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|ak 673 | Diskussion

Gen Globaler Süden

Warum sich die Klimabewegung dekolonisieren muss

Von Nico Graack und Esteban Servat

Das Okavango-Delta in Botswana: Ziel der kanadischen Firma ReconAfrica. Foto: Norbert Halmer

Die Klimabewegung hierzulande ist an einem Scheideweg: NGOisierung oder wirkliche Strategie? Peter Odrich von Fridays for Future benennt das Problem in einem Gespräch zwischen Klimaaktivist*innen in ak 672 wie folgt: »Wenn wir keine strategische Linie haben, machen wir hier und da eine Kampagne, und es passiert, was wir NGOisierung nennen. Das bringt nur denen etwas, die mit der Presse reden.« Eine strategische Linie haben bedeutet, eine klare Vorstellung der Fronten und Kräfteverhältnisse, der schwachen Punkte und lokalen Vorteile zu haben.

Unser Punkt ist: Die Fronten befinden sich meist im Globalen Süden, wo die Menschen unter der Zerstörung ihres Landes und der kolonialen Ausbeutung durch meist multinationale Konzerne aus dem Globalen Norden leiden, die sich in ihren Heimatländern als grün präsentieren. Eine Strategie zu entwickeln, kann also nur bedeuten, den Menschen an diesen Fronten zuzuhören und sich von ihnen die Ziele und Schwachpunkte der Industrie und der multinationalen Klimaverbrecher*innen zeigen zu lassen.

Die Unternehmen des Globalen Nordens

Line Niedeggen, Pressesprecherin von Fridays for Future, sagt gegen Ende des erwähnten Interviews: »Wir haben in den Monaten begonnen, uns mit strukturellem Rassismus und ›most affected people und areas‹ (MAPA) zu befassen. Und das müssen wir noch vertiefen.« Genau darin sehen wir die Antwort auf mindestens zwei Probleme, die im Interview angesprochen werden. Erstens ist dieser Fokus ein Weg aus der Ziellosigkeit und dem unproduktiven Parlamentarismus. Zweitens kann er ein Weg sein, die Debatten um Antirassismus in konkrete Aktionen zu überführen und damit zu beginnen, die Form des modernen Kolonialismus zu bekämpfen, die eine der Hauptursachen der Klimakrise ist. Wir müssen uns zwischen Bewegungen des Globalen Südens und Nordens in Aktionen internationaler Solidarität zusammenschließen, die Punkte der Lieferketten der Klimaverbrecher*innen des Nordens verbinden und Druck gegen sie zu Hause aufbauen, wo es ihnen wehtun kann. Ein Beispiel wäre die diesjährige Ende-Gelände-Aktion als Teil eines der globalen Aktionstage von Shale Must Fall zu Fracking und Gas.

Ein Großteil der ökologischen Verwüstungen im Globalen Süden geht auf das Konto von Konzernen im Globalen Norden. Während die Unternehmen hierzulande um ihr grünes Image besorgt sind, werden im Globalen Süden Menschen ermordet, vertrieben, eingeschüchtert und ihre Lebensgrundlage rücksichtslos zerstört, ob in der Öl- und Gasförderung, insbesondere durch Fracking, in Gold-, Kupfer-, Lithium- und anderen Minen oder der Agrarindustrie. Das betrifft auch indigene und andere Frontgemeinschaften in entwickelten Ländern wie den USA und Kanada, wo sie ebenfalls dem Profit geopfert werden. Sie kann man vielleicht den Globalen Süden im Globalen Norden nennen.

