Der Westen im freien Fall
An starken Bewegungen in Westafrika werden auch geopolitische Akteure nicht vorbei kommen, wie Mali zeigt
Von Paul Dziedzic
In Malis Hauptstadt Bamako gehen die Menschen in den letzten Wochen regelmäßig zu Tausenden auf die Straße. Ziel ihres Zorns ist nicht wie vor zwei Jahren eine Zivilregierung, sondern die afrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und Frankreich. Erstere hatte am 9. Januar scharfe wirtschaftliche Sanktionen gegen Mali verhängt. Diese sahen unter anderem vor, alle Land- und Luftwege ins Land zu schließen, kommerzielle Transaktionen zu unterbinden, die Konten öffentlicher Unternehmen zu sperren und finanzielle Hilfen der ECOWAS einzustellen. Damit hatten sich die westafrikanischen Staaten erhofft, die vom Militär geführte Regierung dazu zu zwingen, den Übergang zu einer Zivilregierung zu beschleunigen – im Namen der Demokratie. Die Menschen in Mali sehen es aber anders, denn die Sanktionen treffen auch sie schwer. Was in der Rhetorik der ECOWAS legitim klingen soll, verkehrt sich ins Gegenteil.
Schon vor dem Putsch des Militärs im Mai 2021 waren die Menschen gegen die schlechte soziale und wirtschaftliche Lage auf die Straßen gegangen – und das nicht nur in Mali. Die Wirkungsmacht solcher Bewegungen und die Wut, die sich in ihnen entlädt, ist für die postkoloniale politische Klasse nicht ohne Gefahr. Zuletzt nutzten Militärs die Gunst der Stunde, um im Windschatten der Proteste unbeliebte Staatsführer abzusetzen. Das geschah nicht nur in Mali, wo schon 2019 und 2020 heftige Proteste das Land erschütterten, sondern auch in Guinea, wo der ehemalige Präsident Alpha Condé nach langen Protesten im September vom Militär abgesetzt wurde. Aus Sicht der Demonstrant*innen steckt hinter den Sanktionen der ECOWAS ein Klub von Staatsführern, von denen nicht wenige gerade an einer dritten Amtszeit feilen. Der Putsch in Mali – gefolgt von weiteren in Guinea und Burkina Faso vor wenigen Wochen – habe ihnen Angst eingejagt, nun würden sie versuchen, ihre eigene Haut retten. Der Aktivist Alassane Dicko sagte in Bezug auf die ECOWAS-Staatsführer und ihre diplomatischen Interventionen in Westafrika, dass es »nicht um echte Mediation geht, sondern darum, dass sich die Präsident*innen wechselseitig unterstützen, wenn sie mit Protesten seitens ihrer Bevölkerungen konfrontiert sind«.
Gemeinschaften wie die ECOWAS und ihre Verbündeten in Paris oder Berlin stellen sich immer wieder auf die falsche Seite.
Wirtschaftsgemeinschaften wie die ECOWAS und ihre Verbündeten in Paris oder Berlin stellen sich in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in westafrikanischen Ländern immer wieder auf die falsche Seite. Das ist kein Wunder, denn gerade Frankreich toleriert es nicht, wenn seine Hegemonie in Frage gestellt wird. Zu kaum einem anderen Kontinent hält das westeuropäische Land so viele Verbindungen wie zu Afrika. Einen Großteil seiner Atomenergie produziert Frankreich dank Uran aus Niger; milliardenschwere Unternehmen wie der französische Konzern Bolloré haben ein Monopol über die meist privatisierten Exporthäfen Westafrikas und vertreiben gerne mal Bäuer*innen für ihre Großplantagen. Zudem bindet die ehemalige Kolonialmacht ihre ehemaligen Kolonien durch die Gemeinschaftswährung CFA-Franc an sich, von deren Reserven mindestens 50 Prozent in Frankreich lagern und auf deren Verwaltung Frankreich großen Einfluss hat. Wenn die Menschen sich also gegen Ausbeutung und für eine Teilhabe an den Gewinnen des globalisierten Handels einsetzen, wenden sie sich meist auch gegen französische Interessen.
Françafrique werden nur Afrikaner*innen beenden
Diese postkolonialen Verflechtungen zwischen Frankreich und dem afrikanischen Kontinent haben auch einen berühmt-berüchtigten Namen: Françafrique. Der Begriff hat eine eindeutig negative Konnotation. Seit Generationen verspricht ein französischer Präsident nach dem anderen das Ende von Françafrique. Deutschland und die anderen europäischen Staaten lassen Frankreich indes walten und schwimmen in dessen Fahrwasser mit.
Die Empörung über eine militärisch geführte Regierung in Mali ist groß, anderswo nicht. Im Sudan zum Beispiel, wo das Militär mit kaum nennenswerten Sanktionen rechnen muss, obwohl die Bevölkerung dort seit Monaten gegen die blutige Militärherrschaft protestiert. Frankreich bestimmte auch lange Zeit, welche Machthaber im Falle von Putschen oder Umstürzen schützenswert sind und welche nicht. Umsonst gab es die Unterstützung Frankreichs nicht – so habe der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy Gelder von Muammar al-Gaddafi aus Libyen oder Omar Bongo aus Gabun für seinen Wahlkampf gerne angenommen. Der gleiche Sarkozy, der sich für eine Spritztour die Jacht des Milliardärs und Unternehmenschefs, Vincent Bolloré, lieh.
