Eribons Warnung
In »Rückkehr nach Reims« ist das Scheitern der linken Mitterand-Regierung wesentlicher Grund für die Krise der Linken
Von Nelli Tügel
Kaum ein Buch wurde 2016 so breit und intensiv besprochen wie Didier Eribons »Rückkehr nach Reims«: Es war in der Bundesrepublik das richtige Buch zur richtigen Zeit; eine Debatte über die verlorenen Verbindungen der Linken zur Arbeiter*innenklasse war überfällig. So wurde »Rückkehr nach Reims« zum Bestseller und Debattenmotor und schnell auch zur offenen Projektionsfläche für alle möglichen Thesen.
Besonders bemerkenswert ist dabei, dass eine der wesentlichen Erklärungen, die Eribon für die von ihm so eindrücklich beschriebene Entfremdung der französischen Arbeiter*innenklasse von den Linken lieferte, quasi keine Rolle in der Diskussion um das Buch spielte: das Scheitern des letzten linken Regierungsprojektes in Frankreich, der Mitterand-Regierung von 1981 bis 1984.
Im Mai 1981 war François Mitterand von der Sozialistischen Partei (PS) zum Präsidenten Frankreichs gewählt worden. Er setzte eine Regierung ein, an der ab Juni 1981 auch Minister der Kommunistischen Partei (PCF) beteiligt waren und die auf ein radikales sozialdemokratisches Programm mit Verstaatlichungen, Arbeitszeitverkürzungen usw. setzte. Die Hoffnungen großer Teile der Arbeiter*innenklasse in diese linke Regierung waren groß – trotz der Vergangenheit Mitterands, der etwa während des Algerienkrieg eine unrühmliche Rolle gespielt hatte. Sie wurden jedoch bitter enttäuscht. Denn nachdem der Druck durch das Kapital und die Europäische Gemeinschaft – wie bei jedem ernsthaften linken Regierungsversuch zu erwarten – wuchs, kapitulierte die Regierung und schwenkte 1983 auf einen Kurs der Austerität um. Die Kommunist*innen waren dennoch bis 1984 an der Regierung beteiligt, Mitterand selbst blieb bis 1995 Präsident. Noch in den 1980er Jahren begann der erste Aufstieg des Front National, damals unter Jean-Marie Le Pen.
Nachdem der Druck wuchs, schwenkte die Mitterand-Regierung auf einen Kurs der Austerität um.
Eribon widmet sich der Mitterand-Regierung in »Rückkehr nach Reims« zwar nicht sehr ausführlich, doch beim Lesen wird glasklar, welche Bedeutung er diesen Jahren zumisst. »Nach dem Sieg der Linken und angesichts der Regierungsbeteiligung der Kommunisten setzte im Volk bald Ernüchterung und Verdrossenheit gegenüber der politischen Klasse ein.« In dieser Zeit hätten Menschen wie seine Mutter, die frühere PCF- und spätere FN-Wählerin, begonnen, Sätze zu sagen wie: »Die Politiker sind alle gleich. Ob links oder rechts, die Rechnung zahlen immer dieselben.«
Diese Veränderungen beschreibt Eribon als tiefgreifend und folgenreich: »Die Idee der Unterdrückung, einer strukturierenden Polarität zwischen Herrschenden und Beherrschten, verschwand aus dem Diskurs der offiziellen Linken und wurde durch die neutralisierende Vorstellung des ›Gesellschaftsvertrags‹ ersetzt, in dessen Rahmen ›gleichberechtigte‹ Individuen (…) auf die Artikulation von Partikularinteressen zu verzichten (…) hätten«. Ein großer Teil der Linken schrieb sich nun, so Eribon, das Projekt »des Soziallabbaus auf die Fahnen, das zuvor ausschließlich von rechten Parteien vertreten (…) worden war. (…) Man könnte es auch so zusammenfassen: Die linken Parteien mit ihren Partei- und Staatsintellektuellen dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden, sie sprachen nicht mehr im Namen von und gemeinsam mit den Regierten, sondern mit und für die Regierenden, sie nahmen gegenüber der Welt nunmehr einen Regierungsstandpunkt ein, wiesen den Standpunkt der Regierten verächtlich von sich, und zwar mit einer verbalen Gewalt, die von den Betroffenen durchaus als solche erkannt wurde.«
Eribon liefert hier eine Erklärung für die Krise der französischen Linken, die – anders als von vielen Rezipient*innen behauptet – rein gar nichts mit dem Einsatz für LGBT-Rechte und gegen Rassismus, sehr viel aber mit der Gefahr zu tun hat, die das Regieren linker Parteien im Kapitalismus mit sich bringt. Man kann »Rückkehr nach Reims« durchaus als Warnung vor linken Regierungsprojekten lesen. Bemerkenswerterweise wurde der Text aber von vielen in eine ganz andere Richtung gebürstet, nämlich dahin, dass Linke – an der Regierung – einfach wieder mehr Sozial- und Wirtschaftspolitik im Sinne der Arbeiter*innenklasse machen müssten. Warum »einfach machen« so schwierig ist, welcher enorme Druck entsteht, wenn eine linke Regierung auch nur mit einem sozialdemokratischen Reformprogramm antritt, und was es bräuchte, dem standzuhalten und ein linkes Programm auch gegen Kapitalinteressen durchzusetzen – das ließe sich am Beispiel der Mitterand-Regierung gut diskutieren.