Die Idee eines freien Afrikas
Drei Jahrzehnte Autoritarismus konnten das Erbe Thomas Sankaras in Burkina Faso nicht verdrängen, sagt Hamado Dipama
Interview: Paul Dziedzic
Ganze 34 Jahre nach der Ermordung des burkinischen Präsidenten Thomas Sankara läuft nun das Gerichtsverfahren gegen 14 Beschuldigte in der Hauptstadt Burkina Fasos, Ouagadougou. Unter den Angeklagten ist auch der ehemalige Präsident Blaise Compaoré, der das Land nach dem Mord an Sankara 1987 regierte. Eine breite Bewegung unter den Namen Balai Citoyen (Bürgerbesen) stürzte ihn 2014.
Das Interesse am Verfahren ist in vielen Ländern und insbesondere in Afrika groß. Warum?
Hamado Dipama: Das Verfahren ist wichtig, weil die Straflosigkeit in unseren Ländern aufhören muss. Man kann dich umbringen und es passiert nichts. Es ist aber auch wichtig, weil Sankara Politik für Menschen in Burkina Faso, Afrika und überall auf der ganzen Welt gemacht hat, die von Kapitalismus und Imperialismus ausgebeutet und marginalisiert werden. Egal, in welchem Land in Afrika du bist, Sankara ist ein Idol, vor allem bei Jugendlichen. Dabei haben die meisten ihn nicht gekannt. Es geht nicht um die Person, sondern um die Idee eines freien Afrikas. Das Interesse an diesem Prozess ist auch eine Anerkennung dieser Politik. Und es geht darum, zu erfahren, wer damals was getan hat.
Was ist darüber bekannt, was am 15. Oktober 1987 geschah?
Wir haben die Aussage des einzigen Überlebenden, Alouna Traoré. Am 15. Oktober 1987 hatte Thomas Sankara eine Sitzung mit Mitgliedern des Kabinetts einberufen. Gegen 16 Uhr hörten die Leute im Sitzungssaal Schüsse von draußen. Da stand Thomas Sankara auf und sagte allen, sie sollten im Raum bleiben, da die Angreifer wegen ihm da waren. Er verließ den Raum und wurde sofort durch mehrere Schüsse ermordet. Das Militär ging dann in den Saal und schoss auf die Leute, die drin geblieben waren. Alouna Traoré befand sich zwischen den Toten und hat einfach Glück gehabt. Er war Teil unseres sankaristischen Netzwerks, weshalb wir schon früh wussten, was passiert ist. Als einziger Zeuge musste er aber untertauchen. Es gab vorher viele Gerüchte darüber, dass etwas wie ein Coup in Vorbereitung war. Sankara entschied, sich nicht mit Diktatoren gemein zu machen und ging nicht repressiv dagegen vor.
Hamado Dipama
ist 2002 aus Burkina Faso nach Deutschland geflohen. Er ist Sprecher des bayerischen Flüchtlingsrats und engagiert sich politisch für die Belange von Geflüchteten, Migrant*innen und insbesondere Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland. Er ist Gründer des Arbeitskreis Panafrikanismus München e.V., sowie Mitbegründer des Zentralrats der afrikanischen Gemeinde in Deutschland.
Sankaras sozialistische Regierung hat das Land verändert. Was ist davon bis heute geblieben?
Thomas Sankara hatte ein langfristiges Programm zur Veränderung des Landes. Sein Nachfolger Blaise Compaoré war planlos. Deshalb musste er manchmal auf Teile von Sankaras Plänen zurückgreifen. Eine Leitlinie war: »produzieren, was wir konsumieren und konsumieren, was wir produzieren«. Die kapitalistischen Länder haben uns ja immer nur als Konsument*innen gesehen, obwohl die Rohstoffe bei uns liegen. Zum Beispiel: Burkina Faso ist in Afrika neben Mali der größte Baumwollproduzent. Die Baumwolle ist sehr hochwertig. Damals hatte nur eine französische Firma die Kauflizenz und besaß das Monopol auf den Handel mit dieser Baumwolle. Das heißt, dass sie die Preise kontrollierte und diktierte. Es war aber ein Preis, von dem die armen Bauern nicht leben konnten. Sankara lud französische Vertreter ein und sagte ihnen: »Ab heute herrscht eine neue Politik«. Das haben die Franzosen nicht akzeptiert und den Westen dazu gebracht, die Baumwolle aus Burkina Faso zu boykottieren. Die Baumwollproduzierenden hatten plötzlich keine Käufer mehr und machten Druck.
