Die Bohème aus dem Gaskombinat
»Kinder von Hoy« ist eine kollektiv erzählte Geschichte vom Aufstieg und Fall der DDR-Planstadt Hoyerswerda
Von Nelli Tügel
Gute Bücher über den Osten sind noch immer rar gesät. Doch es tut sich was, vor allem im Genre des autobiografischen Romans. Manja Präkels (Jahrgang 1974) fand mit »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« Worte für die bleierne Schwere in jenen, die als Jugendliche in der ostdeutschen Provinz die 1990er Jahre erlitten hatten. Bald erscheint das Buch des Zugezogen-Maskulin-Rappers Testo aka Hendrik Bolz (Jahrgang 1988) über die »Jugend in blühenden Landschaften« der Nullerjahre. »Die literarische Aufarbeitung geht langsam voran«, kommentierte der selbst literarisch begabte, ostdeutsche Journalist und ak-Autor Sebastian Bähr (ebenfalls Jahrgang 1988) unlängst auf einem bekannten Social-Media-Dienst.
Mit »Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror« liegt seit einigen Wochen ein weiteres Werk vor, das diese literarische Aufarbeitung voranbringt. Die Autorin, die aus Hoyerswerda stammende Filmemacherin Grit Lemke, ist allerdings deutlich älter als Präkels, Bolz oder Bähr – Jahrgang 1965 nämlich. Das macht ihr Buch umso wertvoller. Denn »Kinder von Hoy« gibt nicht nur Auskunft über die Baseballschlägerjahre, den Straßenterror, die No-Future-Stimmung, die die Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Geborenen so geprägt hat. Vielmehr geht es in dem Buch ausführlich darum, was vorher war. Um das, wofür im Untertitel »Freiheit« und »Glück« stehen.
Dennoch ist von Beginn an (auch) klar, worauf die Erzählung hinausläuft: das rassistische Pogrom von 1991. Nicht nur der Erscheinungstermin des Buches zum 30. Jahrestag des Pogroms und der mit Freiheit und Glück einen dialektischen Dreiklang bildende Terror im Titel verweisen darauf, sondern auch die schon früh im Buch beginnende Thematisierung von Alltagsrassismus durch den mosambikanischen ehemaligen Vertragsarbeiter David.
Spielen auf Beton
Grit Lemkes Name steht zwar auf dem Buchdeckel, »Kinder von Hoy« ist aber ein Kollektivwerk. Aus Interviews mit verschiedenen Menschen, die wie sie in Hoyerswerda leb(t)en und (fast) alle ihrer Generation angehören, hat Lemke einen dokumentarischen Roman geschrieben, in dem sie die von Annie Ernaux bekannte, das »ich« vermeidende Erzählweise mit längeren Zitaten verschiedener Personen »des Kollektivs« virtuos verwebt.
Wo es bei Ernaux indes um »das Land«, »die Generation« und »die Klasse« geht, handelt »Kinder von Hoy« schlicht von den Bewohner*innen Hoyerswerdas. »Später wird es uns merkwürdig erscheinen, wenn Berliner behaupten, sie hätten in der DDR gelebt.« Und: »An den Gedanken, zum selben Volk wie die Berliner zu gehören, müssen wir uns erst gewöhnen«, heißt es im Kapitel über die Zeit von »Wir sind das Volk«, die Zeit der Revolution in der DDR, die eher spät und verhalten nach Hoyerswerda kam. Hier, am Rande der kleinen DDR, tickten die Uhren anders.
Denn Hoyerswerda war eine Planstadt, die zweite nach Stalinstadt (später: Eisenhüttenstadt). Nach dem Krieg lebten 7.000, Anfang der 1980er Jahre 70.000 Menschen (heute: 30.000) in Hoyerswerda. Die dafür »aus dem Heideboden gestampfte« Neustadt bestand aus immer weiter wachsenden Wohnkomplexen, liebevoll-spöttisch Arbeiterschließfächer genannt (heute: »Platte«). Aus brandenburgischen und sächsischen Dörfern kamen die Menschen hierher, um im Gaskombinat Schwarze Pumpe zu arbeiten, für das die Planstadt errichtet worden war; ihre Kinder holten sie etwas später nach. Die Stadt hatte damit eine ganz eigene Demografie: Sie bestand fast ausschließlich aus Arbeiter*innen und Kindern, war die kinderreichste Stadt der DDR, dafür gab es keine Alten. Die Schichtarbeit im Gaskombinat war das, was alles strukturierte, dem Ort einen Rhythmus (»Erste, zweete, dritte Welle«) gab und seine Bewohner*innen zusammenhielt. Um dem Ganzen etwas Arbeiterkultur und Tradition beizumischen, schickte die DDR Bergleute von der Wismut aus dem Erzgebirge nach Hoyerswerda.
Dort orientierte man sich gen Zukunft. Die Jungen eroberten die unfertige Stadt, und weil alle Eltern in Pumpe arbeiteten, waren sie dabei auf sich allein gestellt: Nicht nur diese große Freiheit erlebten die Kinder von Hoy in den 1970er und Anfang der 1980er Jahre intensiv, sie träumten auch von einer großen Zukunft, zum Beispiel im Weltraum während der – wegen zu vieler Schüler*innen eingeführten – nullten Stunden im Planetarium.
