»Für den Schutz unserer gemeinsamen Außengrenze«
Polen geht am östlichen Rand der EU gegen Geflüchtete vor und rüstet enorm auf – unterstützt von Deutschland
Von Alicja Flisak und Hanna Grześkiewicz
Die Situation an der Grenze zwischen Polen, also der EU, und Belarus ist seit Ende August dieses Jahres in den polnischen Nachrichten präsent, als 32 Menschen aus Afghanistan in der Nähe der Grenzstadt Usnarz Górny gefunden wurden. Sie saßen in einem von Stacheldraht umgebenen und von Soldat*innen bewachten Lager fest. Dort hielt man sie über zwei Monate lang unter unmenschlichen Umständen fest, bis Mitte Oktober einige von ihnen entkommen konnten. Der polnische Grenzschutz griff 17 Personen dieser Gruppe auf, und es ist unklar, wo sie sich jetzt befinden.
Seitdem hat sich die Lage dramatisch verschlechtert. Schon am 2. September hatte die Regierung den Ausnahmezustand ausgerufen, der am 1. Oktober um weitere 60 Tage verlängert wurde. Bis heute darf niemand das Gebiet an der Grenze zu Belarus betreten. Aktivist*innen, Ärzt*innen, Anwält*innen, Journalist*innen und Politiker*innen können nur bis zur Grenze des vom Ausnahmezustand betroffenen Gebiets gelangen. Offizielle der Armee und der ranghöchste Priester Polens haben kategorisch erklärt, dass sie keine Unterstützung benötigen, nicht einmal von den Ärzt*innen an der Grenze (Medycy na Granicy). Nur die Armee kann das Gebiet betreten, die inzwischen 10.000 Soldat*innen können sich dort als einzige frei bewegen. Die Verhängung des Ausnahmezustands war ein außergewöhnlicher Schritt der PiS-Regierung. Das letzte Mal wurde 1981 das Kriegsrecht verhängt, um die Solidarność-Bewegung niederzuschlagen.
Kurzzeitig gab es Gerüchte, dass das erste Lager für Asylbewerber*innen in einem Fußballstadion in Białowieża (Ostpolen) eingerichtet werden sollte. Es stellte sich jedoch heraus, dass dieses nicht für die Leidtragenden aus dem Wald gedacht war, sondern für die Unterbringung der neuen Truppen, die in die Region kommen. Die nationalen polnischen Nachrichtensender verbreiten ihre typische Propaganda und Fehlinformation. Kürzlich wurde in einem TVP-Nachrichtenbeitrag sogar eine fiktive Szene aus der schwedischen Fernsehsendung »Snabba Cash« verwendet, um zu zeigen, dass die »illegale Einwanderung Europa lähmt«; es gibt offensichtlich kein reales Filmmaterial, das dazu geeignet ist, diese Erzählung zu bebildern. Die belarussischen Nachrichten wiederum befinden sich vollständig in der Hand des Staates. Verlässliche und vollständige Informationen sind hier ebenso schwer zu bekommen.
Mindestens elf Tote
Was wir wissen: Alexander Lukaschenko hat in diesem Sommer die Visapflicht für die Einreise nach Belarus für Bürger*innen mehrerer Länder aufgehoben und dies ab Mitte Oktober auch auf Bürger*innen Pakistans, Ägyptens, Jordaniens und Irans ausgeweitet. Viele, deren Reisen meist in Afghanistan, Irak, Jemen und Somalia begannen, sind mit dem Versprechen einer sicheren Passage in die EU über Polen, Litauen oder Lettland nach Minsk geflogen. Für einige waren diese drei Länder das gewünschte Ziel – andere wollten nach Deutschland oder in andere westeuropäische Länder weiter reisen. Das Ausmaß der Beteiligung des Lukaschenko-Regimes an den Personentransporten ist unklar, und es gibt viele widersprüchliche Berichte. Klar ist jedoch, dass den Flüchtenden auf beiden Seiten der polnisch-belarussischen Grenze mit großer Brutalität begegnet wird.
