Sportlicher wird’s nicht
Olympia 2020: ein Tagebuch
Von Nelli Tügel
Bin schon immer eher unsportlich. Es fehlt an sportlichem Ehrgeiz, Interesse, Ausdauer und Talent – also an allem, was eine Sportlerin benötigt. Allerdings schaue ich gerne Fernsehen, und dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, so viel von den Sommerspielen zu schauen wie nur möglich, es quasi olympisch anzugehen. Die Bedingungen sind günstig: habe frei und viel Zeit. Also binge-watche ich nicht nur mehrere Stunden am Tag olympischen Sport, sondern führe auch ein Tagebuch darüber.
23. Juli: Olympia ist eine absurde Veranstaltung. Dieser Kampf-der-Nationen-Mist, dann die Obsession mit dem Geschlecht. Von der Kommerzialisierung ganz zu schweigen. Dieses Jahr kommt noch Corona hinzu. Eine absurde Veranstaltung.
25. Juli: Finale über 400 Meter Freistil. Ahmed Hafnaoui auf der rechten Außenbahn, wo die Langsamsten aus der Qualifikation starten. Er schwimmt ein super Rennen, die ganze Zeit mit vorne. Trotzdem schaffen es die beiden Kommentatoren von Eurosport, komplett am Rennen vorbeizureden. Quasi jeder Schwimmer wird namentlich genannt und kommentiert, nur Hafnaoui scheint für sie gar nicht zu existieren. Auf der vorletzten Bahn dann kommt zum ersten Mal die Sprache auf »den Tunesier« – weil er immer noch vorne mitschwimmt, doch Chancen auf eine Medaille geben »die Experten« ihm natürlich nicht. Erster Kommentar nach Anschlag, ehrlich bestürzt, nicht begeistert: »Es kann nicht sein, dass der Tunesier gewonnen hat.«
25. Juli: Dieser Heiratsantrag von Fußballer Max Kruse vor laufenden Kameras, richtig, nun ja: cringe, oh Gott oh Gott.
26. Juli: Lese in der jungen Welt einen Text von Gabriel (Kuhn) über die Arbeitersportolympiaden, die zwischen 1925 und 1937 als Gegenprogramm zu den Olympischen Spielen stattfanden und bei denen nicht Nationen gegeneinander antraten, »sondern Sportgenossen«. Gabriel zitiert den Austromarxisten Julius Deutsch von der Sozialistischen Arbeiter-Sport-Internationale, der über den bürgerlichen Sport schrieb: »In seiner Reinkultur zeigt er sich bei den großen, prunkvollen Veranstaltungen, die die Sensationslust veranstaltet. Da werden Wochen vorher die Reklametrommeln gerührt, bis Zehntausende Menschen am Tage des Ereignisses zusammenströmen. Die sehen dann voll fieberhafter und mit allem Raffinement künstlich aufgestachelter Leidenschaft zu, wie einige Rekordjäger sich um einen hohen Preis raufen.« Die künstlich aufgestachelte Fieberhafte bin ich.
26. Juli: Judo ist eine schöne Sportart, die Regeln bleiben mir zwar im Verborgenen, doch dass man sich stets verbeugt usw., gefällt mir.
27. Juli: Muss immer wieder anschauen, wie Judoka Clarisse Agbegnenou im Finale der Klasse bis 63 kg gegen Tina Trstenjak gewinnt und die beiden sich auf der Matte ganz herzlich (eher zärtlich sogar) umarmen und Agbegnenou etwas später – nach der obligatorischen Verbeugung – Trstenjak auf den Arm nimmt und in die Höhe stemmt und beide lachen. Es ist so schön!
27. Juli: Dressurreiten ist Deutschland als Sportart.
27. Juli: Geräteturnen ist eigentlich das Beste, aber ehrlich gesagt halte ich mir mindestens die Hälfte der Zeit die Augen zu, aus Angst, dass jemand stürzt. Habe nicht vergessen, wie Samir Aït Saïd 2016 in Rio beim Sprung gestürzt und einen Komplettdurchbruch des Unterschenkels erlitten hat, bei dem der Knochen für alle sichtbar herausragte. Hatte das damals auch live gesehen.
27. Juli: Nachtrag zu Kruses Heiratsantrag: bei Social Media feiern es viele, weil auf seinem T-Shirt etwas auf Kurdisch stand. Aber natürlich nicht alle. Dîlan (Karacadağ) schreibt: »stell dir vor dein Freund macht sowas… direkt khalas«. Sehr gelacht.
28. Juli: Simone Biles ist einfach so sympathisch. Habe übrigens versucht, im Wohnzimmer eine Brücke zu machen, NAJA.
29. Juli: Schwimmer*innen und Wasserspringer*innen aus Südafrika sind immer noch fast ausschließlich weiß.
29. Juli: Nachtrag zur Schönheit des Judo: Eine Sportlerin gewinnt ihre Runde ohne Kampf, weil die Gegnerin nicht antreten kann, und trotzdem muss sie (also die Gewinnerin) auf die Matte, nur um sich zu verbeugen, vor einer imaginären theoretischen Gegnerin. Just beautiful.
Simone Biles ist einfach so sympathisch. Habe übrigens versucht, im Wohnzimmer eine Brücke zu machen, NAJA.
29. Juli: Lese einen Text über die Sommerspiele 1996 in Atlanta/USA: Um die Stadt »olympiatauglich« zu machen, wurden Wohnviertel der ärmeren Bevölkerung abgerissen, Obdachlose vertrieben und fast 10.000 Obdachlose festgenommen. Die von der Arbeitersportolympiade hatten schon Recht: Am Ende bleibt’s ein bürgerliches Sportevent, künstlich aufgeblasenes Spektakel, bescheuert und gefährlich. Ich brauch eine Pause.
2. August: War mit M. und L. aus, irgendwann fragten sie, was es bei mir Neues gibt und was ich so gemacht habe in letzter Zeit. Hab ehrlich geantwortet, dass ich im Wesentlichen Olympia geschaut hab, weil es die Wahrheit ist. Das Gespräch stockte dann sehr schnell.
6. August: Pferdemädchen Annika belegt Platz 31, nachdem Saint Boy in einem Akt des Widerstandes ihr jede Hoffnung auf Gold im Modernen Fünfkampf verhagelt hat. Kann nicht aufhören, die Videos und Fotos dieses Ereignisses zu betrachten.
7. August: Hochsprung, letzter Wettkampf, den ich schaue. Nicola McDermott schnappt sich nach jedem Sprung ihr Notizbuch (Tagebuch?), und schreibt (malt?) was hinein. Fühle mich ihr irgendwie verbunden jetzt.
9. August: Ab 2024 wird Breakdance eine olympische Disziplin sein.
11. August: Mediennachlese zu Olympia. »Ich habe eine Woche lang versucht, wie Simone Biles zu trainieren – jetzt habe ich noch mehr Respekt vor olympischen Sportlern« (Business Insider). Hmhm.
12. August: Nochmal Mediennachlese. »Team Deutschland: Schlechteste Medaillenbilanz seit der Wende«; »Team Deutschland kehrt aus Tokio zurück – Aufarbeitung beginnt«. Na dann, im Aufarbeiten ist Deutschland ja bekanntlich Weltmeister.