Widerstand im postfaschistischen Staat
Anti-ableistische Aktivist*innen organisierten sich seit den 1970ern in der Krüppelbewegung
Von Frédéric Valin
In den 1970er Jahren entstand in Deutschland die sogenannte Krüppelbewegung, als Reaktion darauf, dass sobald behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammen öffentlich auftraten, immer die nichtbehinderten Personen befragt und wahrgenommen wurden. Ziel war es, die Belange von Menschen mit Behinderungen in den öffentlichen Diskurs zu bringen, Forderungen zu formulieren und auch durchzusetzen. Es ging, kurzum, um Selbsthilfe.
Eine der ersten öffentlichen Aktionen war die Frankfurter Straßenbahnblockade im Jahr 1974. Einer der Initiator*innen, der 2004 verstorbene Gusti Steimer, erzählt im Medium ForseA: »Ein Rollstuhlfahrer versuchte, in die Straßenbahn einzusteigen. Stufen und eine Mittelstange versperrten ihm den Zutritt. Währenddessen rollte ich auf die Schienen, stellte mich vor die Straßenbahn und erklärte über ein Megaphon, dass Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen nicht für Behinderte konstruiert wurden. Die Straßenbahn zieht kurz an, eine Drohgeste, als wolle sie weiterfahren, doch der Fahrer kann schließlich keinen Behinderten überfahren und hält. Über Außenlautsprecher fordert er mich auf, die Schiene freizugeben. Ich erwidere, wenn ich mitfahren könne, sei ich sofort von den Schienen. Ich erläuterte den Fahrgästen, dass ich ihnen deutlich machen möchte, was Behinderung ist. Ich wies darauf hin, dass die Fahrgäste jetzt erleben, nicht weiterfahren zu können, und dass ich und andere Rollstuhlfahrer immer diese Situation, vor einer Straßenbahn zu stehen und nicht reinzukommen, erlebten. Frankfurter Bürger sammelten sich am Ort des Geschehens. Unabsichtlich blockierten sie mit uns die Straßenbahn und den Verkehr. Einige stimmten uns zu und hielten die Blockade für eine gute Sache. Andere beschimpften uns wüst, versicherten, dass bei Hitler ›so was vergast worden wäre‹. Dritte wollten ein Maschinengewehr hineinhalten. Ich hatte nach 20 Minuten die Schienen verlassen, nachdem ich noch einmal erklärte, dass Behinderung eine sehr reale Sache sein kann und dass ich hoffte, die Passanten hätten gespürt, wie sich Behinderte ständig fühlen müssen, die aus Öffentlichen Verkehrsmitteln ausgesperrt sind.«
»Entgangene Urlaubsfreuden«
Die Szene vernetzte sich weiter und führte gemeinsame Aktionen durch. Einen größeren Widerhall fanden die Proteste gegen das sogenannte Frankfurter Skandalurteil von 1980: Eine Pauschalreisende hatte gegen den Veranstalter auf »entgangene Urlaubsfreuden« geklagt. Neben der miserablen Ausstattung des Hotels und dem schlechten Essen führte sie auch auf, dass unter den Gästen auch »etwa 30-40 körperlich und geistig schwerstbeschädigt« waren, die meisten »verunstaltete Geistesgestörte«, von denen »keiner der Sprache mächtig war«.
Das Landgericht Frankfurt folgte der Argumentation der Klägerin und hielt in seinem Urteil fest: »Es ist nicht zu verkennen, daß eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann. Dies gilt jedenfalls, wenn es sich um verunstaltete, geistesgestörte Menschen handelt, die keiner Sprache mächtig sind, von denen einer oder der andere in unregelmäßigem Rhythmus unartikulierte Schreie ausstößt und gelegentlich Tobsuchtsanfälle bekommt. So wünschenswert die Integration von Schwerbehinderten in das normale tägliche Leben ist, kann sie durch einen Reiseveranstalter gegenüber seinen anderen Kunden sicher nicht erzwungen werden. Dass es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu ändern; aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will.«
Die Aktivist*innen ließen sich nicht durch den durchsichtigen Versuch einfangen, gute von schlechten, integrierbare von störenden Menschen mit Behinderung zu unterscheiden.
