oder allerspätestens 2026 aufgebraucht sein.
Zu diesem Zeitpunkt müsste also eine Erhöhung des offiziellen Militärhaushaltes wegen des vermutlich gestiegenen BIPs um rund 35 Milliarden Euro erfolgen. Und weil dann voraussichtlich die Schuldenbremse wieder gilt, würde das auf Kosten anderer Budgets erfolgen. Um es halbwegs gerichtsfest hinzubekommen, soll das Sondervermögen grundgesetzlich verankert werden, was allerdings nur mit den Stimmen der CDU zu machen ist. Deren Chef, Friedrich Merz, hat bereits angekündigt, seine Partei würde dies nur durchwinken, wenn auch das Zwei-Prozent-Ziel im Grundgesetz verpflichtend als Untergrenze des Verteidigungsbudgets festgeschrieben werde.
Geld gegen Sicherheit?
Ganz abgesehen von der Idiotie, die Höhe der Militärausgaben und damit einen wie auch immer ermittelten sicherheitspolitischen Bedarf von der Höhe des Wirtschaftswachstums abhängig zu machen, wären die Folgen gravierend, sollte sich die CDU durchsetzen: Zum einen wäre dann die erwähnte Erhöhung nach dem Aufbrauchen des Sondervermögens verpflichtend – und dementsprechend radikal müssten andere Etats noch weiter zusammengestrichen werden. Zum anderen hätte sich damit – abseits einer schweren Wirtschaftskrise – jede Chance auf eine Reduzierung der Militärausgaben erledigt, da die CDU einer neuerlichen Grundgesetzänderung niemals zustimmen würde.
Die Aufrüstung der Nato-Ostflanke läuft bereits seit vielen Jahren, sicherer gemacht hat sie niemanden und auch den jüngsten Krieg vermochte sie nicht zu verhindern. Ähnlich verhält es sich mit den immer weiter steigenden Militärausgaben: Nicht nur Deutschland und die EU, auch die Nato als Ganzes hat ihre Militärausgaben in den letzten Jahren bereits deutlich erhöht: Sie stiegen nach Nato-Angaben von 895 Milliarden US-Dollar (2015) auf 1174 Milliarden (2021). Demgegenüber sanken die russischen Ausgaben laut Military Balance von 65 Milliarden (2015) auf rund 62 Milliarden US-Dollar (2021). Die Nato-Militärausgaben sind also bereits heute über 18 Mal höher als die Russlands. Und selbst wenn man die unterschiedliche Kaufkraft mit einberechnet, geben die Nato-Staaten mehr als sechsmal so viel Geld für Militär aus als Russland. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt. Im Gegenteil, diese Ausgaben und die mit ihr zusammenhängende Politik sind ein Teil des Problems und nicht der Lösung.