Sankara aber begrüßte den Boykott. Er baute Textilfabriken auf, die die Baumwolle zu Kleidung weiterverarbeiten sollten. Bei seinen internationalen Reisen hatte Sankara immer burkinische Kleidung dabei, für die er Werbung machte. Damals trugen viele gerne europäische Kleidung und waren es so gewohnt. Per Dekret durften Beamte nur noch die burkinische Kleidung tragen, aber das haben viele nicht gerne getan. Und heute tragen die Leute besonders zu offiziellen Anlässen lieber burkinische Kleidung. Er setzte auch ein großes Wohnbauprojekt durch, denn damals lebten viele Menschen in Cités (informelle Siedlungen, Anm. d. Redaktion). Also wurden viele günstige Wohnanlagen gebaut. Anfangs wollte niemand freiwillig in die Wohnungen ziehen und lieber in den günstigeren Cités bleiben. Heute sind diejenigen, die damals die Wohnungen angenommen haben, die glücklichsten, weil sie in der heutigen Wohnsituation ihr eigenes Heim haben. Es gibt noch so viele solcher Beispiele – wir könnten den ganzen Tag hier sitzen und darüber reden.
Sankara lud französische Vertreter ein und sagte ihnen »ab heute herrscht eine neue Politik«.
Wie waren im Kontrast dazu die Jahre unter Compaoré?
Angefangen hat es mit den Strukturanpassungsprogrammen von Weltbank und IWF. Diese haben Länder gezwungen, Investitionen in Bildung, Landwirtschaft und Gesundheit zu kürzen, um finanzielle Unterstützung zu bekommen. Es war ein tödliches Programm. Sankara hatte das abgelehnt, aber nach seiner Ermordung hat Compaoré den Strukturanpassungsprogrammen zugestimmt. Da ging es mit der Privatisierung los – Konzerne aus dem Westen kamen günstig an die Staatsbetriebe. In vielen Ländern, wo es Kriege gab, war Burkina Faso beteiligt, wie in Liberia, Côte d’Ivoire, oder Angola. Jonas Savimbi (angolanischer antikommunistischer Politiker und Militär, Anm. d. Redaktion) oder Charles Taylor (ehemaliger Präsident von Liberia und Kriegsverbrecher, Anm. d. Redaktion) hatten beide eine Villa in Ouagadougou.
Compaoré hat auch mit den Waffenexportländern zusammengearbeitet, dort immer Waffen bestellt, angeblich für seinen eigenen militärischen Haushalt. In Wahrheit hat er die aber weiter exportiert. Der Westen, auch Deutschland, hat ihn deshalb als Verbündeten gesehen. Ich weiß noch, wie er als »Friedensmacher Westafrikas« nach Deutschland eingeladen wurde. Ich hatte damals eine Demonstration gegen den Besuch mitorganisiert und Morddrohungen von seinen Leibwächtern erhalten. Compaoré hatte einen Militärapparat im Militärapparat, der RSP hieß, »Régiment de Sécurité Presidentiel« (Präsidentengarde, Anm. d. Redaktion). Diese Spezialeinheit hatte mehr Macht als die nationale Armee. Das waren diejenigen, die gut ausgebildet und besonders skrupellos waren, viele Morde zu verantworten hatten und auch ins Ausland entsandt wurden.
Und trotzdem wurde er 2014 von den Menschen auf der Straße gestürzt.
