Militanter Feenstaub
In den USA ist von Striketober die Rede – was steckt dahinter?
Von Maximillian Alvarez und Luis Feliz Leon
Während die Reichen zu Hause blieben und die schlimmsten Monate der Pandemie auf ihren Fitness-Rädern aussaßen, schalteten Arbeiter*innen überall in den USA einen anderen Gang ein. 10.000 Beschäftigte des Landmaschinenherstellers John Deere in Iowa, Illinois, Kansas, Colorado und Georgia legten ihre Arbeit nieder und schlossen sich damit 1.400 Arbeiter*innen in den Kellogg’s-Fabriken in Nebraska, Michigan, Tennessee und Pennsylvania sowie 1.100 Kohlebergarbeiter*innen bei Warrior Met Coal in Alabama und Pflegekräften in New York und Massachusetts an.
Und Tausende weitere stehen in den Startlöchern: Von Beschäftigten im akademischen Bereich und im Gesundheitswesen bei Kaiser Permanente in Oregon, Kalifornien und Hawaii bis hin zu Beschäftigten in der Unterhaltungsindustrie, die, nachdem sie mit Arbeitsniederlegung gedroht hatten, eine vorläufige Vereinbarung erzielten, über die nun abgestimmt wird.
Das ist aber noch nicht alles: Die Taxifahrer*innen von New York City haben ihre ikonischen senfgelben Autos stehen gelassen und kampierten seit September vor dem Rathaus, wo sie rund um die Uhr eine Protestwache abhielten, die sogar in einen Hungerstreik überging. (Nach 15 Tagen konnten sie einen historischen Sieg erringen: Die Stadt New York, die die sogenannten Taximedaillen herausgibt, garantierte ihnen einen Schuldenerlass. Maximal 170.000 US-Dollar müssen die Fahrer*innen nun für ihre Fahrgenehmigungen zurückzahlen. Die Preise waren in den letzten Jahren spekulativ angeheizt und zwischenzeitlich auf astronomische Werte bis zu einer Millionen Dollar gestiegen. Die Aussicht auf lebenslange Verschuldung bei sinkenden Einkommen während der Corona-Pandemie hatte viele Fahrer*innen in die Verzweiflung und einige in den Selbstmord getrieben; Anm. der Redaktion.)
Wie auch immer man diesen deutlichen Anstieg von Arbeiter*innenmilitanz nennen will, eines ist klar: Im Allgemeinen wie auch auf individueller Ebene sind Arbeiter*innen in den USA so zuversichtlich wie schon lange nicht mehr. Und sie nutzen die Krise zu ihrem Vorteil. Diejenigen, die sonst stets Befehle ihrer Chefs empfangen mussten, setzen nun ihren neu gewonnenen Einfluss ein, um bessere Löhne zu fordern, während die sogenannten Arbeitgeber darum kämpfen, freie Stellen auf dem angespannten Arbeitsmarkt zu besetzen. Das Ergebnis sind nicht nur große, schlagzeilenträchtige Streiks – die zunehmende Kühnheit und das Durchsetzungsvermögen von lohnabhängig Beschäftigten zeigen sich auch anderweitig: »Wir erleben eine einzigartige Gelegenheit für viele Arbeiter, die an vorderster Front der Pandemie stehen und erkennen, dass die Arbeitgeber Schwierigkeiten haben, Mitarbeiter einzustellen«, sagt Johnnie Kallas, Projektleiter des Labor Action Tracker der Cornell University, einer Online-Datenbank, die Arbeitskampfmaßnahmen und Streiks unabhängig von ihrer Größe dokumentiert. »Wir haben beispielsweise seit Ende September sechs separate Streiks von Busfahrern – gewerkschaftlich und nicht gewerkschaftlich organisiert – dokumentiert, an denen zwischen 20 und 200 Beschäftigte beteiligt waren«, so Kallas. »Fast alle diese Streiks beinhalten Forderungen nach höheren Löhnen. Auch Gesundheits- und Sicherheitsbedenken wurden von den Streikenden geäußert.«
