»Der Bulle als Arzt«
Lehren aus der Aidskrise für eine queere Gesundheitspolitik von unten
Von Tarek Shukrallah
In Teil 3 der Reihe über Lesben und Schwule im Kommunistischen Bund (KB) zeichnet Tarek Shukrallah die konservativen und bürgerlichen Reaktionen auf die Aidskrise sowie radikale, linke Gegenpositionen nach. Auch in der damaligen Pandemie zeigte sich deutlich, dass Gesundheit und Krankheit systematisch ungleich verteilt sind.
Der Kampf um die richtige Strategie der Bundesrepublik im Umgang mit der Aidskrise in den 1980er Jahren war auch eine Auseinandersetzung zwischen konservativ-autoritären und liberal-linken Ideologieprojekten. Für das rechtskonservative Milieu wurde Aids zur Chance, die in den 1970er Jahren verloren gegangene Deutungshoheit über Sexualität und Moral wiederzuerlangen. Für liberale und progressive linke Milieus war es ein Abwehrkampf gegen eine rigide Sexualmoral und den Zugriff von Staat und Gesellschaft auf Sex. Dieser Text behandelt die Kämpfe um die Ressource Gesundheit und ihre gegenwärtigen Anknüpfungspunkte für eine linke und queere Gesundheitspolitik. Wie in den vorangegangenen Texten dieser Reihe zur Geschichte linker lesbisch-schwuler Kämpfe und des Kommunistischen Bundes stehen dabei Beiträge aus dem Arbeiterkampf (AK), dem Vorgänger der analyse&kritk (ak), im besonderen Fokus.
Die Förderung queerer Gesundheit war immer ein Kampf gegen die Scham und gegen die rigide bürgerliche Sexualmoral. Erst die Selbstermächtigung, ohne Scham und Angst über die eigene Sexualität sprechen zu können, ermöglichte vielen Schwulen einen Zugang zu medizinischer Versorgung. Dazu waren und sind queere Freiräume, aber auch ein Blick auf die Klassenfrage und andere Ausschlussmechanismen notwendig.
Backlash bourgeoiser Begehrensstrukturen
Rechtskonservative und bürgerliche Milieus fühlten sich durch das Aufkommen von Aids in ihrer christlich-repressiven Sexualmoral bestätigt. Sie verliehen ihrer Ablehnung schwuler Sexualität in den großen Medien ihrer Zeit Ausdruck und schürten Hass gegen Schwule. Allen voran beschrieb der Spiegel in den 1980er Jahren schwule Subkultur als einen ewig unverbesserlichen Sündenpfuhl der Promiskuität und Ausschweifung. HIV/Aids wurde als Folge unethischen Sexualverhaltens dargestellt: »Vom Mehrverkehr, dem vielgeliebten, will keiner Abschied nehmen. Den kreuzbraven Rat zur Monogamie hat der Homo-Szene bislang auch noch niemand angetragen« und »Zu Aids gehören immer drei. Das ist das ethische Minimum.« (1) Es seien die »fröhlich schwingenden Homosexuellen«, deren Immunsystem durch ihr kulturelles Verhalten besonders beansprucht sei und die so an ihrem Sterben selbst schuld sind. (2) Man fürchtete den Niedergang der westlichen Zivilisation, ausgelöst durch freizügiges Sexualverhalten Schwuler. (3)
Kritik an der Stigmatisierung schwuler Sexualität tat das Blatt ab: »Es wogt in der Szene. Abwehrargumente, Besorgnisse zu Recht, aber auch eine erkennbar zwangsfixierte Befassung mit den vermeintlich wiedererwachten Verfolgern aller gleichgeschlechtlichen Liebe überlagern die meisten Dispute. Aufgeschreckt beschwören Funktionäre homosexueller Zirkel die bedrohte ›schwule Identität‹ – während man doch in Scharen zum Testen geht.« (4) Der Spiegel machte sich so in den 1980er Jahren zum Steigbügelhalter rechtspopulistischer Bestrafungsfantasien in Form von Meldepflicht und Internierungsforderungen wie sie prominent vom CSU-Staatssekretär Peter Gauweiler und CSU-Chef Franz Josef Strauß vertreten wurden. (5)
Der Bulle als Arzt ist eine Perversion des Sozialstaats.
KB-Genosse F., 1988 im Arbeiterkampf
Gegen den bürgerlichen Backlash organisierte sich in erster Linie die schwer getroffene schwule Subkultur. In Bars und Vereinsräumen wurden Spendengelder gesammelt, um Erkrankten und ihren (Wahl-)Angehörigen Unterstützung leisten zu können. Proteste gegen die neue Welle aus homophobem Hass und Stigmatisierung wurden ebenso organisiert wie Formen kollektiver Erinnerung an die verlorenen Freund*innen und Partner*innen. Mit dem akuten Handlungsbedarf entstanden neue Räume und subkulturelle Praktiken; aus der Notwendigkeit schneller Hilfe folgte auch eine Institutionalisierungsbewegung: 1983 gründete sich in Berlin die Deutsche Aidshilfe, die bis heute die wichtigste Interessensvertretung von Menschen mit HIV und HIV-Risikogruppen ist.