Das hat lange vor 2014 angefangen. Es gab schon immer Bewegungen, wenn auch unter anderen Namen als Balai Citoyen. Viele haben versucht, die Diktatur vom Compaoré zu beenden und wurden ermordet oder sind verschwunden. Der Ausgangspunkt von 2014 war, als Blaise Compaoré ein weiteres Mal die Verfassung ändern wollte, um noch einmal zur Wahl anzutreten. Bis dato galt die maximale Amtszeit von zwei Legislaturen für Präsidenten. Da seine Partei eine Mehrheit im Parlament hatte, sollte die Änderung am 30. und 31. Oktober 2014 durch das Parlament bestätigt werden.
Da formierte sich die Bewegung Balai Citoyen. Besonders an dieser Bewegung war, dass Kunstschaffende die Protestbewegung neu gegründet und geführt haben, was viele junge Leute angezogen hat. Diese Bewegung formierte sich innerhalb von drei Tagen, zwischen dem 29. und 31. Oktober 2014. Der Protest war sehr gut organisiert, hatte aus der Vergangenheit gelernt und das »Ameisensystem« angewandt.
Was bedeutet das?
Zentralisierte Proteste konnten immer schnell von Polizei und Militär auseinandergetrieben werden, mit Verstärkung aus dem Umland. Im »Ameisensystem« wurde überall protestiert, in allen Teilen der Hauptstadt, in andern Städten und in den Dörfern. Es entstanden überall Ableger von Balai Citoyen. Wenn die Polizei eine Versammlung geräumt hatte, wurden sie auf dem Weg zur nächsten aufgehalten, weil in der Zeit Blockaden gebaut wurden. Die Verstärkung war auf dem Land beschäftigt und konnte nicht nachrücken. Am letzten Tag beteiligten sich auch die Frauen. Bei uns gibt es eine Tradition: Wenn Frauen einen Kochlöffel gegen dich als Mann erheben, dann bist du verflucht. Dieser Akt steht für die Selbstverteidigung der Frau und hat eine starke Symbolik. Am dritten Tag kamen sehr viele Frauen auf die Straße und hielten die Kochlöffel in die Höhe. Als ich das gesehen habe, war mir klar, dass wir gewonnen haben.
Am Abend des 30. Oktobers holte Compaoré das Militär, um mit Panzern das Parlament zu schützen. Vor dem Parlament schoss das Militär auf die Protestierenden und es gab Tote. Aber das schreckte die Masse nicht ab. Dem Militär blieben zwei Optionen: ein Massaker verüben oder sich zurückziehen. Sie mussten sich für den Rückzug entscheiden. Die Protestierenden drangen ins Parlament ein und setzten es in Brand. Dann nahmen sie den Weg zum Präsidentenpalast. Blaise Compaoré war zuvor schon mit Hilfe von französischen Helikoptern nach Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste) evakuiert worden. Dort lebt er bis heute. Er hat die Nationalität dort angenommen, weil Côte d’Ivoire eigene Staatsbürger nicht ausliefert.
Es gibt in Westafrika noch einige Länder, in denen gegen längere Amtszeiten demonstriert wird. Es ist für Machthaber schwieriger geworden, solche Änderungen durchzuführen. Macht das Hoffnung?
Wir sehen, dass sich Präsidenten in einigen Ländern für Halbgötter halten. Aber es gibt zum Glück ein transnationales Miteinander und Verbindungen zwischen den Bewegungen, die Synergieeffekte schaffen. Y’en a Marre aus Senegal war und ist mit Balai Citoyen im Kontakt und Balai Citoyen mit der Bewegung Filimbi aus dem Kongo. Vor ein paar Jahren wurden zwei Aktivisten von Balai Citoyen im Kongo festgenommen. Aber durch eine Intervention der jetzigen burkinischen Regierung wurden sie freigelassen. Das wäre früher nicht passiert. Ich sage immer, wenn es um Afrika geht, habe ich große Hoffnung, denn die Jugend heute tickt anders.