Auch bezüglich der Zahlen existieren keine verlässlichen Informationen. Ein stellvertretender Bürgermeister der Grenzstadt Michałów geht davon aus, dass täglich bis zu 1.000 Menschen die Grenze überqueren – von denen etwa die Hälfte vom polnischen Grenzschutz aufgegriffen und brutal nach Belarus zurückgeschickt wird. Allein in der Woche vom 16. bis 22. Oktober gingen bei der Grupa Granica, einem Bündnis von Aktivist*innen, NGOs, Anwält*innen und Ärzt*innen, die sich für die an der Grenze festsitzenden Menschen einsetzen, 966 Hilferufe ein. Offiziell sind elf Todesfälle gemeldet worden. Doch angesichts des eingeschränkten Zugangs zum Gebiet und der ständigen Pushbacks könnten die Zahlen viel höher sein – und sind es wahrscheinlich auch.
Am 8. November waren in den sozialen Medien Videos zu sehen, in denen nach Angaben der belarussischen Behörden rund 2.000 Flüchtende zur polnischen Grenze in Kuźnica marschierten – begleitet von belarussischen Soldaten. Sie erreichten eine doppelte Mauer: aus Stacheldraht und dahinter aus polnischen Soldat*innen. Es wurden provisorische Camps eingerichtet; die EU sagte, dass die Sanktionen gegen Lukaschenko verschärft werden sollten und dass Polen (und Litauen und Lettland) das Recht hätten, die Grenze zu verteidigen; es wurden Schüsse (in die Luft) abgefeuert und Tränengas eingesetzt.
Die Regierungen Litauens, Lettlands und Polens beschuldigen Belarus, einen »Hybridangriff gegen Europa« unternommen zu haben, indem die dortigen Machthaber den Menschen Pauschalreiseangebote machten. Diese rechte Rhetorik wurde von den liberalen Medien übernommen und kürzlich auch von Horst Seehofer, dem geschäftsführenden deutschen Innenminister, wiederholt. Er bot dem polnischen Grenzschutz Unterstützung an und ließ an der deutsch-polnischen Grenze patrouillieren. Seehofer ignorierte dabei die Menschenrechtsverletzungen der polnischen Regierung, die Pushbacks quasi legalisiert und es fast unmöglich gemacht hat, Asyl in Polen zu beantragen. Ausdrücklich dankte er dem polnischen Ministerpräsidenten Mariusz Kaminski und dem polnischen Grenzschutz »für den Schutz unserer gemeinsamen Außengrenze«. In das gleiche Horn stößt auch die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, die auf einer Pressekonferenz meinte: »Er (Lukaschenko) versucht, die Europäische Union zu destabilisieren, indem er Migranten herholt und in die Europäische Union drängt.«
Die PiS wechselt ihre Feinde regelmäßig aus, alles im Namen der Ausgrenzung jener, die nicht in ihr Bild der perfekten Gesellschaft passen.
Die Erzählung eines »Hybrid-Angriffs« ist nichts Neues. Erst Anfang des Jahres kündigte Marokko ein Abkommen mit der EU über die Steuerung der Migration in die spanische Exklave Ceuta, und bis heute begleitet uns der Streit zwischen der Türkei und der EU über den (Anti-)Migrationspakt. Das eigentliche Problem dabei ist das Migrations- und Grenzregime der EU. Die europäischen Länder haben Richtlinien zur Auslagerung der Migration außerhalb der EU eingeführt, um Migrant*innen um jeden Preis von ihrem eigenen Territorium fernzuhalten.
Die Grenzagentur Frontex unterstützt Litauen und Lettland bei der Grenzüberwachung, während die polnische Regierung keinen Frontex-Einsatz erlaubt. Viele sehen den Grund dafür in dem andauernden Konflikt Polens mit der EU-Kommission über Rechtsstaatlichkeit und die Justizreform. Doch trotz des fehlenden Einsatzes scheint die Kooperation zwischen den polnischen Behörden und der Grenzagentur sehr gut zu laufen. Der Exekutivdirektor der in Warschau ansässigen Frontex-Niederlassung, Fabrice Leggeri, dankte den polnischen Behörden für die Hilfe bei der Sicherung der Außengrenze. Er sagte, er sei beeindruckt von den Mitteln, die bei der Kontrolle der Grenzgebiete eingesetzt werden. Man stünde seit Beginn der Krise in einem ständigen Informationsaustausch. Polen selbst ist aktiv bei Frontex und stellt Ausrüstung und Personal bereit.
