Wir dürfen der extremen Rechten nicht die Idee der Freiheit überlassen
Warum die Bewegung der Impfverweigerer*innen so gut ins neoliberale Modell passt
Von Sergio Bologna
Wer die Präsidentschaft Donald Trumps verfolgt hat, insbesondere den Wahlkampf während der Pandemie, der zu seiner Niederlage führte, wird bemerkt haben, wie sehr Trump selbst und seine Unterstützer*innen darauf insistierten, dass sie die Freiheit verteidigten. Freedom, Freiheit, ist ein Mantra der US-Geschichte. Während der Phase der Blockkonfrontation beispielsweise wurde der Begriff Freiheit mit allem identifiziert, was der Kommunismus nicht war. Vor allem mit der Freiheit des Marktes, dem Gegenteil des kommunistischen Dirigismus.
Der Begriff der Freiheit, der durch die Französische Revolution als oberster Wert und grundlegendes Prinzip des zivilen Seins gesetzt wurde, hatte sich bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts in einen Freiheitsbegriff verwandelt, der das Wesen einer bestimmten ökonomischen und institutionellen Ordnung zum Ausdruck brachte. Vom Wert für die Identität einer Klasse, der bürgerlichen Klasse, wurde sie zum Wert der Identität des Kapitals, während die subalternen Klassen das Banner der »Solidarität« hochhielten.
Wie die Freiheit rechts wurde
Das, was heute passiert, unterscheidet sich davon noch einmal. Der Grund ist, dass die von der extremen Rechten – zu der auch Trump gehört – vertretene Idee der Freiheit sich in ein von der »Multitude« (1) anerkanntes Verhalten übersetzen lassen muss. Dieser Multitude fehlen besondere Klassenmerkmale, sie ist sowohl Ergebnis des Endes des Gegensatzes zwischen dem Modell der westlichen Demokratie und dem der kommunistischen Regime, woraus später der Gegensatz zwischen »Rechts« und »Links« wurde, als auch der Auflösung der Mittelklasse sowie der Fragmentierung und Spaltung der Arbeiter*innenklasse.
In diesem Sinne darf die Freiheit nicht mehr als unmittelbares Synonym einer bestimmten sozialen, ökonomischen und institutionellen Ordnung verstanden, sondern muss als »natürliche« Substanz einer Menschheit auf der Suche nach dem reinen Wohlstand dargestellt werden. Folglich entwickelt sie sich zum Recht des Individuums, das zu tun, was für es selbst nützlich ist, nicht nur jenseits jeglicher Regel, jeder Ordnung und Prinzipien, sondern auch jenseits der Berücksichtigung des Anderen: Das Individuum hat demnach das Recht, das zu tun, was es will, ohne sich darum zu kümmern, ob sein Verhalten anderen zum Vorteil oder Nachteil gereicht. Denn der Andere existiert nur, indem man sich ihm gegenüberstellt, gleichberechtigt, dasselbe Recht zum eigenen Vorteil einsetzend. Wenn er mir nicht gleichgestellt ist, behaupte ich mich; wenn er es ist, bekämpfe ich ihn, um mich zu behaupten.
Dies ist das Wesen der von der Bewegung der Impfverweigerer*innen (2) vertretenen Idee, die sich in ihrem Verhalten und ihrer Propaganda ausdrückt: Ich mache, was ich will, wo immer ich es will. Deswegen ist die Impfverweigerungsbewegung ein Ausdruck der extremen Rechten. In ihr sind Personen aktiv, die unterschiedliche und widersprüchliche politische Ideen vertreten, aber alle sind sie fest davon überzeugt, was die richtige Idee der Freiheit ist: Alle haben das Recht, das zu tun, was sie wollen, und niemand hat das Recht, es ihnen zu verbieten, schon gar nicht jenes Dispositiv, das wir als Staat bezeichnen. (Wir sollten die Impfverweigerungsbewegung nicht mit den Protesten gegen den »Green Pass« (3) verwechseln. Dass es ihr gelang, diese Dinge miteinander zu vermischen, hat der extremen Rechten die Führung auf der Straße verschafft.)
