Einfach krank
Die WHO gibt nach 20 Jahren einen neuen Diagnosekatalog ICD-11 heraus – was heißt das für linke Kritik am psychiatrischen System?
Anfang Januar war ein großer Moment in der medizinischen Bürokratie. Zwischen Aktenregalen, noch der Digitalisierung entronnen, knallten die Sektkorken und über den Türen grauer Großraumbüros hingen Spruchbänder, auf denen zu lesen war: Willkommen ICD-11.
So sehr das Bild gefällt, so wenig dürfte es der Realität entsprechen. Trotzdem ist die Einführung der elften Ausgabe der »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems« (dt. Internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, ICD) durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine große Veränderung in der medizinischen Diagnostik. Die ICD legt fest, welche Krankheiten es »offiziell« gibt und durch welche Symptome sie jeweils gekennzeichnet sind. Sie ist das internationale Standardwerk, nach dem Behandler*innen Krankheiten und gesundheitsbezogene Zustände diagnostizieren. Sie dient neben der konkreten klinischen Praxis auch dazu, weltweit vergleichbare Statistiken zu gesundheitlichen Problemen und deren Entwicklungen sowie der Erfassung von Todesfällen zu erstellen.
Die Ende 2018 vorgestellte ICD-11, die seit Januar 2022 in Kraft ist, soll über die nächsten fünf Jahre von allen Mitgliedsstaaten der WHO eingeführt werden. Sie ersetzt die seit 1992 gültige zehnte Ausgabe der ICD und soll diese in jeder Hinsicht modernisieren. Bis 2027 können Behandler*innen sowohl nach der zehnten als auch der elften Ausgabe der ICD diagnostizieren; ab dann soll nur noch die neue Version gelten. Momentan liegt die ICD-11 noch nicht auf Deutsch vor. Sowohl medizinisches Personal als auch Patient*innen und Angehörige müssen also vorerst Englisch lesen können, um eine ICD-11-Diagnose zu verstehen.
Welche Relevanz hat das medizinisch-bürokratische Erfassungsinstrument für linke Politik? Was hat das alles mit dem Klassenkampf zu tun? Die Antwort ist (wie sollte es anders sein): Einiges.
Die ICD ist nicht das, was sie vorgibt zu sein: eine neutrale Instanz, die in 55.000 Einträgen abbildet, was an Krankheit, Symptom und Diagnostik in der Welt vorzufinden ist. Die ICD erschafft durch ihre Definitionen mit, was gesellschaftlich als Krankheit und Gesundheit gilt. Ihre Definitionen durchziehen die gesundheitliche Landschaft massiv – von der Interaktion zwischen Patient und Ärztin bis hin zur Verhandlung eines Rentenbegehrens vor dem Sozialgericht. Die ICD-11 formt die politischen Rahmenbedingungen von Gesundheit und Medizin. So basiert zum Beispiel das viel kritisierte Fallpauschalensystem, welches 2003 eingeführt wurde, um Behandlungen »wirtschaftlicher« zu gestalten, auf der ICD. Anhand sogenannter »diagnose related groups« (dt. diagnosenbezogene Gruppen) wird die Abrechnung in Krankenhäusern geregelt.
Wen darf man heute noch verrückt nennen?
Psychische Krankheiten sind in der ICD-10 in Kapitel 5 zu finden. Hier wird geregelt, wer sich vor der Krankenkasse mit Fug und Recht verrückt nennen und so auf eine Kostenübernahme einer Psychotherapie hoffen darf. Der häufig unter Behandler*innen für psychische Störungen verwendete Begriff »F-Diagnose« bezieht sich darauf, dass alle Diagnosen aus dem fünften Kapitel mit einem F verschlüsselt werden. Eine leichte depressive Episode wird so zum Beispiel zu F32.0.
Im neuen Kodierungssystem der ICD-11 verschwinden die F-Diagnosen. Was als psychische Störung gilt, wird nun im Kapitel »Mental, behavioural or neurodevelopmental disorders« (dt. geistige, Verhaltens- oder Neuroentwicklungsstörungen) festgelegt. Auch inhaltlich hat sich einiges verändert.
Während in der ICD-10 die Diagnose »Transsexualismus« (F64.0) noch als Teil der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen auftaucht, ist im ICD-11 von »Geschlechtsinkongruenz« die Rede. Sie wird im neu geschaffenen Kapitel 17 »Zustände im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit« aufgeführt – womit Transgeschlechtlichkeit explizit nicht mehr als Krankheit gilt. Ein Schritt, den die WHO auch mit der gesellschaftlich veränderten Wahrnehmung von Transgeschlechtlichkeit begründet.
Was einerseits als Fortschritt gilt, wirft andererseits die Frage auf, was das für die Finanzierung medizinischer Leistungen bedeutet, die bisher mit der ICD-10-Diagnose »Transsexualismus« begründet wurden. Wenn keine »Krankheit« vorliegt, könnten die Krankenkassen beispielsweise argumentieren, dass sie entsprechend auch nicht für die Finanzierung geschlechtsangleichender Operationen zuständig sind.
Menschen brauchen oft Hilfen, die aktuell nur der psychiatrische Apparat leisten kann.
