Das andere Proletariat
Aufgeblättert: »Lumpenproletariat« von Christopher Wimmer
Von Malte Meyer
Weil es zwischen der intellektuellen Dissidenz der Arbeiterbewegung und den sozial verfemten Milieus der unterbürgerlichen Klassen schon seit mindestens zwei Jahrhunderten eine mehr oder weniger entfernte Wahlverwandtschaft gibt, tragen Ghetto- und Gefängnisaufstände, Plünderungen, wilde Streiks, Sabotageaktionen wie auch weniger spektakuläre Arten von »Devianz« immer wieder zur Infragestellung von systemimmanenter Opposition bei. Die spiegelbildliche Abwertung der Unterklassen zu einem »Lumpenproletariat« interpretiert der Sozialwissenschaftler Christopher Wimmer deshalb als bis in die Gegenwart wirksames Erbe von identitätspolitischem Klassismus innerhalb der offiziellen Arbeiterbewegung. Nicht erst die nach Respektabilität strebenden Arbeiter*innenorganisationen hätten sich die bürgerliche Verachtung »unwürdiger« Armut zu eigen gemacht – bereits Marx und Engels benutzten in ihrem Fraktionskampf gegen den Anarchismus dieses mehr als fragwürdige Stilmittel. Wimmers Buch rekapituliert die zumeist pejorative, immer mal wieder aber auch heroisierende Verwendung des Begriffs Lumpenproletariat in der politischen Linken, ist aber keine Sozialgeschichte der gefährlichen Klassen und kann für die Behauptung ihres politischen Protestpotenzials deshalb auch keine endgültigen »Beweise« anführen. Eine eindrückliche Warnung vor (a)sozialem Dünkel gerade innerhalb der Linken ist die kurze Begriffsgeschichte aber gleichwohl.
Christopher Wimmer: Lumpenproletariat. Die Unterklassen zwischen Diffamierung und revolutionärer Handlungsmacht. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2021. 174 Seiten, 12 EUR.