Der Flügel hat seine Funktion erfüllt
Nach dem AfD-Bundesparteitag in Braunschweig schreitet die Formierung des rechten Projekts voran
Wenn die AfD zum Bundesparteitag lädt, knallt es eigentlich immer. So war es etwa in Essen 2015, als zwischen Bernd Lucke und Frauke Petry die Fetzen flogen. Petry gewann das Duell und erlebte zwei Jahre später nur wenige Kilometer entfernt in Köln ein ähnliches Desaster, als sie die Macht der Völkischen eindämmen wollte. Noch vor wenigen Monaten deutete vieles darauf hin, dass auch der Bundesparteitag am ersten Adventswochenende in Braunschweig einen Showdown liefern könnte. Im Juli, beim letzten Kyffhäuser-Treffen des völkischen Flügels, meldete Björn Höcke vollmundig Ambitionen auf eine wichtige Rolle in der Bundespartei an. Mit Blick auf den Parteitag in Braunschweig sagte Höcke, er wolle sich »zum ersten Mal mit großer Hingabe und mit großer Leidenschaft den Neuwahlen des Bundesvorstandes hingeben«. Manchen Fans vor Ort fiel damals vor lauter Freude fast das Bierglas aus der Hand. Doch in Braunschweig wollte sich Höcke dann doch noch nicht hingeben. Es sei »nicht an der Zeit« für eine Bewerbung, sagte er am Rande in die Mikrofone und Kameras.
Spannung versprach vor allem die Wahl der Parteispitze, die in Braunschweig anstand. Jörg Meuthen, seit 2015 Co-Chef der AfD, geriet in den vergangenen Monaten immer mehr ins Visier der Völkischen, weil er sich rhetorisch das eine oder andere Mal vom Flügel abgrenzte. Selbst sein eigener Kreisverband strafte ihn ab und wählte ihn nicht einmal zum Delegierten für den Parteitag. Leider nehmen viele Journalist*innen Meuthens Spitzen gegen den Flügel für bare Münze. Was die Journalist*innen, die das Bild eines moderaten Meuthen zeichneten, verdrängten: Immer, wenn es hart auf hart kam, stellte er sich schützend vor die Völkischen. Weil Meuthen noch gut in Erinnerung ist, welches Schicksal Lucke und Petry ereilt hatte, war er in den vergangenen Wochen etwas auf verbale Abrüstung gegangen und hatte auch in Braunschweig auf eine Konfrontation mit den Völkischen verzichtet. Die Partei wählte ihn erneut zum Vorsitzenden und belohnte damit seine Disziplin, eine Eigenschaft, für die er sonst nicht gerade bekannt ist. An seine Seite wählten die Delegierten Tino Chrupalla. Er setzte sich gegen Gottfried Curio durch, obwohl dieser die deutlich stärkere Rede hielt. Chrupalla erschien vielen als der gemäßigtere Kandidat. An der Spitze der Partei stehen nun mit Jörg Meuthen und Tino Chrupalla keine dezidierten Flügel-Männer.
Ohne den Flügel geht nichts mehr
Trotzdem war Braunschweig für die Völkischen kein Dämpfer, sondern im Gegenteil ihr bisher erfolgreichster Parteitag, weil sich zeigte, dass ohne den Flügel in der Partei nichts mehr geht. Rechnet man die Ergebnisse beim Parteitag zusammen, lässt sich folgende Verteilung der Delegierten feststellen: Knapp die Hälfte sind mehr oder weniger dem Flügel zuzurechnen. So wählten 50,3 Prozent Andreas Kalbitz wieder in den Bundesvorstand – ein beachtliches Ergebnis, ist doch mittlerweile allen bekannt, dass der Chef der AfD in Brandenburg eine lupenrein rechtsextreme Vergangenheit hat, eine, von der er sich bis heute nicht distanziert hat.
Doch was ist mit der anderen Hälfte? Die ist gespalten. Der eine Teil fiel in den vergangenen Monaten durch Distanzierungen vom Flügel auf. Vor allem Georg Pazderski aus Berlin, Uwe Junge aus Rheinland-Pfalz und Kay Gottschalk aus Nordrhein-Westfalen kritisierten den Flügel zwar kaum inhaltlich, machten sich aber dafür stark, der AfD aus strategischen Gründen ein gemäßigteres Image zu verpassen. In Braunschweig erhielten sie dafür die Quittung. Alle kandidierten für den Bundesvorstand – und hatten keine Chance. Dennoch haben es einige Vertreter*innen in den Bundesvorstand geschafft, die dem Flügel skeptisch gegenüberstehen. Ein anderer Teil will sich zwar nicht zum Flügel bekennen, kooperiert aber offen mit ihm. Wendehälse wie Jörg Meuthen, Tino Chrupalla und Alice Weidel werden nur mit Flügels Gnaden gewählt.
