»Die Linke im Westen muss umdenken«
Anmerkungen zum Krieg aus Kiew – ein Gespräch mit Taras Bilous
Interview: Jan Ole Arps
Wenn Linke weiter der Nato die Schuld für die russische Invasion geben, zeigen sie nur, dass sie die veränderte Situation nicht begriffen haben«, sagt Taras Bilous. Der Redakteur der linken ukrainischen Zeitschrift Commons hat kurz nach dem Beginn des Krieges einen Brief an die Linke im Westen verfasst. Darin kritisierte er, dass die Menschen in den osteuropäischen Staaten und ihre politischen Vorstellungen, aber auch der aggressive Imperialismus Putins für die auf die Nato fixierte Linke im Westen nicht zu existieren scheinen. Taras Bilous ist in Kiew geblieben und hat sich einer anarchistischen Gruppe angeschlossen, die Hilfstätigkeiten organisiert und eine eigene Verteidigungseinheit aufbaut. Im Interview berichtet er, wie sich seine politische Perspektive durch den Krieg verändert hat, welche möglichen Entwicklungen er sieht, und wo die Linke im Westen umdenken muss. Das Gespräch fand am 8. März statt. Übersetzt hat Oksana Dutchak, Soziologin mit Schwerpunkt auf Arbeits- und Geschlechterverhältnissen und ebenfalls Redakteurin bei Commons. Sie hat Kiew verlassen und hält sich nun im Westen der Ukraine auf.
Wo bist du, wie geht es dir? Kannst du deine aktuelle Situation beschreiben?
Taras Bilous: Ich bin in Kiew an einem einigermaßen sicheren Ort. Die ersten Tage des Krieges waren ein Schock. Ich war desorientiert und konnte überhaupt nichts tun. Ich habe dann versucht, mich den Landesverteidigungseinheiten anzuschließen, aber das ist im Moment gar nicht so leicht für Leute ohne Kampferfahrung wie mich. Jetzt bin ich in einer Freiwilligengruppe aus dem antiautoritär-anarchistischen Spektrum, die sich um humanitäre Hilfe kümmert und eine militärische Einheit unterstützt. Jetzt tue ich zusammen mit anderen also etwas Praktisches. Das hilft, mit der Situation klarzukommen.
Du kommst selbst eigentlich nicht aus dem Anarchismus.
Taras Bilous: Nein, aber das spielt im Moment keine Rolle mehr. Ich bin eigentlich aus einer politischen Organisation, die sich Sozialny Ruch, soziale Bewegung, nennt, und Redakteur bei der linken Zeitschrift Commons. Aber zu Beginn des Krieges war Sozialny Ruch sehr desorientiert – anders als die Anarchist*innen, die in normalen Zeiten ein größeres Organisierungsproblem haben. Aber in Zeiten wie diesen funktionieren sie besser.
Taras Bilous
ist Historiker, Aktivist der Gruppe Sozialny Ruch (Soziale Bewegung) und Redakteur bei der linken ukrainischen Zeitschrift Commons. Er ist im Donbas aufgewachsen, »in einer nationalistischen Familie«, wie er sagt. Ein Teil seiner Familie lebt nach wie vor dort.
Du hast seit Monaten vor einem russischen Angriff auf die Ukraine gewarnt. Hast du einen Krieg in diesem Ausmaß erwartet?
Taras Bilous: Nein, noch zwei Wochen vor dem Angriff habe ich gesagt, dass eine Invasion der ganzen Ukraine sehr unwahrscheinlich ist. Ich hatte eine Offensive Russlands im Donbas erwartet, aber keine komplette Invasion, wie wir sie jetzt erleben, weil ich dachte und weiterhin denke, dass das ein Desaster für Putin und sein Regime werden wird. Ein anderer ehemaliger Redakteur unserer Zeitschrift, Volodymyr Artyukh, erkannte viel früher, dass eine Großoffensive droht. Ich dachte ehrlich gesagt, er würde die Gefahr übertreiben. Ich habe erst verstanden, dass die Gefahr eines neuen Krieges wirklich groß ist, als das russische Außenministerium im Dezember einen Vertragsentwurf mit den USA für Sicherheitsgarantien durch den Westen veröffentlichte. Zu den Forderungen gehörte nicht nur, jede weitere Erweiterung der Nato auszuschließen, sondern auch, dass die Nato alle Truppen und Waffen abzieht, die in Ländern stationiert sind, die nach 1997 beigetreten sind. Auch Moskau wusste, dass diese Punkte unerfüllbar sind, drohte aber im selben Atemzug mit einer militärischen Antwort, falls sie ignoriert würden. Damit wurde klar, dass Putin keine Rückzugsszenarien mehr hat. Ich glaube, es gibt ein strukturelles Problem im linken Denken. Offensichtlich kann eine Analyse, die sich nur auf die »objektiven« ökonomischen Interessen konzentriert, die Ereignisse nicht hinreichend erfassen.