Entlang dieser Linien müssen wir unsere Ziele bestimmen. Wir brauchen nur mit den Menschen vor Ort sprechen, um zu erfahren, wie wir helfen können – und das heißt vor allem: Auf welche Unternehmen wir Druck aufbauen müssen. Damit machen wir diesen Kampf konkret. »1,5°« und der Druck auf unsere Regierungen führt nur zu noch mehr Absichtserklärungen, Klimanotständen und Zielvorgaben. Oder wie Fridays-for-Future-Aktivist Tristan Linsmayer es ausdrückt: »Der Parlamentarismus hat einen integrativen Charakter. Er zielt darauf, dass wir mit am Tisch der Mächtigen sitzen. Dadurch eignen wir uns deren Logik an. Wir wollen aber den Tisch umwerfen.«

Den Tisch umwerfen – das muss bedeuten: die Unternehmen, deren Profit auf der Zerstörung im Globalen Süden basiert, eines nach dem anderen auszuschalten. Die Firmenzentralen sind die Orte, wo wirkliche Macht liegt. Oftmals ist der Jahresgewinn dieser Konzerne höher als das Bruttoinlandsprodukt des gesamten Landes, in dem sie tätig sind. Gepaart mit der grassierenden Korruption ist es daher absurd zu erwarten, dass diese Länder in der Lage sind, die Aktivitäten dieser multinationalen Konzerne einzuschränken oder zu kontrollieren: Die lokalen Regierungen sind eher deren Sekretär*innen. Es kann nur darum gehen, die Machtverhältnisse so zu verschieben, dass diese Verbrechen gestoppt werden können, entweder durch die Demontage der Unternehmen oder durch Druck, um ihnen zu verbieten, im Ausland das zu tun, was ihnen zu Hause verboten ist. Die Kampagne Shell Must Fall hat dazu jüngst einen ersten strategischen Entwurf vorgelegt. Auch die Menschen dieser Kampagne machen klar: Eine globale Krise muss global bekämpft werden; transnationale Unternehmen können nicht nur in nationalen Parlamenten besiegt werden. Es braucht koordinierte Aktionen entlang der Lieferketten.

Der nächste Schritt für die Klimabewegung müsste sein, den Antirassismus in die Tat umzusetzen.

Schwachpunkte können zum einen Unternehmen sein, gegen die es etliche Belege für Menschenrechtsverletzungen und Zerstörungen aller Art gibt – wie es etwa bei Shell der Fall ist. Zum anderen können es kleine Unternehmen und Projekte sein, die den Boden bereiten für die Global Player. Die geplanten Fracking-Bohrungen im Okavango-Delta wären ein Beispiel. Das führende Unternehmen dort, ReconAfrica aus Kanada, ist vergleichsweise klein und anfällig für Druck. Die Menschen vor Ort nehmen den Kampf auf, und es gibt bereits eine kleine globale Kampagne, die auf Unterstützung wartet. Wenn wir in solchen Fällen eine lokale Übermacht kreieren und Erfolge erringen, hat das Auswirkungen auf andere Konflikte. Ohne solches strategisches Denken verliert sich die Bewegung mit ihrem Fokus auf die Parlamente in der Tat in der Selbstdarstellung von Einzelpersonen und deren Karrieren – oder aber in wirkungslosem Gerede, in dem keine substanziellen Interessen und Machtstrukturen berührt werden: NGOisierung.

Gelebter Antirassismus

Die Klimabewegung befindet sich in einem längst überfälligen Prozess der intensiven Auseinandersetzung mit Rassismus. Leider bleibt diese Auseinandersetzung oft in einer unproduktiven Selbstreflexion stecken, in der sich dann letztlich doch alles um eines dreht: um das reflektierende Subjekt, in diesem Fall also die weiße Klima­bewegung. Wir denken, dass ihr nächster Schritt darin bestehen müsste, Antirassismus in die Tat umzusetzen. Wie? Indem sie die kolonialen Klimaverbrechen der Konzerne aus den eigenen Ländern im Rest der Welt angeht. Indem sie die Frontlinien im Globalen Süden unterstützt und die Stimmen dieser Menschen in den Machtzentren der Konzerne, die ihre Heimat zerstören, verstärkt.