Das Urteil löste einen Sturm der Entrüstung aus, der weit über aktivistische Kreise hinausging. Das Landesgericht Frankfurt sah sich zu der ungewöhnlichen Maßnahme gezwungen, eine Pressekonferenz einzuberufen, um das eigene Urteil nochmal zu erklären und einzuordnen. Der Vorsitzende Richter, Otto Tempel, ließ dort wissen, das Urteil richte sich nicht gegen alle Behinderte, sondern nur gegen diese eine Gruppe, das heißt »psychisch schwer kranker Menschen, deren Gebrechen derart waren, daß jedem einzelnen ein eigener Pfleger – trotz der damit verbundenen enormen Kosten – beigegeben wurde.« (Wie der Journalist Ernst Klee später herausfand, erwiesen sich diese Angaben des Richters obendrein als unwahr.)
Die Aktivist*innen ließen sich nicht durch den durchsichtigen Versuch einfangen, gute von schlechten, integrierbare von störenden Menschen mit Behinderung zu unterscheiden. Stattdessen organisierten sie sich und meldeten für den 8. Mai 1980 eine Demonstration in Frankfurt an. Anfangs rechneten sie mit höchstens 200 Teilnehmer*innen, im Endeffekt nahmen 5.000 Menschen teil. Ernst Klee, der selbst teilnahm, berichtet in seiner Dokumentation »Behinderte im Urlaub?«: »Der Demonstrationszug zieht durch die Innenstadt, über die Hauptstraßen des Cityrings. Nie im Leben haben die Bürger so viele Behinderte gesehen, Hunderte von Rollstuhlfahrern, geistig Behinderte, Lernbehinderte, Eltern mit ihrem behinderten Kind, Contergan-Geschädigte, Kleinwüchsige, Ehepaare mit behinderten Partnern. Nie zuvor hat es in der Bundesrepublik und auch in Europa eine so große Demonstration gegeben, zu der sich alle Behinderten vereinigt haben, seien sie nun körperlich oder geistig behindert. Es ist der Tag, an dem Behinderte und Nichtbehinderte zu gemeinsamem Protest, aber auch zu gemeinsamer Stärke und Selbstbewusstsein finden. Es ist der Tag, an dem die Behindertenhierarchie, wonach die Körperbehinderten besser dastehen als die geistig Behinderten, aufgehoben ist, an dem gemeinsam um Menschenrechte gekämpft wird.«
Im Jahr darauf, 1981, fand das »UNO-Jahr der Behinderten« statt. Die Aktivist*innen nutzten die Aufmerksamkeit, um ein Krüppeltribunal zu installieren: Dort klagten sie öffentlichkeitswirksam Menschenrechtsverletzungen gegen Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik an. Die Journalistin und Aktivistin Rebecca Maskos schreibt in ihrem Aufsatz »Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung« in der Zeitschrift Mondkalb über die Forderungen der Demonstrierenden: »Ein Stop der Aussonderung durch Heime, Werkstätten, Rehabilitationszentren und Psychiatrien, gleicher Zugang zu Gebäuden, Bussen und Bahnen und mehr Gelder für Hilfsmittel. Skandale der Pharmaindustrie sollten aufgedeckt werden. Erstmals wurde auch die Situation behinderter Frauen thematisiert, – dass sie besonders von sexualisierter Gewalt betroffen sind, war bis dahin kaum bekannt.« 1986 gründete sich in Bremen, einem der vitalsten Zentren der Bewegung, die erste Beratungsstelle »Selbstbestimmtes Wohnen«.