Die Schichtarbeit im Gaskombinat war das, was alles strukturierte, dem Ort einen Rhythmus gab und seine Bewohner*innen zusammenhielt.
Arbeiterkultur mit Gundermann
Die Zukunft aber blieb aus. Die Stadt wurde nie fertig, es gab zu wenige Wohnungen. Jahrelang warteten die »Hoyerswerdschen« vergeblich auf ein Stadtzentrum und stapften doch immer weiter durch die riesige Matsche, die sich bei Regen auf dem unbetonierten Platz bildete. Und die vom Kosmonismus träumenden Kinder landeten als junge Erwachsene nach zehn Jahren Schule natürlich nicht im All, sondern im Gaskombinat. Dort lernten sie zwar eine Menge, etwa mit Hinterköpfen angeregte Gespräche zu führen, weil im Schichtbus alle nur in eine Richtung guckten (so passten mehr Arbeiter*innen in den Bus). Enttäuscht waren sie dennoch.
Auch der in Aussicht gestellte Kulturpalast ließ auf sich warten. Hier aber behalfen sich die in Hoyerswerda erwachsen Gewordenen selbst. Sie machten Kultur-Avantgarde. Gundermann ist der bekannteste eben jener Hoyerswerdaer Arbeiterbohème dieser Jahre. Dass »Gundi« Baggerfahrer in Pumpe und zugleich Liedermacher war, fand man außerhalb Hoyerswerdas (später auch im Westen) »spannend«, vor Ort war es normal. Denn hier arbeiteten ja alle, auch die Künstler*innen, in Pumpe. An wechselnden Orten in der Stadt wurde während der 1980er Jahre wie rasend entworfen, ausprobiert, gevögelt, aufgeführt, gelesen – und weiter gewartet: Als dann doch noch der Kulturpalast kam, war es schon zu spät. Kurz danach gab es erst die DDR und dann bald das, was Hoyerswerda zusammengehalten hatte, den Pumpe-Rhythmus, nicht mehr.
Danach folgte der Terror: Er traf zuerst diejenigen, die in Pumpe arbeiteten, aber nicht aus der DDR, sondern zum Beispiel aus Maputo kamen – die DDR hatte in den 1970er und 1980er Jahren sogenannte Vertragsarbeiter*innen angeworben. David musste 1991 nach dem Pogrom wie alle Vertragsarbeiter*innen und Asylbewerber*innen auf Druck der Politik fluchtartig die Stadt verlassen. Die Nazis feierten Hoyerswerda als »ausländerfrei« – und suchten sich neue Opfer. Der Terror, die ständigen Überfälle und auch Morde jagten schließlich den Großteil des Erzählkollektivs in die Flucht. Auch Grit Lemke zog nach Leipzig. Heute lebt sie in Berlin und zeitweise wieder in Hoyerswerda, wo die früher stets voll belegten Wohnkomplexe zurückgebaut wurden, weil keine*r mehr drin leben möchte.
»Das wissen wir nun wirklich besser«
»Kinder von Hoy« erklärt viel. Vor allem viel über das Hoyerswerda vor 1989. Danach beginnt eine Sprach- und Hilflosigkeit, die viele jüngere Menschen aus dem Osten schon von ihren Eltern kennen. Einiges ist glasklar: »Als Brandsätze in die Wohnheime der Ausländer fliegen und eine Menge sich vor ihnen versammeln und dazu jubeln wird, (…) wird es heißen, die Gewalt sei aus dem Nichts und von außen gekommen. Das wissen wir nun wirklich besser.« Doch einiges kann auch das Kollektiv bis heute nicht begreifen. Zum Beispiel, wie es sein konnte, dass man im September 1991 einem Kunstprojekt nachging, während 200 Meter Luftlinie entfernt über Tage der Mob tobte: »Während die Vietnamesen (…) um ihr Leben laufen, beschäftigen wir uns im Laden (dem Jugendklub, Anmerkung der Autorin) mit der Figur des Hasen bei Beuys.«
Zur Wut wird diese durchaus selbstkritische Erklärungsnot, wenn es um die – erst nach dem Pogrom – angereisten auswärtigen Antifas geht: Aus Sicht des Kollektivs stellten diese sie und jene Anwohner*innen, die gegen Rassismus demonstrieren wollten, pauschal unter Faschismusverdacht, um dann rasch wieder zurück ins kuschelige Berlin-Kreuzberg zu fahren. Ob sich das so zugetragen hat (die Erzählungen gehen stark auseinander), sei dahin gestellt. Dass der Graben zwischen den Ost-Linken und angerückten Bescheidwissern aus dem Westen tief war, ist allerdings eine Tatsache, die bis heute nachwirkt. Auch im Kollektiv. Das verlegte sich jahrelang aufs Beschweigen dieser Zeit. Erst die Kindergeneration (also die in den 1980ern bis 1990ern Geborenen) forderte Aufarbeitung, nahm sie teils selbst in die Hand und zwang so die Älteren, ihr Schweigen zu brechen. Einiges können sie, die Kinder von Hoy, die heute Älteren, noch immer nicht erklären, und das ist besser, als es sich einfach zu machen. Doch reden sie nun wenigstens in dieser in jeder Hinsicht aufwühlenden Erzählung.
Grit Lemke: Kinder von Hoy – Freiheit, Glück und Terror. Suhrkamp, Berlin 2021. 256 Seiten, 16 EUR.