Was glaubst du, wie es jetzt weitergeht? Siehst du eine Möglichkeit, wie der Krieg beendet werden kann?
Taras Bilous: Man kann über den Krieg unter der Prämisse der Deeskalation nachdenken, und das tun viele Linke derzeit. Aber diese Frage war vor einem Monat relevant, jetzt ist sie es nicht mehr. Der Widerspruch zwischen dem, was die russische Regierung will, und dem, was die ukrainische Gesellschaft will, ist unüberbrückbar. Ich sehe nicht, welche Einigung möglich sein sollte. Der Widerstand in der Gesellschaft gegen die russische Invasion ist so groß, Selenskyj könnte, selbst wenn er wollte, zur Zeit keine Zugeständnisse an Russland durchsetzen, es wäre für die ukrainische Gesellschaft nicht akzeptabel. Es würde einen Guerillakrieg geben. Ich denke, der Krieg kann nur noch mit der Niederlage einer Seite enden.
Ich sehe nicht, welche Einigung möglich sein sollte. Der Krieg kann nur noch mit der Niederlage einer Seite enden.
In Deutschland hat der Krieg einen nationalen und militaristischen Sog entfacht. In der Ukraine, hören wir, nimmt der Nationalismus ebenfalls zu, rechte Einheiten sind schwer bewaffnet und sammeln Kampferfahrung. Kannst du das bestätigen? Wie wirkt sich das auf eure Situation aus?
Taras Bilous: Natürlich nehmen Nationalismus und antirussische Ressentiments zu. Das ist ein Problem, aber es hat auch nicht mit diesem Krieg begonnen. Wir sind seit 2014 damit konfrontiert. Ich habe die Hoffnung, dass die extreme Rechte nicht so stark von diesem Krieg profitiert, weil sie jetzt im Vergleich eine viel kleinere Rolle bei der Landesverteidigung spielt als 2014. Ich hoffe außerdem, dass, wenn der Krieg vorbei ist, Fragen nach sozialer Gerechtigkeit im Vordergrund stehen werden.
Was machen du und deine Genoss*innen jetzt? Welche Möglichkeiten gibt es für euch, aktiv oder überhaupt in Austausch zu bleiben?
Taras Bilous: Wir haben Internet und tauschen uns weiter in unserem Redaktions-Chat aus. Alle versuchen jetzt, irgendetwas zu tun. Die anarchistische Gruppe, in der ich nun aktiv bin, befasst sich vor allem mit militärischer Verteidigung und humanitärer Hilfe. Wir sind eine kleine Freiwilligengruppe, aber wir erhalten viel Unterstützung, auch aus dem Ausland: Geld, Material, alles mögliche. Selbst wenn Kiew vollständig eingekesselt und von der Versorgung abgeschnitten werden sollte, können wir noch lange weitermachen. Es gibt außerdem internationale Brigaden, also Freiwillige aus anderen Ländern, die nun in die Ukraine kommen.
Was bekommt ihr von der Situation in Russland und den Protesten dort mit?
Taras Bilous: Das verfolgen wir. Aber ich bin ehrlich gesagt etwas enttäuscht über das, was in Russland vor sich geht. Die Proteste sind nicht groß genug, um die Situation zu beeinflussen, die Unterstützung für den Krieg dagegen ist viel größer, als ich erwartet hatte.
Gehören die Antikriegsproteste in Russland nicht zu den wenigen Dingen, die Einfluss auf die weitere Entwicklung haben können?
