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Kollegin sei Dank

Der Wahlkampf war quälend unpolitisch – doch es gibt ja noch die Streikenden

Von Nelli Tügel

Menschen mit Maske auf einer Demonstration, im Fordergrund hält eine Frau ein Schild mit der Aufschrift "Ich reanimiere deine Mutter"
Seit dem 9. September sind die Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser Charité und Vivantes und bei deren Tochtergesellschaften im unbefristeten Streik. Screenshot aus dem Labournet.tv-Beitrag über den Berliner Krankenhausstreik.

Zu Beginn der Corona-Pandemie war die Hoffnung bei einigen groß, sie könne zu einer Politisierung der Öffentlichkeit beitragen. Denn plötzlich lagen wesentliche gesellschaftliche Probleme offen für alle sichtbar auf dem Tisch: der Pflegenotstand etwa, oder was »systemrelevant«, also vor allem für die Reproduktion des Lebens relevant, ist – und was nicht. Die Hoffnung erfüllte sich nicht, die ersehnte Politisierung blieb aus.

Und es kam sogar noch schlimmer: Der Bundestagswahlkampf, mit dem man uns knapp eineinhalb Jahre nach Pandemiebeginn martert, ist ein neuer Tiefpunkt an Entpolitisierung der öffentlichen Debatte. Man könnte meinen, im Angesicht von Pandemie und Klimawandel gäbe es was zu klären. Doch stehen die großen Parteien – CDU, SPD und Grüne – in vielerlei Hinsicht so nah beieinander (und sind, wie die Achterbahnumfragen zeigen, in den Augen vieler Menschen damit austauschbar), dass keine ernstzunehmende Auseinandersetzung, geschweige denn inhaltliche Polarisierung im Rahmen des Wahlkampfes aufkommen konnte. Selbst die in den letzten Wochen vor Urnengang aufgeflammte Diskussion um ein rot-grün-rotes Regierungsbündnis war unfassbar dröge. Von den einen, vor allem der CDU, wurde der drohende Kommunismus an die Wand gemalt, dabei glaubt die Union das selbst natürlich nicht. Von den anderen, darunter einige Linke, wurde so getan, als wäre Rot-Grün-Rot eine realistische Option, dabei geben Grüne und SPD deutlich zu verstehen, dass sie das gar nicht wollen. Dass ein solches Bündnis es schwer hätte, unter den jetzigen Kräfteverhältnissen wirklich etwas zu verändern, ist nochmal eine andere Frage (der wir in dieser Ausgabe ausführlich nachgehen). So oder so war die Debatte vor allem inhalts- und auch strategisch leer.

Die vielen Streiks bringen wesentliche Fragen in die Öffentlichkeit: Der Kontrast zur Leere des Wahlkampfes ist eklatant.

Zum Glück gab es noch die vielen Streikenden! Denn während der Bundestagswahlkampf vor sich hin enervierte, ging seit dem Sommer eine regelrechte kleine Streikwelle durchs Land: beim Lebensmittellieferdienst Gorillas in Berlin, im Einzelhandel, an den Berliner Krankenhäusern Vivantes und Charité, bei der Deutschen Bahn streikten zuletzt Tausende. Der Kontrast zur Leere des Wahlkampfes ist eklatant: Es geht um Entlastung und mehr Pflegepersonal, um die Folgen von Outsourcing im öffentlichen Dienst, sichere Renten und mehr Freizeit, um einen Corona-Bonus und mehr als den Inflationsausgleich, und nicht zuletzt auch um das Recht zu streiken selbst, das die Bahn ebenso wie der Klinikbetreiber Vivantes juristisch auszuhebeln versuchten – ohne Erfolg. Die Häufung von Arbeitskonflikten erinnert daran, dass die Post-Corona-Verteilungskämpfe noch nicht ausgefochten sind. Im Gegenteil: Wer die Rechnung für die vielen in die Bewältigung der Pandemie investierten Milliarden präsentiert bekommt, ob es eine Rückkehr zur Schwarzen Null geben wird und weitere Fragen sind unbeantwortet. Kampflos wird sich hier nix gewinnen lassen.

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Am 14. September gab es eine große Demonstration der streikenden Krankenhausarbeiter*innen in Berlin. Video von labournet TV.

Dafür, dass ein weiteres, zentrales Thema – die Mieten – eine Rolle spielten, sorgte zudem die Bewegung Deutsche Wohnen und Co. enteignen in Berlin. Und auch einige andere soziale Bewegungen waren, nach einer langen Phase von weitgehendem Stillstand in der Pandemie, wieder zurück auf den Straßen: wie die Klimabewegung beim Protest gegen die Internationale Automobilmesse in München. Apropos München: Hier kämpfen Kolleg*innen des Bosch-Werks gemeinsam mit der Klimabewegung um den Erhalt der Arbeitsplätze und für eine klimafreundliche Umstellung der Produktion.

Es waren also nicht Wahlkämpfende, sondern Beschäftigte an Streikposten und Menschen auf der Straße, die dafür sorgten, dass einige der wesentlichen Themen doch noch ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden. Die damit sichtbar werdenden Widersprüche sind massiv. Angesichts der Unfähigkeit der Parteipolitik, sie auch nur adäquat anzusprechen, muss man sich darauf einstellen, dass sie eher außerhalb des parteipolitischen Systems an die Oberfläche drängen. Wer wissen will, wo und wie die Post-Corona-Verteilungskämpfe ausgefochten werden, wird im Parlament kaum fündig werden.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.