Unterstützung im Kampf gegen Aids-Diskriminierung, bürgerliche Bestrafungsfantasien und Homosexuellenfeindlichkeit kam aus der Frauen- und Lesben-Bewegung, und von links. Der AK skandalisierte etwa die Strafverfolgung HIV-Positiver, denen vorgeworfen wurde, wissentlich andere Menschen angesteckt zu haben, wie im prominenten Fall Lintwood B.: »Schaudernd durften Spießer im und außerhalb des Gerichtssaals ihre sexuelle Neugier als Ekel getarnt befriedigen, durften die Sachverständigen ihren apokalyptischen und die Richter ihren ordnungspolitischen Ergüssen freien Lauf lassen.« (AK 290)
Während Bild-Zeitung und Spiegel, Polizei und Teile des Justizapparates HIV-Positive nicht als Opfer einer potenziell tödlichen Erkrankung, sondern als lustgetriebene, gefährliche Täter darstellten und repressive Maßnahmen forderten, wurde in linken Medien gegen die rechte Instrumentalisierung der Katastrophe angeschrieben. »Aids dürfte kein Thema der Politik sein, schon gar nicht Gegenstand staatlicher Präventionsfantasien, sondern der Medizin. Der Bulle als Arzt ist eine Perversion des Sozialstaats. Zum Gegenstand linker Politik wird Aids erst und nur soweit, dann allerdings entschieden, als es für ordnungspolitische Zwecke funktionalisiert und mißbraucht wird, und zudem noch auf Kosten der medizinischen Bewältigung, wie die grassierende Aids-Phobie unter den Gesunden, die soziale Ausgrenzung der Kranken und die Kriminalisierung der ›Aids-Desperados‹ (6) zeigen. Die politische Funktionalisierung von Aids muß inzwischen mit zu den Ko-Faktoren dieser Krankheit gerechnet werden«, schreibt ein Genosse aus dem KB 1988 unter dem Pseudonym F. (AK 295).
Die wohl lautesten linken Stimmen dieser Phase der Aidskrise waren der spätere Leiter des Paritätischen Gesamtverbandes, Rolf Rosenbrock, der Sexualwissenschaftler und Schwulenaktivist Martin Dannecker sowie die Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch und Frank Rühmann. Dem bürgerlichen Ruf nach Versicherheitlichung und Zwang setzen sie Selbstvertretung, Aufklärung und ein Gesundheitsverständnis entgegen, das Diskriminierung, Stigmatisierung und soziale Ungleichheit als zentrale Gesundheitsrisiken ausweist. Damals wie heute ging es Aktivist*innen beim Thema Aids nie nur um das potenziell tödliche Virus und seine Übertragung, sondern um Homosexuellenfeindlichkeit und die bürgerlich-patriarchale Sexualmoral im Kapitalismus.
Aids und die Linke
Es ist nicht möglich, über Aids zu sprechen, ohne die Marginalisierung der Hauptbetroffenengruppen zu erwähnen: Schwule, Menschen mit intravenösem Drogenkonsummuster und Menschen in Ländern des Globalen Südens. Gesundheitsförderung bedeutet in einem solchen Verständnis den Einsatz für eine Gesellschaft, in der Menschen ohne Angst selbstbestimmte und aufgeklärte Entscheidungen treffen können und in der sie Zugang zu sämtlichen dazu notwendigen Ressourcen haben. Das bedeutet einerseits Aufklärung und Verhaltensänderungen, aber auch die Förderung emanzipatorischer Anliegen in den Hauptbetroffenengruppen.
Wie aktuell dieser Perspektivwechsel immer noch ist, sehen wir in der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie, in der beispielsweise Armut und Reichtum einzelner Gesellschaften, aber auch einzelner Personen darüber entscheiden, wie massiv die Ansteckungsgefahr und die negativen Konsequenzen einer Erkrankung jeweils sind.