Taras Bilous: Je länger der Krieg dauert, desto mehr Menschen in Russland werden sehen, was passiert: dass es sich um keine »Spezialoperation« handelt, sondern um einen groß angelegten Krieg, in dem Putin seine Soldaten verheizt.
Oksana Dutchak: Ich möchte ergänzen, dass ich pessimistischer bin. Ich denke auch, dass ein langer Krieg die politische Stabilität in Russland gefährden wird, aber nicht durch Widerstand von unten, sondern eher durch eine Spaltung in den russischen Eliten.
Taras Bilous: Ja, ich stimme zu. Allerdings wird auch die Enttäuschung in der russischen Gesellschaft mit zunehmender Dauer des Krieges wachsen, das kann sich auf die politische Dynamik in Russland auswirken.
Im Januar schriebst du, die Linke sollte nicht die Perspektive von Staaten einnehmen, sondern von den Interessen der Menschen ausgehen, insbesondere jener Menschen, die auf beiden Seiten am meisten unter dem Konflikt leiden. Das war vor dem Krieg. Hältst du an diesem Leitsatz fest? Was würde das in der aktuellen Situation bedeuten?
Taras Bilous: Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir uns an den Interessen der normalen Leute orientieren sollten. Aber die Situation hat sich fundamental verändert. Als ich den Artikel geschrieben habe, ging es vor allem um den Krieg im Osten des Landes. 2014, sogar noch kurz vor der Invasion, war die Situation im Donbas viel komplizierter als jetzt. Viele Menschen dort haben die separatistischen Bestrebungen unterstützt oder sich Hilfe von Russland erhofft. In der Situation war es wichtig, nach irgendeinem Kompromiss zu suchen. Heute sind nur noch sehr wenige Menschen für Russland, selbst in den Gebieten, die Russland nun kontrolliert. Stattdessen gibt es viel Widerstand gegen die Invasion. Das heißt nicht, dass es dort niemanden gäbe, der Russland unterstützt. Aber selbst viele, die vorher prorussisch waren, hassen Russland jetzt und fordern, dass die russische Armee abzieht. Aus globaler Perspektive ist ein Sieg der Ukraine bzw. eine Niederlage Russlands noch aus einem anderen Grund von großer Bedeutung: Nur so können wir verhindern, dass dieses Beispiel Schule macht.
Viele Linke im Westen machen immer noch den Fehler, diese Menschen nur aus der Perspektive der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland zu betrachten.
In deinem Brief an die Linke im Westen kurz nach Beginn der Invasion hast du die Fokussierung der hiesigen Linken auf die Nato kritisiert. Wie muss die Linke im Westen ihre Perspektive verändern, was muss sie über den postsowjetischen Raum besser verstehen?
Taras Bilous: Ich glaube, es sickert langsam durch, dass das Handeln Putins nicht allein als Reaktion auf die Politik des Westens zu verstehen ist, auch wenn es diese Haltung nach wie vor gibt. Was aus meiner Sicht noch nicht angekommen ist, ist die Einsicht, dass auch die Menschen in den Ländern zwischen dem Westen und Russland eine eigene politische Subjektivität haben und das Recht, über ihr Schicksal selbst zu entscheiden. Viele Linke im Westen machen immer noch den Fehler, diese Menschen nur aus der Perspektive der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland zu betrachten.
Oksana Dutchak: Ich möchte ein Beispiel ergänzen. Die Umfragen in der Ukraine zum Nato- oder EU-Beitritt wurden vor dem Krieg von vielen Linken im Westen herangezogen, als sie noch mehrheitlich gegen einen Beitritt ausfielen. Jetzt, wo die Bevölkerung in großer Mehrheit für einen Nato-Beitritt ist, werden die Umfragen nicht mehr erwähnt. Viele Linke im Westen zitieren solche Umfragen nur, wenn es in ihre Perspektive passt.