Fortsetzung faschistischer Ideologie
Eine größere Kontroverse lösten dann 1989 geplante Auftritte des sogenannten Ethikers Peter Singer aus. Singer vertritt eine utilitaristische Ethik, die Lebenswert daran bemisst, ob Menschen der Gesellschaft etwas »bringen« oder »Kosten verursachen«. Er unterscheidet dabei zwischen Menschen und Personen. Eine der zentralen Thesen seiner »Praktischen Ethik« lautet: »Die Tötung eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleichbedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie überhaupt kein Unrecht.«
Bereits in den Jahren zuvor waren immer wieder Veranstaltungen von Eugenikern wie etwa Julius Hackethal, der sich als Vertreter des »Erlösungstodes« inszenierte, verhindert worden. Peter Singer sollte an Symposien unter anderem in Dortmund und Marburg teilnehmen, zweiteres organisiert von der »Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte«, um dort die Frage zu diskutieren, ob Neugeborene mit Behinderung ein Lebensrecht hätten. Die Proteste im Vorfeld allerdings führten zur Ausladung Singers. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe konstatierte: »Wir können nicht mehr garantieren, daß die Diskussionen so ablaufen, wie wir sie geplant haben. Es sind ja Aktionen angekündigt worden, Gegenaktionen.«
Trotz der Erfolge, die diese Gegenaktionen kurzfristig hatten, hat sich für Menschen mit Behinderung die rechtliche Lage seither verschlechtert. Die Pränataldiagnostik schreibt die Diskriminierung fort, und auch in den Diskussionen rund um die Sterbehilfe werden selten anti-ableistische Perspektiven gehört. Stattdessen kommt es alle paar Jahre zu Kontroversen um Peter Singer, wenn er wieder auftreten soll, Preise verliehen bekommen soll oder Zeitungs-Interviews gibt, in denen er die Tötung Neugeborener mit Behinderung fordert.
Der Anfang vom Ende der Krüppelbewegung, so schildert es Udo Sierck im Interview mit der Online-Zeitung Schattenblick, war der Versuch, die eigenen Belange in die Parlamente zu tragen. »Es gab aus den Krüppelgruppen heraus verschiedene Bewegungen. Die eine Bewegung hat die politische Arbeit bei den Grünen aufgenommen, wodurch die Krüppelgruppen einen starken Aderlaß erlitten, einfach weil treibende Figuren weg waren. Andererseits sind ab 1985, 1986 oft aus den Krüppelgruppen heraus Selbstbestimmt-Leben-Initiativen entstanden, die in größeren Städten zuerst eigene Beratungszentren aufgebaut haben. (…) Ich habe in Hamburg ein paar Jahre bei der Grün-Alternativen Liste mitgearbeitet und war auch in der Bundesarbeitsgemeinschaft für Behinderte Menschen bei den Grünen dabei. Einmal abgesehen von der Gesamtentwicklung der Grünen habe ich erkannt, dass für den Einsatz, den man dort bringt, zu wenig herauskommt. Wir hatten ja die falsche Vorstellung, die Utopie, dass die Grünen, weil sie auch Sozialbewegungen aufgesogen haben, andere Menschen wären. Das war natürlich Humbug. Wir hatten dort genau die selben Probleme wie überall. Dann stellt sich einem die Frage, gehst du woanders hin oder bleibst du in den grünen politischen Gremien stecken? Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Ich habe gesagt: Nein, das mache ich nicht mit.«
Deutschland ist auch heute noch weit davon entfernt, die UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt zu bekommen; entsprechend zahlreich sind die Kämpfe, die heutige Aktivist*innen zu führen haben. Noch heute ist es so, dass sich verlässliche Partner*innen für diese Kämpfe nur punktuell finden lassen. Die Pandemie hat noch einmal brutal den dieser Gesellschaft zugrunde liegenden Ableismus inklusive Triage-Diskussionen und Segregationsfantasien offengelegt, auch in Teilen der radikalen Linken. »Ableismus ist so ein neues und komplexes Thema in Deutschland«, sagt Tanja Kollodzieyski, Literaturwissenschaftlerin und Aktivistin, »dass sich die meisten Menschen noch gar nicht selbst darin reflektieren wollen«.
Weiterlesen:
Christian Mürner, Udo Sierck: Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts. 2012. Beltz.
Kirsten Achtelik: Selbstbestimme Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. 2015. Verbrecher Christian Mürner, Udo Sierck: Behinderung. Chronik eines Jahrhunderts. Verbrecher Verlag.
Oliver Tolmein: Keiner stirbt für sich allein Sterbehilfe. Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung. 2006. C. Bertelsmann.
Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich: Karrieren vor und nach 1945. 2011. Fischer.
Götz Aly: Die Belasteten. »Euthanasie« 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. 2013. Fischer.