Doppelstandards beim Asylrecht
Geflüchtete aus Afghanistan werden an der EU-Grenze abgewiesen, jene aus Belarus hofiert
Von Ewgeniy Kasakow
Die belarussische Sprinterin Kristina Timanowskaja lebt seit ihrer spektakulären Weigerung, während der Olympiade in Tokio nach Hause zurückzukehren, in Warschau. Die polnische Regierung stellt ihr Bodyguards, eine Wohnung und Trainingsräume zur Verfügung. Ihr Ehemann durfte mit einem humanitären Visum über die Ukraine in das EU-Land Polen einreisen. Über das rührende Wiedersehen des Paares berichteten die Medien in Deutschland in freudigen Tönen. Und die polnische Regierung ließ verlautbaren: »Wir werden dieser mutigen Frau helfen.«
Timanowskaja ist kein Einzelfall, sondern lediglich eine der bekanntesten der zahlreichen Gegner*innen des belarussichen Präsidenten Alexander Lukaschenko, der die konservative polnische Regierung Zuflucht und Unterstützung gewährt. So befindet sich in Warschau der Sitz der Stiftung »Białoruski Dom« (Belarussisches Haus), in dem unter anderem die Redaktion von Nexta_TV sitzt – das wichtigste Medium der Anti-Lukaschenko-Proteste. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki (PiS) stattete dem Haus einen Besuch ab und versprach Stipendien für oppositionelle Studierende und Doktoranden aus dem Nachbarland sowie medizinische Behandlung von verletzten Protestierenden.
Geflüchtete aus Afghanistan bekommen indes wesentlich weniger prominente Vertreter*innen des polnischen Staates zu Gesicht: vor allem Grenzsoldaten, die sie unter Androhung von Schusswaffen zurück nach Belarus treiben. Über 30 Männer und Frauen kampieren seit fast anderthalb Monaten unter erbärmlichen Bedingungen im Niemandsland an der belarussisch-polnischen Grenze. Polen hat in der Grenzregion den Ausnahmezustand ausgerufen und eine Sperrzone eingerichtet, Belarus weigert sich, die Menschen wieder ins Land zu lassen.
Geflüchtete aus Afghanistan bekommen indes wesentlich weniger prominente Vertreter*innen des polnischen Staates zu Gesicht: vor allem Grenzsoldaten.
Im EU-Mitgliedsland Litauen, wo etliche Führungsköpfe der belarussischen Proteste leben, mischen sich in Sachen »Migrantenabwehr« die »Kräfte der Zivilgesellschaft« gleich mit ein: Eine neugegründete Bürgerwehr patrouilliert in den Straßen des Ortes, wo diejenigen untergebracht sind, die es über die Grenze geschafft haben. Genüsslich zeigen russische und belarussische Sender Interviews mit den Anwohner*innen, die sich »Sorgen um ihre Kinder machen« und sich darüber beschweren, dass die »Araber« vor allem in russischsprachigen Regionen Litauens interniert werden. Das propagandistische Manöver Russlands und Belarus’ besteht darin, einerseits den Umgang mit den Geflüchteten anzuprangern, andererseits Angst vor ihnen zu schüren.
Der Hintergrund: Seit Mai klagen die Regierungen Polens und Litauens über ein neues Mittel Russlands im »hybriden Krieg« gegen den freien Westen. Belarus, enger Verbündeter Russlands, hat einen fünftägigen Aufenthalt für Geflüchtete aus Nahost und Afghanistan im Land erlaubt – auch als Reaktion auf Sanktionen durch die EU. Aus Sicht von Vilnius und Warschau eine Einladung zum Transfer. Russland und Belarus versuchten, so deren Kritik, eine »Krise« in Polen und Litauen herbeizuführen, indem sie Menschen auf ihrer Flucht nicht länger hinderten. Von 10.000 Geflüchteten ist die Rede, die in Belarus auf eine Weiterreise in die EU warteten.
Andere EU-Staaten zeigen für die Sorgen der »jungen Demokratien im Osten« viel Verständnis. Die Kontrolle der EU-Außengrenze müsse verstärkt werden, hieß es etwa nach einer Konferenz der EU-Innenminister*innen. Hämisch fragen russische und belarussische Medien, warum in der EU so viel Empörung über Matteo Salvini, dem ehemaligen italienischen Innenminister, und dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán herrsche. Sie wollen doch das, was die Regierungen Polens und Litauens mit Zustimmung der EU machen: die Geflüchteten als feindliche Eindringlinge betrachten.
Zwei Sachen lassen sich aus dieser Situation lernen: Erstens ist die Gewährung oder Verweigerung des Asyls eine abhängige Variable der jeweiligen Außenpolitik. Wenn es als Mittel der Delegitimierung einer verfeindeten Regierung dient, wird es als humanitäres Gebot angepriesen. Ein Anspruch, der schnell fallengelassen wird, wenn kein politischer Nutzen zu erwarten ist. Zweitens: Bei allen Differenzen, die es zwischen der EU-Spitze einerseits und Putin und Lukaschenko andererseits gibt, sind sie sich in einem einig: Sie sehen in Migrant*innen aus nichteuropäischen Ländern eine Belastung und Krisenursache. Erst dieser Blick macht das Gerede vom Geflüchteten als »Waffe im hybriden Krieg« überhaupt möglich.