Erst war es die Natur, dann auch der Mensch
Der Prozess gegen Geflüchtete auf der griechischen Insel Samos zeigt, wie sich die Legitimation des europäischen Grenzregimes wandelt
Von Nerges Azizi und Simin Jawabreh
Auf Samos, Griechenland, ist ein Wandel darin zu verzeichnen, wie sich europäische Grenzgewalt legitimiert und wo sie zu verorten ist. Denn nun wird die Gewalt der Grenze den Geflüchteten selbst zugeschrieben. Das zeigt die Klage gegen den 25-jährigen N.
N. floh von Afghanistan aus über die Türkei nach Griechenland. In der Nacht des 7. November 2020 verlor er bei der Überfahrt seinen sechsjährigen Sohn R. Die nach dem Kentern des Bootes alarmierte griechische Küstenwache rettete ihn nicht. Nun wird er mit 10 Jahren Haft wegen »Kindeswohlgefährdung« vor Gericht belangt, der Bootslenker mit einer lebenslangen Haftstrafe plus 230 Jahre.
Die Kampagne FreeTheSamosTwo fordert vor diesem Hintergrund »Freiheit für alle, die wegen des Steuern eines Bootes inhaftiert sind« und ein »Ende der Kriminalisierung von Migration und der Inhaftierung von Schutzsuchenden.«
Intransparenz, Wahrheit und Lüge an der Grenze
Mit Unterstützung und Finanzierung der EU, militarisiert Griechenland seit Jahren seine Grenzen zur Türkei. Staatliche Repressionsmaßnahmen wie Vorwürfe der Spionage, Kriminalisierung und Inhaftierung, erschweren Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Journalist*innen und Aktivist*innen die Dokumentierung der dort eskalierenden Grenzgewalt. Trotz der Versuche, Menschenrechtsverteidiger*innen fernzuhalten und einen informationellen Nebel über die Situation zu werfen, häufen sich Berichte über Menschenrechtsverstöße und Pushbacks. Nur Grenzbeamte wüssten, was wirklich vorginge an der Grenze, heißt es vom Staat. In diesem Sinne wies der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis die Anschuldigungen über Pushbacks wiederholt als »fake news« ab, und Griechenland als Opfer einer Desinformiationskampagne, die vom türkischen Staat initiiert worden sei.
Die bewusste Produktion einer undurchsichtigen Situation an der Grenze soll es den Behörden erlauben, Gewalt auszuüben und Menschen abzuschieben, ohne selbst dafür zur Verantwortung gezogen werden zu können.
Eine nähere Betrachtung des Falles weist auf die inkohärente Narrative hin über das, was in der Nacht der Bootsüberfahrt geschah. Klar ist, dass die Küstenwache bis zum Morgen keine erfolgreiche Seenotrettung ausgeübt hat. Laut Recherchen der Deutschen Welle kenterten die Passagiere des Bootes wegen eines Sturmes kurz vor Samos. Die Gruppe sendete um 23.51 Uhr per WhatsApp einen Notruf an die NGO Aegan Boat Report. Diese leitete den Seenotfall an die Küstenwache weiter, die den Notruf nach eigenen Angaben um 00.06 Uhr erhalten und sofort Unterstützung geschickt haben soll. Die Betroffenen gaben bei einem Kontrollanruf der Aegan Boat Report um 01.18 Uhr jedoch an, noch keine Hilfe erhalten zu haben. N.s Sohn wurde dem Chef der Küstenwache zufolge um 6.00 Uhr morgens von den griechischen Behörden gefunden. Dem offiziellen Bericht der Küstenwache lässt sich jedoch entnehmen, dass er erst um 9.30 Uhr zum Hafen gebracht wurde. Es ist also zu fragen, wieso die Küstenwache stundenlang gezögert hat, ihn an den naheliegenden Hafen zu bringen.