Darin liegt ein Paradigmenwechsel für die Klimabewegung: Der Kampf gegen Umwelt- und Klimakatastrophe wird endlich nicht mehr abstrakt als »Kampf für die Zukunft« bestimmt, sondern als der gegenwärtige Überlebenskampf, der er für viele Menschen schon lange ist. Was bedeutet das Gerede von Antirassismus, wenn dieser oft rassistisch codierte Kampf, der indigene Menschen mit am härtesten trifft, nicht unterstützt wird? Und was kann »Unterstützung« anderes bedeuten, als eine gemeinsame Strategie über einzelne Aktionen hinaus zu entwickeln?

Dafür braucht es kontinuierlichen Austausch. Warum gibt es nicht auf jeder Klimademo einen Livestream zu befreundeten Aktivist*innen im Globalen Süden? Warum finden Strategiekonferenzen ohne Menschen aus dem Globalen Süden statt? Wir denken, dass es ein Trugschluss ist, wenn die Klimabewegung hierzulande erst einmal »ihre eigenen Sachen« organisiert bekommen möchte, um dann in den Austausch mit den Frontlinien zu treten. Das, was hier in Strategiekonferenzen gesucht wird – klare Ziele und Aktionen, die schwache Punkte treffen, und wirkliche Siege erringen – können uns nur gemeinsame Strategiekonferenzen mit dem Globalen Süden geben. Das, was wir in solchen Konferenzen suchen, ist bereits da: nicht hier, im kolonialen Europa, sondern im Globalen Süden.

Die Menschen an den Frontlinien haben viele der Antworten, die Europa zur Bekämpfung der Klimakrise fehlen. Die gleiche koloniale Mentalität eines imperialen Europas, die für einen Großteil des Problems verantwortlich ist, wird nicht die Antworten liefern, um es zu lösen. Die europäische Klimabewegung muss die Demut haben, auf die Stimmen der Frontlinien zu hören und sich in den Dienst dieser Kämpfe zu stellen, um Hand in Hand zu kämpfen – nicht als »Retter*in«, sondern als Gleiche in einer globalen Herausforderung ums Überleben.

Sehen wir das nicht, verlieren wir uns in endlosen Debatten um kleinliche ideologische Differenzen, die in Anbetracht des Überlebenskampfes des Globalen Südens völlig bedeutungslos sind. In diesem Kreisen der Klimabewegung um sich selbst sehen wir ein Erbe des kolonialen Denkens, das nur Europa als den Dreh- und Angelpunkt der Welt gelten lassen kann. Die Klimabewegung zu dekolonisieren muss daher heißen, den Globalen Süden zu unserem strategischen Dreh- und Angelpunkt zu machen.

Ansatzpunkte

Aktuell gibt es eine Reihe von Aktionen und Zielen, die den Grundstein für diesen strategischen Paradigmenwechsel legen könnten. Dazu gehört vor allem die diesjährige Ende-Gelände-Aktion, die Teil eines globalen Aktionstages war, zu dem in verschiedenen Ländern Nord- und Südamerikas, Afrikas und Europas erfolgreich mobilisiert wurde. Menschen aus der ganzen Welt haben verschiedene Bereiche der fossilen Industrie in den Fokus genommen und ihre Stimmen wurden in den Machtzentren hörbar, wie zum Beispiel auf dem Internationalen antikolonialen Panel Ende Juli in Hamburg.

An diesem Aktionstag haben sich auch Menschen auf das konzentriert, was wir – aus den oben genannten Gründen – für ein schwaches Glied in der Kette der fossilen Industrie halten: die geplanten Fracking-Bohrungen im Okavango-Delta in Namibia und Botswana. Dieser Tag kann der Start der Dekolonisierung der Klimabewegung gewesen sein. Dafür müssen wir die aufgebauten internationalen Verbindungen vertiefen – auch, um uns auf die COP26 (UN-Klimakonferenz) in Glasgow vorzubereiten.

Nico Graack

ist freier Autor und Philosoph. Er engagiert sich gegen die sozial-ökologische Marktkatastrophe.

Esteban Servat

ist Biologe und Aktivist. Er musste Argentinien verlassen, weil er sich mit der Gasindustrie angelegt hatte.