Etwa 30 Millionen Arbeiter*innen haben in den USA von Januar bis August zudem ihren Arbeitsplätzen den Rücken gekehrt, was von einigen als »Große Kündigung« (Great Resignation) und von anderen als »inoffizieller Generalstreik« bezeichnet wird – eine auf individueller Ebene vollzogene kollektive Ablehnung der alltäglichen Demütigung durch schlecht bezahlte, erniedrigende Arbeitsplätze. Stephanie Luce, Professorin für Arbeitsstudien an der City University of New York, stellt fest, dass die Streiks über formelle Streikaufrufe der Gewerkschaften hinausgehen. »Wir sollten die Bandbreite der Aktionen am Arbeitsplatz berücksichtigen, mit denen die Arbeitnehmer gegen ihre Arbeitsbedingungen protestieren – sie reicht von formellen Streiks bis hin zu Arbeitsverlangsamung, Arbeitsniederlegung und Kündigung. Arbeiter haben schon immer eine Reihe von Taktiken angewandt, die als Teil von Streiks betrachtet werden sollten.«
Und warum sollte man derzeit auch nicht das Handtuch werfen? Der*die durchschnittliche Arbeiter*in ist heute produktiver denn je, aber die Reallöhne stagnieren seit Jahrzehnten, da die Lebenshaltungskosten steigen und der Löwenanteil der von ihnen erwirtschafteten Gewinne von Spitzenverdiener*innen abgeschöpft wird.
Und doch: Obwohl viele Arbeiter*innen in den USA den Bossen nun die Hölle heiß machen, ist es ihnen noch nicht gelungen, einen Streik-Flächenbrand auszulösen.
Vor uns liegt noch ein langer Weg
Von Januar 2021 bis Ende Oktober gab es 258 Arbeitsniederlegungen in den USA – 39 dieser Streiks, an denen rund 24.000 Menschen beteiligt waren, fanden laut Labor Action Tracker allein im Oktober statt. Im Gegensatz dazu gibt das Bureau of Labor Statistics, das nur Arbeitsniederlegungen mit mindestens 1.000 Beschäftigten erfasst, die Zahl der Streiks seit Januar 2021 mit zwölf an, basierend auf Daten bis September 2021.
Die ernüchternde Wahrheit ist: Die Unzufriedenheit, die den aktuellen Anstieg von Streiks und Protesten verursacht, ist unglaublich bedeutsam, doch dieser Anstieg verblasst immer noch im Vergleich zu den 485.000 Beschäftigten, die 2018 gestreikt haben, und den 425.000 im Jahr 2019, die während der Streikwelle ihre Arbeit niederlegten, an der Lehrer*innen in Bundesstaaten von West Virginia bis Arizona sowie Beschäftigte in Autofabriken und Hotels beteiligt waren. Geht man noch weiter zurück, nämlich bis ins Jahr 1971, als es mehr als 5.000 Arbeitsniederlegungen mit mehr als drei Millionen Beschäftigten gab, wird die Realität noch deutlicher. Zehntausende Arbeiter*innen, die sich im Jahr 2021 wehren, sind zwar beachtlich, aber laut dem Jahresbericht 2021 des Bureau of Labor Statistics gibt es in den USA rund 14 Millionen gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte. Es ist ein großes Land, und wir haben noch einen langen Weg vor uns.
»Ich denke, der Begriff Streikwelle wird zu oft verwendet, denn es kommt darauf an, was man vergleicht«, sagt Kallas. »Wir wissen, dass die Veränderungen in unserer Wirtschaft Streiks seit den 1980er Jahren sehr viel schwieriger gemacht haben.« Es ist zwar zu einer journalistischen Routine geworden, eine Umfrage vom September zu zitieren, der zufolge mehr als 68 Prozent der US-Amerikaner*innen Gewerkschaften befürworten, aber die Zahl der neuen betrieblichen Organisierungsbemühungen steht in keinem Verhältnis zu diesen sich verändernden Trends in der öffentlichen Meinung. Dies sollte unsere fieberhafte Begeisterung zumindest etwas dämpfen. So weit, dass ein von Millionen getragener Arbeiter*inneraufstand die Bosse und unser Wirtschaftssystem in die Knie zwingt, sind wir noch nicht.