In einem Versuch, eine kritische Perspektive auf die Auseinandersetzungen um Aids in den späten 1980er Jahren zu formulieren, schrieb ein*e anonyme*r Autor*in im Text »Linke zu Aids« bereits 1988 im AK: »Hier das kritische Aufspringen auf die staatliche Präventionslokomotive mit dem erklärten Ziel der Verhaltensänderung, dort die Abwehr einer die Selbstbestimmung des Individuums normierenden staatlichen Funktionalisierung der Krankheit, ohne die Notwendigkeit sachbezogener Aufklärung und praktischer Maßnahmen leugnen zu können. Das Dilemma ist deutlich: Im Schlepptau der staatlichen Kampagne und staatlicher Maßnahmen befinden sich beide.« (AK 291)
In anderen Worten: Die Forderung nach staatlich geförderten Präventionsprogrammen und die Unterwerfung unter Förderlogiken steht im Spannungsverhältnis zum emanzipatorischen Kampf für die Rechte von Queers. Aus diesem Gedanken entwickelte sich der Ansatz der »Strukturellen Prävention«, der 1995 zum Leitprinzip der Deutschen Aidshilfe wurde. Ein Ansatz, der Verhältnisprävention, also den Einsatz für eine Emanzipation marginalisierter Gruppen, mit Verhaltensprävention, der Vermittlung von Wissen über gesundheitliche Risiken und Strategien zur Risikominimierung, in einer Einheit denkt. Ihr zentraler Referenzpunkt ist die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (1986) und das Einsehen, dass Gesundheit mehr ist, als die Abwesenheit physischer und psychischer Erkrankung.
Was bleibt?
Vierzig Jahre nach Beginn der Aidskrise ist vor allem die Situation im globalen Norden eine andere. Die Entwicklung hochwirksamer Therapien nahm dem Virus die Tödlichkeit und ermöglicht Menschen mit HIV ein normales Leben. Seit 2008 ist nachgewiesen, dass HIV unter Therapie nicht übertragbar ist. In den vergangenen Jahren haben sich Präventionsstrategien vervielfältigt: Neben der Nutzung von Kondomen und dem Schutz durch eine HIV-Therapie ist der präventive Einsatz von Medikamenten zum Schutz vor einer Infektion (Präexpositionsprophylaxe, kurz: PrEP) eine Möglichkeit, Infektionen zu verhindern.
Für die prozentual mit Abstand größte der Hauptbetroffenengruppen im globalen Norden, Schwule, hat sich auch sonst vieles verändert. Seit 1991 ist Homosexualität aus dem Krankheitsregister der Weltgesundheitsorganisation gestrichen; 1994 wurde in Deutschland der homosexuellenfeindliche Strafrechtsparagraf §175 StGB endgültig abgeschafft; Aktions- und Bildungsprogramme gegen Homosexuellenfeindlichkeit sowie staatlich geförderte Kultur- und Bildungsinstitutionen sind beinahe flächendeckend vorhanden; und seit 2017 steht homosexuellen Paaren die Institution der Ehe offen.
In dieser Reihe wurde bereits thematisiert, dass solche Verbesserungen zweischneidig sind: Trotz oder gerade wegen aller Einbindung in die herrschenden Hegemonien sind die Lebensverhältnisse von Queers und anderen marginalisierten Gruppen weiterhin systematisch destabilisiert und diskriminierender Gewalt ausgesetzt. Von Eheöffnung und neoliberalen Diversity-Programmen profitieren in erster Linie weiße, cis-geschlechtliche Mittelklassen und das Kapital.
Eine queere, politische Praxis von links und unten stellt die Faktoren, die uns krank machen, in den Vordergrund. Ob und wie wir Zugang zu medizinischer Versorgung haben, ob und wie wir überhaupt krank werden, hängt fundamental von unserer Klassenposition, unserer Staatsangehörigkeit und Rassismuserfahrung, unserer geschlechtlichen Positionierung ab. Krank werden zuallererst die, die geknechtet und entrechtet sind, die an den Rand der Gesellschaft geschoben und ausgebeutet werden. Behandelt werden zuallererst die, die von den Verhältnissen profitieren. Linke, queere Kämpfe um die Ressource Gesundheit müssen deshalb Kämpfe für eine Gesellschaft sein, deren Grundlage nicht kapitalistische Verwertungslogik, sondern soziale Gleichheit und kulturelle Anerkennung ist.
Anmerkungen:
1) Der Spiegel, Nr. 23 (1983), S. 156f.
2) Der Spiegel, Nr. 23 (1983), S. 160
3) Der Spiegel, Nr. 39 (1985), S. 85
4) Der Spiegel, Nr. 5 (1985), S. 179
5) »Mei, des sind halt Aussätzige« im Stern, 26.02.87
6) Ein in den 1980er Jahren geläufiger diffamierender Begriff für HIV-Positive, denen vorgeworfen wurde, andere Menschen (bewusst) angesteckt zu haben.
Aus der Reihe:
Teil 1: Wir haben Geschichte
Lesben und Schwule waren lange im Kommunistischen Bund aktiv – was können wir aus ihren Kämpfen lernen? Teil 1
Teil 2: Kommunistische Queers oder queere Kommunist*innen?
Ob Klassenkampf oder queere Befreiung Vorfahrt haben sollte, wurde schon in den 1970er Jahren debattiert