Die Neusortierung des Burnout-Begriffs in der ICD-11 ist für immer größere Teile der Bevölkerung relevant. In der ICD-10 wird der Burnout als »Problem mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung« (Z73) noch in einer Kategorie geführt, die man salopp vermutlich »Sonstiges« nennen könnte. In der ICD-11 wandert er ins Kapitel »Mit Arbeit oder Arbeitslosigkeit zusammenhängende Probleme« und wird konkret als andauernder Stress am Arbeitsplatz definiert, der nicht erfolgreich bewältigt werden konnte. Dieser Perspektivwechsel ist ein wichtiger Schritt, bestimmte Formen der Depression weniger als Störung einzelner Personen, sondern des Umfelds, in dem sie sich bewegen, zu sehen.
Neoliberale Arbeit am Selbst
Trotz der positiven Änderungen bleibt ein berechtigtes Unbehagen mit der ICD-11. Eine altbekannte linke Kritik ist, dass Diagnosen an sich pathologisierend und entmündigend seien, vor allem darauf ausgerichtet, die, die aus der Mehrwertproduktion ausscheiden, wieder für den Arbeitsmarkt tauglich zu machen. Oder, wenn das nicht klappt, sie für ihr Nicht-Funktionieren zu maßregeln. Diese Argumentationslinie begegnet einer*m mal marxistisch argumentierend und an die Anti-Psychiatriebewegung anknüpfend, mal esoterisch-neopaganistisch als entmenschlichende Betrachtung, die statt Spiritualität nur funktionale Neurobiologie sieht. Beide Positionen weisen auf tatsächliche Mängel im psychiatrischen System hin, die es aus linker Sicht zu kritisieren gilt. Das Problem ist nur, dass die Linke – wie aktuell in so vielen Bereichen – keine Alternative zum bestehenden psychiatrischen System formulieren kann.
Die Versorgungslücke psychischer Probleme wird in der gesamten Gesellschaft stattdessen durch eine Selbsthilfe-Industrie in Form von Büchern, Videos und Instagram-Infokacheln gefüllt. Auch linke oder linksliberale Social-Media-Accounts und -Aktivist*innen tragen zum Trend der Selbstdiagnose und einer Form der »Mental-Health-Awareness« bei, die eher unkritische Annahme psychiatrischer bis pseudowissenschaftlicher Kategorien statt transformativer Geist ist. Zur Überfokussierung auf die »Arbeit am Selbst« kommt hinzu, dass sich oftmals mit der Kritik am therapeutischen System von jeder Form evidenzbasierter Behandlung verabschiedet wird. Statt Eigenständigkeit produziert ein solcher Ansatz eine krisenanfällige Art der Abhängigkeit, bei der Symptome gemildert werden, ohne langfristige Stabilität anzubieten.
Die kapitalistischen Interessen, die dem medizinischen Apparat vorgeworfen werden, prägen auch die Selbsthilfe-Industrie, deren Marktwert von Forscher*innen auf 13 Milliarden US-Dollar geschätzt wird. Das liegt zwar weit abgeschlagen hinter dem Feindbild der Pharmaindustrie, macht aber aus Coaches, Autor*innen und Gurus dennoch keine Verbündeten im antikapitalistischen Kampf.
Dabei ist es kein Zufall, dass sich die Selbsthilfe-Industrie vor allem an »leicht Betroffene« richtet, die trotz Leidensdruck Alltagsfunktion und gesellschaftliche Verbundenheit aufrechterhalten können. Denn während für diese Betroffenen Achtsamkeit und Yoga in vielen Fällen gangbare Wege zur Symptommilderung sein können, ist, wer einer Person mit akutem psychotischem Schub einen achtsamen Spaziergang empfiehlt, entweder zynisch oder ignorant.
Beziehungsarbeit neu organisieren
Psychische Symptome können den Alltag stark einschränken und zu Unterstützungsbedarf führen. Ironischerweise scheint grade dieser Umstand durch den vermeintlich entstigmatisierenden Selbsthilfe- und Akzeptanz-Diskurs immer unsichtbarer zu werden. Natürlich ist eine Psychose, eine schwere depressive Episode oder eine manische Phase »ok«. Ernsthaft betroffene Menschen brauchen trotzdem oft Arten von Hilfe, die aktuell fast nur der zu Recht kritisierte psychiatrische Apparat und das ihn strukturierende diagnostische System bieten können. Das ist ein Strukturproblem, das nicht verschwindet, indem Betroffene und andere individuell weniger abwertend über »psychische Krankheit« denken.
Aufgabe einer gesellschaftlichen Linken wäre es, soziale Strukturen aufzubauen, die in der Lage sind, Krisen aufzufangen – ohne das gewaltvolle Repressions- und Verwaltungssystem, das die Psychiatrie momentan darstellt. Nur: Noch gibt es diese Strukturen viel zu selten. Vor diesem Hintergrund ist die ICD-11 aus linker Perspektive zwar durchaus in einzelnen Punkten eine Verbesserung. Auf der anderen Seite bleibt das psychiatrische System an sich jedoch in seinen Problemen unangetastet.
Eine linke Kritik darf weder nur aus individualisierenden Antidiskriminierungsansätzen noch aus Verleugnung der Existenz oder aus Herunterspielen psychischer Ausnahmezustände bestehen. Sie muss auf tiefgreifende Veränderungen zielen, die für die Psyche aller Menschen wichtig und positiv wären: solidarische Beziehungsgestaltung und Unterstützung, Entstigmatisierung und gleichzeitig die Aufwertung von Care- und emotionaler Arbeit, Umstrukturierung des Gesundheitssystems und eine medizinische Wissenschaft, die explizit antirassistisch, anti-ableistisch und antisexistisch ist.