Die Unzufriedenheit, die den aktuellen Anstieg von Streiks und Protesten verursacht, ist bedeutsam, doch dieser Anstieg verblasst immer noch im Vergleich zu den 485.000 Beschäftigten, die 2018 gestreikt haben.
Erfolgreiche Streiks sind ansteckend und ermutigen Beschäftigte in anderen Betrieben, an ihrem eigenen Arbeitsplatz aktiv zu werden. Aber »ein gescheiterter Streik, der damit endet, dass die Streikenden dauerhaft durch Streikbrecher ersetzt werden, kann Angst und Hoffnungslosigkeit (…) verbreiten«, schreibt Shaun Richman von der Harry Van Arsdale Jr. School of Labor Studies in einem Beitrag für In These Times. Übersetzt heißt das: So sehr neue Streiks und die öffentliche Begeisterung für diese Kämpfe dazu beitragen können, der Arbeiter*innenbewegung den Rücken zu stärken, so sehr können gescheiterte Streiks und nachlassende öffentliche Anteilnahme für dieselben Kämpfe die Bewegung in eine falsche Richtung treiben. Selbst wenn die Militanz zunimmt, haben Arbeiter*innen einen, durch jahrzehntelange (sogar jahrhundertelange) arbeiterfeindliche Gesetze und eine gewerkschaftsfeindliche Kultur beengten Weg zu gehen. Aus diesem Grund plädiert Richman für eine Reform des Arbeitsrechts. Dazu gehöre auch das Recht, nach einem Streik an den Arbeitsplatz zurückzukehren (wir erinnern uns an den verhängnisvollen Tag 1981, als der oberste Streikbrecher Ronald Reagan mehr als 10.000 streikende Fluglots*innen feuerte).
Aus denselben Erwägungen wie Richmann drängen viele Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen auf die Verabschiedung des Protecting the Right to Organize Act (PRO Act): Sie argumentieren, dass dieser den Beschäftigten Wege eröffnen würde, die neue Militanz in Formen schlagkräftiger Arbeiter*innenorganisierung umzuwandeln. Solche Änderungen des US-Arbeitsrechts hätten beispielsweise unmittelbare Auswirkungen auf die Bergleute in Alabama, die seit acht Monaten streiken und von denen einige durch Streikbrecher ersetzt wurden. Stephanie Luce von der City University of New York erinnert daran, dass die Arbeitgeber über »weitaus mehr Rechte, Ressourcen, Anwälte und politische Macht (verfügen) als die Arbeitnehmer, was bedeutet, dass der durchschnittliche Arbeitgeber in der Lage ist, die durchschnittliche Gewerkschaft am Streikposten zu besiegen«.
Richtig harte Kämpfe
Seit April befinden sich auch zwei Dutzend Beschäftigte des Tanklagers der United Metro Energy Corporation in Brooklyn, New York, im Streik, nachdem mehr als zwei Jahre andauernde Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft Teamsters Local 553 und dem Milliardär John Catsimatidis gescheitert waren. Sechs Monate nach Beginn des Streiks erhielten acht Beschäftigte Permanent-Replacement-Bescheide (nach dem US-Bundesarbeitsgesetz darf ein Arbeitgeber während eines Streiks legal dauerhafte Ersatzkräfte – permanent replacements – einstellen; Anm. der Redaktion). Die ursprünglich zwei Dutzend Streikenden sind heute auf 14 geschrumpft, da einige andere Jobs angenommen haben, nachdem sie die Ersatzbescheide erhalten hatten. Dies berichtet der streikende Arbeiter Ivan Areizaga, 56, der seit fast sechs Jahren bei der United Metro Energy Corporation arbeitet.
