Derailing Hamburg
Statt die rassistischen Brechmitteleinsätze gegen Schwarze Menschen aufzuarbeiten, diskutiert die Hansestadt über Cancel Culture gegen ehemalige Verantwortliche
Von Christina Büchs und Herrmann Wiere
Am 12. Dezember 2021 jährt sich Achidi Johns Tod zum zwanzigsten Mal. Er starb durch einen von mehr als 500 Brechmitteleinsätzen, denen sich Schwarzen Personen über Jahre hinweg unterziehen mussten. Vom damaligen Hamburger Innensenator und Bald-Kanzler Olaf Scholz eingeführt, wurden die Brechmitteleinsätze am Institut für Rechtsmedizin durchgeführt. Nun, zwanzig Jahre nach dem Tod von Achidi John, mussten Vertreter*innen aller demokratischen Parteien in der Hamburger Bürgerschaft gravierende politische Fehler bei den Brechmitteleinsätzen einräumen. Grund genug, die Causa Brechmittel im Kontext rassistischer staatlicher Gewalt endlich aufzuarbeiten.
Wie sehr sich die hanseatische Stadtgesellschaft allerdings gegen das Aufrollen der eigenen Geschichte sträubt, offenbart eine aktuelle Posse rund um das Hamburger Krimifestival. Dieses wird von Abendblatt, Literaturhaus und der Buchhandlung Heymann veranstaltet, die dafür jedes Jahr die Räumlichkeiten von Kampnagel mieten. Für den 4. November war eine Lesung mit Rechtsmediziner und »Truecrime«-Autor Klaus Püschel angekündigt. Über dessen vielfache Verfehlungen ließe sich an dieser Stelle einiges sagen. Entscheidend ist aber hier, dass kein geringerer als Püschel selbst das Institut für Rechtsmedizin jahrzehntelang (1991–2020) leitete und unter persönlicher Beteiligung die Brechmitteleinsätze in Hamburg hartnäckig bis 2020 auf »freiwilliger« Basis weiter durchführte – trotz der Einstufung der Praxis durch den deutschen Ärztetag als »ärztlich nicht vertretbar« (2002), trotz des Todes Laye Condés in der benachbarten Hansestadt Bremen nach einem Brechmitteleinsatz (2005), und trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das Brechmitteleinsätze als »unmenschliche und erniedrigende Behandlung« bezeichnete (2006).
Vor dem Hintergrund der inhaltlichen und künstlerischen Agenda distanzierte sich das Produktionshaus Kampnagel offiziell von der Lesung in den eigenen Hallen. Es folgte ein Bilderbuchbeispiel des medialen Derailing, eine perfekt inszenierte Abwehr durch Täter-Opfer-Umkehr, die immer wieder auftritt, wenn Rassismus thematisiert werden soll. Rassismus wird dabei von einem gesellschaftlichen Gewaltverhältnis auf das Niveau individuellen Fehlverhaltens geschrumpft, zu schlechtem Benehmen erklärt, wie es nur gesellschaftlich devianten Figuren wie »Nazis« und Ewiggestrigen unterstellt werden kann. Und da Herr Prof. Püschel ja ein angesehenes Mitglied der feinen Hamburger Gesellschaft ist – für das Abendblatt ist er gar »Hanseat des Jahres« – kann nicht sein, was nicht sein darf. Abendblatt, Welt, Bild und Co., alle verspürten spontan den Drang den netten Rentner zu bepüscheln und gegen »die Bösen« zu verteidigen. Und niemand spricht mehr über Rassismus – Zaubertrick gelungen!
Die rhetorische Figur »Da wurde dem weißen Mann der Mund verboten, das ist Cancel Culture!« dreht den Spieß um, und kann sich dabei getrost auf die geifernde Stamm-Leser*innenschaft verlassen, deren Empathie gerade genügt, sich die Gräuel des Rassismus-Vorwurfs für den »renommierten Rechtsmediziner« vorzustellen, zu einer Erahnung der rassistischen Gewalt, der Achidi John und die anderen Opfer der Brechmittel-Folter ausgesetzt waren, aber unfähig ist.
Das System weißer Vorherrschaft und ihrer gegenseitigen Inschutznahme läuft in Hamburg also wie geschmiert. Presse, Politik, Justiz, Polizei und UKE haben kein Interesse an einer konsequenten Aufarbeitung, an Entschuldigung und Entschädigung, an einer öffentlichen Erinnerung an Achidi John. Gut, dass sich alle am Brechmittelsystem Beteiligten aufeinander verlassen können, um eine Thematisierung in der Stadt weiter zu verhindern und stattdessen über das seit Jahren zitierte Phantom der linken Cancel Culture zu debattieren. Hamburg – eine Stadt, die zum Brechen reizt.