Was bewirken Lieferengpässe?
Von Lene Kempe
Im Juli stieg die Zahl der Kurzarbeiter*innen in Teilen der Industrie wieder – trotz voller Auftragsbücher. In der Baubranche droht ein ähnliches Szenario. Ein Grund sind die während der Corona-Pandemie gestiegenen Rohstoffpreise, die zu Auftragsstornierungen führen. Die Produktion vieler Industrierohstoffe war während der Lockdownphasen unterbrochen worden. Lagerbestände wurden aufgebraucht, zugleich stieg die Nachfrage im Zuge der Lockerungen wieder, Frachtpreise zogen an, es kam zu Lieferengpässen. Mehr Nachfrage nach knappen Gütern ließ die Preise deutlich steigen. Nicht nur für den wichtigen Grundstoff Stahl, auch etwa für Kunststoff und petrochemische Ausgangsstoffe. Deutlich gestiegen ist auch der Preis für den wichtigen Baugrundstoff Holz. Der viel zitierte »Heimwerker*innen-Boom« fegte schon während der Lockdowns die Baumärkte leer, die Nachfrage stieg nicht nur im In-, sondern auch im Ausland. Zwischenzeitlich hatte sich der Holzpreis mehr als verdreifacht. Wie sich der Holzpreis weiterentwickelt, ist unklar.
Klar indes ist, dass der »Halbleitermangel« ein lang anhaltender Trend ist. Halbleiter, besser bekannt als Mikrochips, werden längst nicht mehr nur in Computern oder Fernsehern, sondern auch in etlichen Haushaltsgeräten und vor allem in modernen Autos verbaut. Ohne Chips, kein Tempomat, keine Einparkhilfe, keine Elektromobilität. Und diese wertvollen Teilchen fehlen nun millionenfach am Markt. Schon Anfang des Jahres standen deshalb weltweit Bänder in der Automobilproduktion still. Jüngst unterbrach BMW seine Produktion und schickte 9.000 Mitarbeiter*innen in Kurzarbeit, Daimler kündigte an, in diesem Jahr gut 150.000 Pkws weniger zu bauen. Auch dem VW-Konzern, der erst vor Kurzem seine neue Elektrifizierungsstrategie verkündet hatte, gehen die Halbleiter aus. Schätzungen gehen davon aus, dass 2021 wegen des Chipmangels weltweit fünf Millionen weniger Autos gebaut werden könnten.
Was Klimaaktivist*innen in Feierlaune versetzen dürfte, löst auf Kapitalseite große Sorgen aus. Sicher ist: Das Problem wird auch »nach Corona« bestehen, langfristige Lösungen sind also gefragt. Die Gründe für den Chipmangel sind komplex. Der coronabedingte Digitalisierungsschub war ein Auslöser. Mit dem stetigen Ausbau der digitalen Infrastruktur sind Elektronikkonzerne wie Apple zu begehrten Kunden der Chiphersteller*innen geworden, die Autoindustrie hat das Nachsehen. Nur etwa zehn Prozent der Halbleiter werden derzeit außerdem in Europa hergestellt. Die Abhängigkeit von Asien, vor allem von Taiwan, und den USA ist immer weiter gewachsen. Zugleich ist die Chipherstellung äußerst komplex und voraussetzungsvoll, der Bau neuer Produktionsstätten enorm kostenintensiv, eine Verlagerung der Produktion nicht so einfach und erst Recht nicht kurzfristig möglich. Ausfälle in einzelnen, weit entfernten Werken, auch aufgrund des Klimawandels, wie im vergangenen Kältewinter in Texas, aber auch Handelskonflikte, machen sich deshalb auch in der hiesigen Produktion schnell bemerkbar. Die deutsche und europäische Politik versucht nun gegenzulenken: Die EU-Kommission wirbt mit Förderprogrammen für die Ansiedlung von Chip-Fabriken, Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) suchte Anfang des Jahres persönlich das Gespräch mit dem taiwanesischen Wirtschaftsministerium, damit das Land die Chipproduktion hochfahre.
Doch die Lage hat sich nicht entschärft. Vielmehr wird bereits von einem Überspringen auf die gesamte Konjunktur gewarnt: Denn wenn die Autoindustrie nicht weiter produzieren kann, können auch die Zuliefer*innen nicht liefern usw. Welche politische Sprengkraft das Thema »Lieferengpässe« hat, lässt eine aktuelle Studie des Ifo-Instituts erahnen. So haben sich angesichts des Materialmangels die Debatten um ein »Reshoring« oder »Nearshoring« wieder intensiviert, also über die (Rück-)Verlagerung der Produktion von bestimmten Vorprodukten nach Deutschland oder in die EU. Die Studie bemüht sich vor diesem Hintergrund um eine klare Botschaft, die sich in etwa so zusammenfassen lässt: Reshoring (und damit der Verzicht auf die »(Kosten)Vorteile« der Globalisierung aus deutscher Sicht) führt zu Wohlstandsverlusten für alle. Das Problem werde mithin überbewertet, nur eine Minderheit (500 von 5.000 befragten Unternehmen) wolle wirklich Lieferketten nationalisieren, vielmehr brauche es bessere Rahmenbedingungen für den internationalen Handel (Handelsabkommen) und keine Einschränkungen desselben. Schließlich hätten sich die Marktteilnehmer*innen einmal für Globalisierung entschieden. Oder anders gesagt: Niemand hat die Absicht, die Globalisierung zurückzudrehen.