»Ich hatte mich dem Unternehmen verschrieben. Ich habe von 22 Uhr bis 7 Uhr morgens gearbeitet. Sie haben nicht einmal berücksichtigt, dass ich eine Familie habe. Ich möchte ein Wochenende mit meinen Kindern verbringen«, sagt er. »Das einzige Mal, dass ich mir frei genommen habe, war, als meine Mutter starb. Drei Tage danach bin ich wieder zur Arbeit gekommen, ich habe nie einen Tag gefehlt und alles getan, was von mir verlangt wurde.« Abgesehen von den langen Arbeitszeiten erwähnt Areizaga auch, dass er 27 Dollar verdient, während der Branchenstandard für die gleiche Arbeit bei 37 Dollar pro Stunde liegt. Der Vater von drei Kindern begann deshalb, sich Gedanken um seine Rente zu machen. »Ich bin 56 Jahre alt. Wie viele Jahre soll ich arbeiten, bis ich für einen anständigen Lebensunterhalt für mich und meine Familie sorgen kann«, fragte er sich. Er schloss sich mit seinen Kolleg*innen zusammen und gründete eine Gewerkschaft.
»So sehr die Gewerkschaft das Recht hat zu streiken, so sehr haben wir nach dem Bundesarbeitsrecht das Recht, Mitarbeiter dauerhaft zu ersetzen, damit wir unsere Kunden bedienen können«, sagte wiederum Milliardär Catsimatidis gegenüber einer Lokalzeitung – und verwies damit darauf, dass die Diktatur der Bosse sich weitgehend auf existierendes Recht berufen kann.
Kurz nach dem Streikbeginn, so Areizaga, habe das Unternehmen seine Gesundheitsleistungen gekürzt. Er erzählt, wie sein Sohn, der an Diabetes leidet, vom College in North Carolina aus anrief und in Panik geriet, weil er keinen Zugang mehr zu seinen Medikamenten hatte. »Was wir fordern, hat er in der Portokasse«, sagt Arezaga über Milliardär Catsimatidis. Wir waren da während der Pandemie, als die anderen zu Hause saßen; wir waren da und haben für New York gesorgt.« Areizaga und seine Kolleg*innen versorgen New York mit Heizöl, Diesel und Benzin, mit dem Schulen, Krankenhäuser und die U-Bahn warm gehalten werden; außerdem sind sie für die Versorgung der örtlichen Tankstellen zuständig. Sie und ihre Arbeit sind unverzichtbar für die Stadt und ihre Bewohner*innen. Und doch macht es das geltende Arbeitsrecht den Chefs viel leichter als es sein sollte, streikende Arbeiter*innen zu ersetzen, während sie die Bedürfnisse und Sorgen von Menschen wie Areizaga gefahrlos ignorieren können.
Striketober mag bis jetzt nur ein viraler Hashtag gewesen sein, aber eine zunehmende Militanz von Arbeiter*innen liegt unübersehbar in der Luft und verbreitet sich wie Feenstaub. Er erreicht auch kleine Gruppen von Beschäftigten, die sich zusammenschließen und streiken. Wenn wir wollen, dass Striketober mehr wird als nur ein kurzer, heller Moment, dürfen wir Menschen wie Areizaga (oder die Bergleute bei Warrior Met Coal oder die Krankenpfleger*innen im St. Vincent Hospital in Massachusetts) nicht vergessen. Wir alle müssen tun, was in unserer Macht steht, um sie dabei zu unterstützen, ihre Kämpfe zu gewinnen, und wir brauchen eine konzertierte Strategie, um die systembedingten Hindernisse anzugehen und zu beseitigen, die das Gewinnen so schwer machen.
Dieser (leicht gekürzte und bearbeitete) Text erschien zuerst bei Real News Network (therealnews.com). Übersetzung: ak-Redaktion