Es wird immer offensichtlicher, dass die Impfverweigerungsbewegung im Kern eine Bewegung gegen den Staat ist. Darin ist sie nicht allein. So wird begreiflich, dass auch anarchistische Tendenzen eine Affinität zu dieser Bewegung entwickelt haben. Aber nicht die anarchistische Ablehnung des Staates dominiert diese Bewegung. In den USA haben die trumpistische Rechte und die Impfverweigerungsbewegung zusammen eine große Kraft entwickelt. Der Angriff auf das Kapitol vom Januar 2021 war der deutlichste Ausdruck davon. Wenn dann in Rom der faschistische Angriff auf den Gewerkschaftsverband CGIL und der Versuch, zum Palazzo Chigi zu gelangen (4), aus der Impfverweigerungsdemonstration hervorgehen, schließt sich der Kreis: vom Angriff auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 zum Angriff auf die CGIL in Rom am 9. Oktober 2021; von »Wir erobern Washington« zum »Wir erobern Rom«. In Rom erinnert darüber hinaus der Angriff auf die Gewerkschaften an die von den Faschisten vor 100 Jahren zerstörten und in Brand gesetzten Camere del lavoro. (5)
Impfverweigerung und Klassengesellschaft
Die Impfverweigerungsbewegung hat keinen Klassencharakter, vielmehr fügt sie sich perfekt ein in das Phänomen der Auflösung der Mittelklasse und der Arbeiter*innenklasse, der Krise der Mittelschichten und der Transformationen der Arbeitswelt. Aber auch hier enthüllt sie sich als Bewegung, die scheinbar keinen Bezug auf eine bestimmte ökonomische Ordnung hat, während sie in Wirklichkeit genau einer entspricht: dem neoliberalen Modell. Den Staat zu negieren, heißt die öffentlichen Dienste zu negieren und folglich implizit zuzustimmen, dass das Gesundheitswesen, die Wasserversorgung, das Bildungssystem etc. nicht in öffentlicher Hand liegen soll. Denn dann nehmen die zur Unterhaltung der Dienste erforderlichen Kosten mir etwas weg, damit es anderen zugute kommt. Alles muss folglich Privatunternehmen ausgehändigt werden, und die, die nicht zahlen können, sind selber Schuld.
Das eigene Verhalten auf der Überzeugung zu gründen, dass jeder das Recht hat, zu tun und zu lassen, was er will, ist die radikalste Form, alle Werte zu negieren, auf denen die Arbeiter*innenbewegung, der Sozialismus, mit einem Wort »die Linke« aufgebaut sind, es negiert den Wert des Mutualismus (6), der Solidarität.
Die Problematik der öffentlichen Gesundheitsversorgung löst die Impfverweigerungsbewegung mit einer Vereinfachung: Jeder regelt das so, wie er will, die öffentliche Gesundheit ist nicht mein Problem, ich muss nur an meine eigene Gesundheit denken, es gibt keine Gesundheitswissenschaft, genauso wenig gibt es Wissenschaft, folglich kann keine regulierende Macht existieren, die auf einem Wissen basiert, das tiefer geht als das, über das das Individuum vermeintlich ohnehin verfügt und das in der Bekräftigung seiner individuellen Freiheit vollkommen enthalten ist.
Die Vorstellung, dass die Freiheit des Individuums, selbst zu denken, bereits in sich Wissen sei, sogar wertvolleres Wissen als das mutmaßlicher »Expert*innen« – die als Funktionär*innen einer staatlichen Macht oder Diener*innen multinationaler Pharmaunternehmen verstanden werden –, negiert Kompetenz, Bildung, wissenschaftliche Forschung. Es bedeutet, dem Markt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Die Individuen, die sich als Wesen betrachten, die ihre Existenz nicht auf Beziehungen, sondern auf Individualismus gründen, sind tatsächlich jene, die am ehesten ihre Freiheit verlieren, insbesondere in Bezug auf die Arbeit: Indem sie Solidarität, Gemeinschaft und Gegenseitigkeit verleugnen, präsentieren sie sich als Objekte ungezügelter Ausbeutung. Sie begeben sich in die vertraglich schwächste Position auf dem Markt: die des einzelnen Individuums.
Die fanatischen Verteidiger*innen der eigenen individuellen Freiheiten vertrauen sich vollständig und unbewusst dem Markt an, der nicht zögern wird, sie zu zermalmen und zu einer prekarisierten Existenz als »working poor« zu verurteilen. Zu denken, dass man frei sei, und sich dann in schwacher Position nicht mit dem alten Unternehmer, sondern mit Mächten ohne Gesicht und Namen konfrontiert zu sehen, fördert die Geburt von Phantasmen: Nicht die den konkreten Machtbeziehungen in der Gesellschaft innewohnenden Dynamiken, sondern dunkle und feindliche Mächte gestalten die mich umgebende Welt um und verschwören sich »gegen mich«. Ich weiß nicht, wer sie sind, aber ich weiß, dass es sie gibt, denn irgendjemand muss ja für den Schaden, den ich erleide, verantwortlich sein.