Taras Bilous: Ein weiteres Problem ist die Darstellung der Menschen, die jetzt in der Ukraine unter dem Krieg leiden, als reine Opfer. Das ist falsch. Viele Menschen leisten Widerstand. Diese Viktimisierung ist ein sehr verbreiteter Fehler. Sie zeigt sich auch in der linken Perspektive auf die Nato-Osterweiterung in den 1990 Jahren, die als ein Projekt der USA begriffen wird. Das blendet die Tatsache aus, dass sie auch unter dem Druck der Staaten Osteuropas zustande kam. Es war nicht einfach eine Initiative des Westens, sondern entsprach dem Interesse der Mehrheit der Menschen in den osteuropäischen Ländern. Das heißt nicht, dass die Linke im Westen die Nato-Osterweiterung unterstützen sollte. Aber sie muss verstehen, dass viele Menschen in Osteuropa eine Nato-Mitgliedschaft als Sicherheitsgarantie ansehen. Ich finde es sehr ernüchternd, dass linke Analysen zu diesem Prozess so viel schematischer und schwächer sind als die der liberalen Historikerin Mary Elise Sarotte, die in ihrem letztes Jahr erschienenen Buch »Not One Inch: America, Russia and the Making of Post-Cold War Stalemate« eine sehr gründliche und genaue Beschreibung der Nato-Osterweiterung in den 1990ern vorgelegt hat. Und ich habe auch den Eindruck, dass die Linke in ihren Positionen den Ereignissen oft weit hinterher hinkt.
Was meinst du?
Taras Bilous: Vielen Linken fällt es schwer, ihre Perspektive zu verändern. Das ist nachvollziehbar: Ihr habt bisher vor allem gegen Kriege protestiert, die im Interesse des Westens waren. Wir leben seit acht Jahren mit einem Krieg im Osten des Landes. Wir hatten also schon etwas Zeit umzudenken. Aber ich bin der Meinung, Linke müssen besser verstehen, dass sich Situationen sehr schnell ändern können. Wenn Linke weiter der Nato die Schuld für die russische Invasion geben, dann zeigen sie nur, dass sie die veränderte Situation nicht begriffen haben.
Im Moment sollten Linke sich dafür einsetzen, dass ihre Regierungen Druck auf Russland ausüben, den Krieg zu stoppen.
Was erwartest du von der Linken in Europa jetzt, gibt es aus deiner Sicht etwas sinnvolles zu tun?
Taras Bilous: Aktuell sollten Linke sich dafür einsetzen, dass ihre Regierungen Druck auf Russland ausüben. Das heißt nicht, dass sie alle Sanktionen unterstützen müssen, aber es ist wichtig, die Prioritäten zu klären. Im Moment hat es Priorität, Druck auf Russland auszuüben, den Krieg zu stoppen. Soziale Bewegungen sollten die Proteste gegen den Krieg unterstützen und Menschen, die flüchten müssen, helfen. Und was auch bereits passiert, ist materielle Hilfe. Anarchistischen Gruppen organisieren das, aber auch viele andere, das hilft. Wenn es um linke Parteien geht, denke ich auch, dass sie Schuldenstreichung für die Ukraine fordern sollten. Linke Parteien haben sehr unterschiedliche Positionen zu verschiedenen Aspekten des Krieges, aber ich denke, das wäre ein Punkt, auf den sie sich einigen könnten. Ich persönlich bin auch dafür, dass die westlichen Länder mehr Waffen liefern, inklusive Kampfflugzeugen, aber mir ist klar, dass das keine Forderung ist, auf die sich linke Parteien einigen könnten.
Haben die Ereignisse der letzten Wochen verändert, wie du über Politik nachdenkst?
Taras Bilous: Das Problem ist, dass fast niemand – auch nicht in der Ukraine oder Russland – diesen Krieg erwartet hat, obwohl es die Anzeichen gab. Auch weil es für Russland so riskant erscheint, haben wir einen Krieg dieser Größenordnung nicht erwartet. Selbst als ich geschrieben habe, dass der Krieg in Donbas eskalieren und Russland direkt intervenieren wird, haben viele das für unwahrscheinlich gehalten und gefragt: Was wäre denn Putins Interesse daran? In der Praxis lassen sich Entscheidungen von Politiker*innen oft nicht einfach ableiten aus den ökonomischen Bedingungen und Interessen, sondern sind auch durch ihre früheren Entscheidungen vorgeprägt. Für Linke wäre es wichtig, eine bessere situative Analyse zu entwickeln, die auch die Praxis der involvierten Akteure einbezieht, das, was wir im politischen Verhalten von Akteuren beobachten können – nicht nur, was wir gern beobachten möchten.