Nun, wo neue Akteure die internationale Bühne betreten, scheint sich die Situation jedoch zu ändern. Europäische Regierungen und die USA zeigen sich schon seit Ende letzten Jahres über eine militärische Kooperation Malis mit Russland empört. Sie selbst können zwar keine nennenswerten Erfolge im Kampf gegen islamistische Gruppen im Sahel vorweisen, sehen aber in Russland eine potenzielle Gefahr, obwohl Russland sich im gleichen Kampf als Verbündeter zur Verfügung stellt. Schnell hieß es, eine berüchtigte russische Söldnergruppe mit dem Namen »Wagner« sei im Lande und lasse sich mit Rohstoffen bezahlen. In Mali beeindruckt solche Kritik wenig. Viele haben die Auswüchse von Françafrique vor Augen und fragen: Wo ist der Unterschied?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beklagte wiederholt die »antifranzösische Stimmung« in vielen westafrikanischen Ländern und drohte abermals, die Truppen abzuziehen. Macron hatte registriert, dass auch die Staatsmänner in Westafrika gern mal gegen Frankreich austeilen, um im eigenen Land politisch Punkte zu sammeln. Es geht dabei nicht nur um Kritik am französischen Militäreinsatz. In Senegal hatten letzten Dezember überwiegend junge Menschen bei Protesten gegen die wirtschaftliche Situation auch französische Läden angegriffen. Der senegalesische Ökonom Ndongo Sylla sagte dazu: »Wenn Sie in Senegal Dinge sabotieren wollen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie französisches Eigentum treffen. Wir sind ein franco-afrikanisches Land.«
Dem französischen Präsidenten ist offensichtlich bewusst, dass die Stimmung kippt. Deshalb lud er im Oktober 2021 zu einem französisch-afrikanischen Gipfel in Montpellier ein, um mit einer handverlesenen Gruppe junger Afrikaner*innen über die zukünftigen Beziehungen zu sprechen – unter Ausschluss afrikanischer Staatsleute. Dem Präsidenten wird es wohl eher um die Geste gegangen sein, die Jugend einzuladen, die ihre Kritik an Frankreich in vielfältiger Art und Weise Ausdruck verleiht. Dass darauf ernsthafte Schritte unternommen werden, ist unwahrscheinlich. Letztendlich können nur die Afrikaner*innen selbst Françafrique beenden.
Und das Militär?
Der Putsch in Mali zeigt eine andere Qualität als jene aus den Zeiten des Kalten Krieges. Vordergründig, weil die Machtübernahme ohne die Proteste von 2019 und 2020 nicht hätte gelingen können. Den neuen Machthabern ist bewusst, dass sie die Legitimation der Bevölkerung brauchen. In den letzten Monaten organisierten die Militärs Konsultationen mit der Zivilgesellschaft und Repräsentant*innen der heterogenen M-5-Bewegung, die die Proteste von 2020 organisierte und sowohl linke als auch konservative Kräfte bündelte. Ziel war es, nicht einfach neue Wahlen zu organisieren, sondern das Wahlsystem selbst zu verbessern, sei es durch vereinfachten Zugang zu den Wahlurnen oder den Aufbau einer unabhängigen Wahlkommission.
Dass das Militär eigene Ziele verfolgt, daran gibt es keinen Zweifel. Dass eine vom Militär geführte Regierung gefährlich sein kann, ist ebenfalls unbestreitbar. Doch ihnen steht eine Bevölkerung gegenüber, die Erfahrungen darin hat, Proteste zu organisieren. Im Gegensatz zum Sudan wird in Mali bisher auch nicht auf die Menschen geschossen.
In der verbreiteten Gegenüberstellung »demokratische Regierungen versus nichtdemokratische Putschisten« wird gern vergessen, dass viele Langzeitregierungen die Verfassungen ändern, damit die alte Riege auf weitere Jahre an der Macht bleibt. Die Verlängerung von Mandaten versperrt gerade jungen Leuten den Zugang zu Mitsprache. Für einige eröffnet sich dieser Weg nun über das Militär. Dort steht eine Organisation bereit, die über die Mittel zur Macht verfügt. Und wenn sie im richtigen Moment von der Straße Unterstützung erfährt, ist das oftmals die einzige Chance einer jungen Generation, diese versperrte Mitsprache mittels Gewalt an sich zu reißen.
Der größte Fehler, den viele Analyst*innen aber machen, ist, die Veränderungen der letzten Jahre zu ignorieren. Die Menschen in Mali – und nicht nur dort – haben die Situation des letzten Jahrzehnts satt. In ihren Abwägungen ist eine Militärregierung derzeit ein verlässlicherer Partner als die alten postkolonialen Riegen. Dass diese sich auch noch mit den alten, überheblichen Mächten wie Frankreich anlegt, weckt ebenfalls Hoffnung bei vielen. Sollte sich herausstellen, dass die Militärregierung mit falschen Karten spielt und sich die Situation weiterhin verschlechtert, könnte die Stimmung auch kippen.
In der Betrachtung von Geopolitik sind Bewegungen also zum Faktor geworden, und das ist an sich eine gute Nachricht. Diese Bewegungen sind übriges gut vernetzt, lernen voneinander, tauschen sich aus, schützen sich, wo sie können, und beziehen sich aufeinander. Bleibt zu hoffen, dass diese Dynamik anhält, damit sich in Zukunft Optionen jenseits einer Wahl zwischen ehemaligen und neuen Kolonialmächten einerseits und Militärregierungen andererseits auftun. Dazu bräuchte es ein neues Verständnis eines Pan-Afrikanismus von unten, das anti-autoritär ist, ohne sich vom Westen vereinnahmen zu lassen.