Außerdem bereitet die polnische Regierung ein Gesetz zum »Schutz des Vaterlandes« vor. Sie hat vor, die Militärausgaben zusätzlich in die Höhe zu treiben, Kaczyński kündigte »eine radikale Stärkung der Streitkräfte« an. Polen gehört tatsächlich zu den wenigen Ländern, die das NATO-Ziel, mindestens zwei Prozent des Brutto-Inlands-Produkts (BIP) für Militärzwecke auszugeben, erreicht. Bis 2030 will Warschau die Ausgaben sogar auf bis zu 2,5 Prozent des BIP wachsen lassen. Rassismus und Militarismus sind auch in diesem Fall zwei Seiten derselben Medaille.
Erstmals größere Proteste für offene Grenzen
Ein paradoxer Effekt der jahrelangen, zunehmend faschistisch geprägten Regierung unter Kaczyński und der PiS-Partei ist, dass sich mehr Menschen in Polen als je zuvor gesellschaftspolitischer Themen, etwa der Einschränkung reproduktiver Rechte, der Verfolgung der LGBTQIA+-Community und nun der humanitären Krise an der Ostgrenze bewusst sind. Im Jahr 2015 gab es kaum Widerstand gegen die Regierungslinie zur (Nicht-)Aufnahme von Flüchtenden. Die jüngsten Demonstrationen, bei denen die Öffnung der Grenze zu Belarus gefordert und die Regierung für ihre Rolle in der anhaltenden humanitären Krise verurteilt wurde, sind etwas, das wir zum ersten Mal erleben. Zum ersten Mal haben viel mehr Menschen außerhalb der kleinen Aktivist*innenkreise das Gefühl, dass all diese Kämpfe auch ihre sind.
Tatsächlich sind die Themen miteinander verknüpft: Die PiS wechselt ihre Feinde regelmäßig aus, alles im Namen der Ausgrenzung jener, die nicht in ihr Bild der perfekten Gesellschaft passen. Derzeit hat die polnische Zivilgesellschaft mit einer ganzen Reihe von Krisen zu kämpfen: Am 29. Oktober starb eine Person, der der Abbruch einer Schwangerschaft verweigert worden war; Kaja Godek, Polens berüchtigtste Anti-Choice-Organisatorin, ist dabei, das Gesetz »Stop LGBT« im Sejm durchzubringen, das unter anderem Pride-Märsche verbieten würde; und wöchentlich werden neue Todesfälle an der Grenze zu Belarus gemeldet.
Das heißt nicht, dass die PiS und ihre zahlreichen Handlanger*innen bei all diesen Themen gegen eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung handeln. Nach Jahren konsequenter Mobilisierung aber hat sich beispielsweise das Narrativ rund um das Thema Schwangerschaftsabbruch geändert: Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung eine Aufhebung des Beinahe-Verbots wünscht. In den letzten zwei Jahren gab es zudem mehr Pride-Märsche als je zuvor, was die Sichtbarkeit queerer Menschen in der polnischen Öffentlichkeit enorm erhöht und einige Erfolge erzielt hat (wie die Aufhebung mehrerer LGBT-freier Zonen)
Die Bewegung für offene Grenzen steckt noch in den Kinderschuhen, aber einiges spricht dafür, dass sie wachsen wird, nicht zuletzt ein viel größeres Bewusstsein und Erfahrungen mit Mobilisierungen innerhalb der polnischen Zivilgesellschaft. Allerdings drängt die Zeit: Bald werden die Temperaturen im Wald dauerhaft unter Null liegen, der Regen wird sich in Schnee verwandeln, und die Todesfälle (von denen wir wissen) drohen in die Hunderte zu gehen. Nur durch verstärkten und konsequenten Druck, auch und vielleicht besonders aus dem Ausland, besteht die Chance, diese Krise zu lindern und Leben zu retten.