Gesundheit und Solidarität
Aus welchem Grund aber schließen sich Personen, die sich auf mehr oder weniger vage »linke« Werte berufen, dieser Clique von Unverantwortlichen an? Dieses untertänige Verhalten ist umso weniger verständlich, als in unserer Tradition von Erfahrungen, Kämpfen, Forschungen sowohl das Problem der öffentlichen Gesundheitsversorgung als auch das Problem der Epidemien seit langer Zeit bearbeitet und untersucht wird.
Um ein Beispiel zu nennen: Seit Mitte der 1970er Jahre existiert die Zeitschrift Epidemiologia e prevenzione (Epidemiologie und Prävention). Sie ist ein Ausdruck jener Bewegung, die politische und juristische Kämpfe mit dem Ergebnis geführt hat, dass die Risiken von Arbeiter*innen, die giftigen Substanzen ausgesetzt sind, als Berufskrankheiten anerkannt werden. Die Zeitschrift wurde gegründet, um Beschäftigte im Gesundheitswesen in der Provinz zu bilden, um die Arroganz der Pharmaunternehmen und der Industrien zu bekämpfen, die die von ihr in den Produktionsprozessen verursachten Schäden leugnen. Ziel war es, ein Modell öffentlicher Gesundheitsversorgung zu bekämpfen, das bloß auf große, hochspezialisierte Kliniken und Privatkliniken gegründet ist, die nur jenen offen stehen, die sich teure Therapien leisten können.
Wir müssen weder auf Verschwörungstheorien zurückgreifen, um die Verbrechen der pharmazeutischen Unternehmen anzuklagen: Es reicht das Marxsche Konzept des Profits. Noch haben wir es nötig, uns der gegen die Regierung gerichteten Aktion der Fratelli d’Italia (7) anzuschließen, um die Kürzungen im Gesundheitssystem durch die Regierung Draghi anzuklagen. Der Kampf um ein Gesundheitswesen im Dienste aller Bürger*innen, mit Versorgungszentren in der gesamten Fläche des Landes, für eine Präventionspolitik, die auf der Verantwortung gegenüber anderen aufbaut, ist seit einem halben Jahrhundert unser Kampf.
Übersetzung: Lars Stubbe. Dieser Artikel wurde zuerst von der Redaktion von Officina Primo Maggio, die in der Tradition der operaistischen Zeitung Primo Maggio (1973–1989) steht, auf ihrer Webseite veröffentlicht: www.officinaprimomaggio.eu. Die vollständige deutsche Übersetzung erschien bei Sozial.Geschichte Online. Die hier vorliegende Version ist um etwa ein Drittel gekürzt und leicht redaktionell bearbeitet.
Anmerkungen:
1) Multitude = Menge / Vielheit; in ihren Büchern »Empire« (2000) und »Multitude« (2004) beschrieben Antonio Negri und Michael Hardt die Multitude als vielgestaltige Menge, eine potenzielle Macht, die durch gemeinsames Handeln das gesellschaftliche Beziehungsgeflecht politisieren und zu einer neuen progressiven Kraft werden könnte.
2) Während diese Szene in Deutschland als »Querdenker« bekannt ist, wird in anderen Sprachen der Hauptaspekt auf die Impfverweigerung gelegt: »no-vax« (Italien), »antivacunas« (Spanien), »anti-vaccine« (Großbritannien).
3) Italienische Bezeichnung des in der EU anerkannten Impfzertifikats. Beschäftigte in öffentlichen und privaten Unternehmen haben seit dem 15. Oktober 2021 nur damit Zugang.
4) Am 9. Oktober 2021 gab es aus der Impfverweigerungsdemo einen Angriff auf den linken Gewerkschaftsverband CGIL. Der Palazzo Chigi ist der Amtssitz des Ministerpräsidenten.
5) »Kammern der Arbeit«: seit dem späten 19. Jahrhundert in Italien bestehende gewerkschaftliche Zusammenschlüsse auf lokaler Ebene, die ähnlich den französischen Bourses du travail (Arbeitsbörsen) sowohl als Arbeitsvermittlung als auch als Interessenvertretung der Arbeiter*innen fungieren sollten. Heute sind sie die Gewerkschaftshäuser des Dachverbands CGIL in allen Regionen Italiens.
6) Der Mutualismus steht in der Arbeiter*innenbewegung für eine auf Gegenseitigkeit aufbauende, umfassende Unterstützung. Er umfasst die Genossenschaftsidee, geht aber weit darüber hinaus.
7) Brüder Italiens, 2012 gegründete rechtsextreme Partei.