Braunschweig hätte für die Völkischen kaum besser laufen können. Höcke, Kalbitz und Co. konnten ihre Macht im Bundesvorstand ausbauen und stellen mit Stephan Brandner nun sogar einen stellvertretenden Vorsitzenden. Brandner wurde erst vor wenigen Wochen von seinem Posten als Vorsitzender des Rechtsausschusses im Bundestag abgewählt – ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik. Knapp zwei Drittel des Parteitags wählten ihn zum stellvertretenden Vorsitzenden. Im gleichen Wahlgang bekamen die AfD-Promis Uwe Junge und Ablrecht Glaser jeweils nicht mehr als 20 Prozent. Im neuen Bundesvorstand wird sich wohl niemand mehr trauen, gegen den Flügel das Wort zu erheben, denn die Opportunist*innen wissen, dass ihnen sonst beim nächsten Parteitag ein ähnliches Schicksal wie Pazderski, Gottschalk oder Junge droht.
Internes AfD-Strategiepapier fordert Imagewechsel
Die Völkischen wissen aber auch, dass sie die moderat erscheinenden Aushängeschilder mittelfristig brauchen, wollen sie nicht nur eine Klientel ansprechen, die ein geschlossen rechtsradikales Weltbild hat. Seit Gründung der Partei hat die AfD kaum mehr als 20 Prozent maximales Wählerpotenzial. Damit ist zumindest auf Bundesebene langfristig kein Staat zu übernehmen. Gerade den geschichtsbewussten Rechtsradikalen ist deshalb klar: Wer eines Tages die Macht haben will, ist auf die opportunistischen Teile der Konservativen, des Kleinbürgertums und des Kapitals angewiesen. Das erklärt auch, warum in jüngster Zeit selbst die Völkischen mit angezogener Handbremse unterwegs sind: In Thüringen schließt sogar Björn Höcke Regierungsbeteiligungen nicht mehr kategorisch aus.
Ein im Sommer vom Bundesvorstand abgesegnetes internes Strategiepapier fordert mittel- und langfristig einen »Imagewechsel der AfD hin zur konservativ-patriotischen Volkspartei«. Bis zum Jahr 2025 soll die AfD bei mindestens 20 Prozent stehen. Dafür, so das Strategiepapier, müsse die AfD vor allem weiter zur Mitte orientieren, denn da lägen die größten Wachstumspotenziale für die Partei. »Will die AfD in der liberal-konservativen bürgerlichen Mitte mehr Resonanz und Anschluss finden, muss sie Seriosität, Kompetenz, Bürgernähe und Verantwortungsbewusstsein herausstellen und sich vom extremen rechten Rand mit aller Entschiedenheit abgrenzen«, heißt es entsprechend in dem Papier. Das Papier stieß auf wenig Widerspruch, dabei klingt es nicht so weit von dem entfernt, was einst Frauke Petry vergeblich versucht hatte, in die Partei einzubringen. Allerdings: Das Papier stammt aus der Feder Georg Pazderskis. Beschlossen hatte der Bundesvorstand das Papier aber dennoch.
Das Ende des Flügels?
Insgesamt ruckelt sich aus Sicht des Flügels langsam alles zurecht. Alle haben in der ersten erfolgreichen gesamtrechten Partei nach 1945 ihren Platz: Nationalkonservative, Neoliberale, Nazis. Das rechte Projekt umfasst zwar viele Strömungen, doch die Zügel hält der Flügel in der Hand. So fest, dass mittlerweile bereits offen darüber nachgedacht wird, den Flügel langsam aufzulösen.
Benedikt Kaiser, zwar kein Parteimitglied, aber trotzdem einflussreicher und dem Flügel nahestehender Stratege aus dem Institut für Staatspolitik, schrieb am Tag nach Ende des Parteitags, man müsse grundsätzlich über Sinn und Unsinn von offiziellen Parteiformationen nachdenken. Er fragt: »Ist der Flügel 2019ff. handlungsfähig, professionell und realistisch genug, zieht er positiv Stimmen auf sich, weil er ist, wie er ist? Oder wird er zunehmend zu seinem eigenen Hemmschuh, weil beispielsweise Personen, die Flügel-Standpunkte vertreten, nicht gewählt werden, weil man ihnen eben den Organisationsstempel aufdrückt?« Vielleicht ist schon bald die Zeit des Flügels abgelaufen, dessen Funktion es von Anfang an war, die völkischen Kräfte in der Partei gegen die Angriffe von Gegner*innen zu bündeln. Jetzt, viereinhalb Jahre nachdem der Flügel ins Leben gerufen wurde, scheint das nicht mehr notwendig. Das mögliche Ende des Flügels – kein Grund zur Freude, sondern eher Ausdruck eines Strategiewechsels der Völkischen: von Verteidigung zu Angriff.