Hinzu kommen Fragen rund um die mangelnde Plausibilität des Autopsieberichtes. Die Leiche des sechsjährigen R. wurde erst Tage nach dem Bootsunglück von Gerichtsmediziner*innen untersucht, die angeben, er sei um genau 23.45 Uhr, also 21 Minuten bevor der Notruf bei der Küstenwache einging, gestorben. N.s Anwalt zufolge sei die wissenschaftliche Aussagekraft des Berichtes anzuzweifeln, da es Tage später nicht möglich sei, den genauen Todeszeitpunkt mit solch einer Präzision festzustellen. Die Zeitangabe sei also verwendet worden, um die Küstenwache zu entlasten, dessen Aufgabe es war, die Gekenterten zu retten.
Bezeichnenderweise hat gerade die Küstenwache den Fall von »Kindeswohlgefährdung« gegen den Vater zur Staatsanwaltschaft gebracht. Dem Vater wird vorgeworfen, im Landesinneren von den griechischen Beamten vorgefunden worden zu sein, wo er nach Hilfe suchte statt weinend neben seinem Sohn. Der Chef der Küstenwache behauptet, er habe R. dadurch »im Stich gelassen« und »wenn es mein Sohn gewesen wäre, wäre ich bei ihm gewesen.« Der Kriminalisierung liegt also eine vermeintlich unpassende affektive Antwort des Vaters zugrunde. Ein weiterer Vorwurf ist, dass er seinem Sohn keine Schwimmweste angezogen hätte. Ein Foto in der Akte R.s zeigt ihn klar mit Weste. Die Berichterstattung und Glaubwürdigkeit des Aegan Boat Reports stellt Migrationsminister Tsianis auch in Frage, da sie die Küstenwache falsch informiert hätten und auf der Seite der türkischen Küstenwache seien. N. wiederum verschob im März 2021 gemeinsam mit seinem Anwalt Dimitris Choulis die Frage der Täterschaft, indem er die Küstenwache wegen unterlassener Hilfeleistung, die zum Tod seines Sohnes führte, anklagte.
Am Morgen des Bootsunglücks wurde N. von der Polizei stundenlang vernommen und im Glauben gelassen, sein Sohn sei noch am Leben.
Der Fall verdeutlicht die Schwierigkeiten, die Geschehnisse an der Grenze zu rekonstruieren, wie asymmetrisch der Zugang zu Beweisen ist und wie umstritten die Produktion von Fakten und Wahrheit sind. Am Morgen des Bootsunglücks wurde N. von der Polizei stundenlang vernommen und im Glauben gelassen, sein Sohn sei noch am Leben, es gehe ihm gut, und er könnte ihn nach der Vernehmung sehen. Erst im Anschluss der Vernehmung hätten sie ihn über den Tod seines Kindes informiert. Hierbei handelt es sich um ein Verschweigen und Vorenthalten signifikanten Wissens.
Wie lässt sich nun ein vom Recht vernehmbares, logisches und lineares Narrativ über solch traumatische Ereignisse konstruieren? Und wessen Narrative wird im rechtlichen Raum mehr Glaubwürdigkeit und Autorität finden? Strukturell handelt es sich um eine Situation, in der Beweise von staatlichen Behörden willentlich kaschiert und vernichtet werden, Ressourcen ungleich verteilt sind, und unabhängigen Stellen kaum Zugang für die Dokumentierung geboten wird.
Natur, Gewalt und Strafe
Die Überlappung von Migrations- und Strafrecht wird seit einiger Zeit unter dem Begriff der Crimmigration diskutiert. (1) Das Phänomen der Crimmigration wird in diesem Fall an der strafrechtlichen Belangung des Bootslenkenden deutlich. N.s Kriminalisierung unterscheidet sich jedoch von dem, was bislang unter dem Begriff der Crimmigration verstanden wird, da er nicht ausschließlich die strafrechtliche Verfolgung des Grenzübertrittes betrifft. Verhandelt wird zusätzlich die Verantwortungsübernahme für den daraus resultierenden Tod seines Sohnes. Es ist ein Präzedenzfall und weist auf eine sich verändernde Legitimationslegende europäischer Grenzgewalt.
