Wie die ganze Welt mit dir verbunden ist
Die Graphic Novel »Otras Rayas – Andere Linien« von Christian Diaz Orejarena entwirrt die deutsche Kolonialgeschichte in Kolumbien
Von Mayo Calle
Siehst du den Weg noch?«, fragt Christian Diaz Orejarena in einer der ersten Szenen des Buches seinen Begleiter, der sich vor ihm durchs Dickicht kämpft. »Vielleicht war es doch in eine andere Richtung?« Kurz darauf finden sie, was sie gesucht haben: einen überwucherten Steinweg, mitten im Dschungel. »Wow! Alter, das hat doch niemals ein Deutscher gebaut?!«
Verschlungene Pfade und versteckte Verbindungen sind Leitmotive in Diaz Orejarenas Graphic Novel »Otras Rayas – Andere Linien«, die im August im Bremer Golden Press Verlag erschienen ist. Darin begibt sich der Künstler und Illustrator auf Spurensuche: Im Rahmen eines Stipendiums stößt der Autor und Protagonist des Buches auf die Geschichte von Geo von Lengerke, einem skrupellosen deutschen Kaufmann, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Santander im Nordosten Kolumbiens niederlässt, Handelswege errichtet und die indigenen Yariguíes vertreibt. In Santander begegnet Diaz Orejarena irritierenden Mythen über den »deutschen Modernisierer«, auch in seiner eigenen kolumbianischen Familie wird Lengerke bewundert. Die gnadenlos ehrliche Auseinandersetzung mit dem Erleben der eigenen »Herkunfts«-Kultur als etwas Fremdem und mit der Selbstexotisierung als Identitätsbaustein ist eine weitere Geschichte in und unter der Geschichte der Recherche, die Christian Diaz Orejarena mit viel Humor erzählt. Die Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit, die der Autor gegenüber den immer neuen Erkenntnissen erlebt, übersetzt er in ausladende Zeichnungen, etwa wenn die Köpfe und Körper seiner Gesprächspartner zu monströsen Fleischbergen wuchern oder sich die Verbindungslinien, die er entdeckt, zu einem undurchdringlichen Dickicht verknoten, durch das er sich wie in der eingangs beschriebenen Szene einen Weg bahnt. Das Buch beschreibt außerordentlich emotional, wie die ganze Welt mit dir verbunden ist.
Diese Idee des Erzählens setzt Diaz Orejarena so kunstvoll um, dass man sich einzelne Szenen einfach einrahmen oder, noch besser, in Berlin und Bogotá an die Häuserwände plakatieren möchte. Die Linie als gestalterisches und philosophisches Element führt durch die Geschichte, als Verbindung zwischen zwei Ländern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Linien beschreiben aber auch Grenzen, die es zu überwinden gilt.
Die chaotischen Zeichnungen führen die Dramatik der Lage immer wieder ad absurdum. So referiert die Figur Marimonda, das »kolumbianische Gesicht des Karnevals« (eine wandelnde Maske, die an einen Elefanten erinnert), im »Splatter Intermezzo« die kaum bekannte Geschichte des Indigenen-Reduzierungs-Gesetzes und des Widerstands dagegen anhand eines Berichtes über die bekannte kolumbianische 1990er-Jahre-Telenovela »La Otra Raya del Tigre« (Der andere Streifen des Tigers), die das Leben Lengerkes verkitscht und verherrlicht. Marimonda redet sich immer mehr in Rage über die Kolonialerzählung und die kapitalistische Überformung der wenigen überlieferten Widerstandssymbole und wird schließlich von Telenovela-Lengerke mit dem Kommentar »Unerträgliche Schlaumeier!« erschossen.
Das Buch ist zugleich sensibles Roadmovie durch die eigene Biographie und Reisebericht durch die historische und aktuelle Widerstandsgeschichte Kolumbiens, eine gründlich recherchierte Kolonialkritik, die ausgehend vom persönlichen Erleben einer verworrenen postkolonialen Welt Fäden aufdröselt und historische und aktuelle Ereignisse in Zusammenhang bringt. Die ausführlichen Anmerkungen machen die Graphic Novel dazu noch zu einem Lehrwerk über Kolumbien.
Christian Diaz Orejarena: Otras Rayas – Andere Linien. Golden Press, Bremen 2021. 136 Seiten, 26 EUR.