Bislang werden im Migrationsregime vor allem Bilder einer Form systemischer Gewalt produziert, die ohne Berührung tötet. Das Verschwinden und Sterben der Geflüchteten wird auf Naturelemente und Phänomene zurückgeführt. Das Migrationsregime inszeniert sich also in Inaktion, während zugleich Pushbacks und Pullbacks die gewaltvolle Realität darstellen. Je nach Fluchtroute ist das Narrativ, dass die Geflüchteten im Meer, der Wüste, dem Wald oder dem Fluss ihrem Tod überlassen wurden. In offiziellen Berichten wird Tod durch Ertrinken, Tod durch Dehydration oder Tod durch Verhungern angegeben. Infolgedessen ist die Verantwortung für die Todesfälle und Verletzungen, die strukturelles Produkt des Migrationsregimes sind, diffus thematisiert und naturalisiert. Dabei gehören die Verweigerung von Visa, die Kriminalisierung von Grenzübertritten und das Polizieren von Migrationswegen zu den Faktoren, die Geflüchtete dazu zwingen, gefährliche Routen anzutreten.
Mit Achille Mbembe gesprochen führt das Grenzregime zu einer Nekropolitik, dem Einsatz politischer Macht zur Diktierung, wer lebt und wer stirbt. Diese Politik zwingt Menschen dazu, in verschiedenen Zuständen zwischen Leben und Tod zu verharren. Es handelt sich um ein organisiertes Sterbenlassen an den EU-Außengrenzen, welches das Meer als solches zur »Todeswelt« instrumentalisiert und Menschen auf der Flucht als »leere Subjektivitäten« darstellt. (2) Sie verschwinden im Meer und hinterlassen wenig Spuren.
Mit N.s Haftstrafe ist ein Wandel zu verzeichnen, der die »Todeswelt« und die in ihr schwimmenden »leeren Subjektivitäten« aufzulösen scheint. Geflüchteten wie N. wird damit ein Handlungsspielraum zugesprochen, der sie zugleich in eine aktive Mörderschaft verwickelt und diesen Handlungsspielraum auf eine kriminelle Intention begrenzt. Dominierten bisher Repräsentationen, die das Meer als solches als Grenzgewalt mobilisierten, werden diese nun den Körpern eingelagert.
Der Prozess um N.s Fall verdeutlicht die Konstruktion einer Macht, die sich stetig neu verteidigen und stabilisieren muss. Das Strafrecht selbst erscheint dabei als Mittel der Absicherung eigener Vorherrschaft.
Die Kriminalisierung scheint Ergebnis einer Politik zu sein, die, um die zugrundeliegende Gewalt eines auf Kolonialismus und Rassismus ruhenden Kapitalismus aufrecht zu erhalten, ihre Grenzpolitik immer weiter ausbauen muss. Fragen der Täter*innenschaft müssen damit weiter verschoben werden, bis die Geflüchteten als die eigentlichen Täter*innen der Situation erscheinen.
N.s Gegenklage kann als Versuch der Zurwehrsetzung gelesen werden. Wegen der Kriminalisierung muss er sich zwangsweise zum Recht verhalten. Innerhalb des griechischen Rechtssystems Widerstand zu leisten, heißt jedoch auch, jene Mittel zu verwenden, die tendenziell dazu dienen, Geflüchtete zu unterdrücken und weg zu sperren. Benötigt wird eine Perspektive, die die gewaltvolle Beschaffenheit der Situation auseinander zu nehmen weiß. Zu fragen bleibt, ob das Recht dieses Mittel darstellen kann, und jene Gewalt zu adressieren vermag, die es selbst erst mitgeschaffen hat.
Anmerkungen:
1) Bhatia, Monish: Crimmigration, imprisonment and racist violence: Narratives of people seeking asylum in Great Britain, Journal of Sociology 2020.
2) Mbembe, Achille : Necropolitics, Duke University Press, New York 2019.