Hauptsache Hauptwiderspruch
Warum lieben alle Philip Manows Buch »Die Politische Ökonomie des Populismus«?
Von Jan Ole Arps
Überall in Europa erstarken populistische Parteien, in Mittel- und Nordeuropa vor allem rechte, in Südeuropa eher linke. Wie ist das zu erklären? Diese Frage stellt der Politologe Philip Manow in seinem Ende 2018 erschienenen Buch »Die Politische Ökonomie des Populismus«, das seither begeisterte Rezensionen einheimst. Manows Anspruch: eine ökonomisch fundierte Erklärung zu liefern, wer die Populist*innen wählt und was das mit dem im jeweiligen Land vorherrschenden wirtschaftlichen Wachstumsmodell zu tun hat. Die Analyse soll, so der Autor, eine klaffende Erkenntnislücke schließen und die oft »hysterische« Debatte um den Aufstieg der Populisten versachlichen, indem sie zwei gängige Erklärungsmuster widerlegt oder zumindest an entscheidender Stelle ergänzt: die Interpretation des Populismus als Protest der Globalisierungsverlierer*innen und seine Interpretation als antiemanzipatorische Revolte gegen die Liberalisierung der Gesellschaft.
Doch die erste Überraschung gibt es schon in Kapitel 2. Dort wendet sich Manow zunächst mit Verve gegen Beschreibungen, die Populismus eher an der Form als am Inhalt, eher am Stil als am Programm festmachen. Ihnen wirft er vor, die Probleme, auf die Populismus verweise – sozioökonomische Fragen –, selbstgerecht zu verdrängen und die »ungewaschenen« neuen Akteure vom politischen Diskurs auszuschließen. Wenig später landet Manow aber selbst bei einer rein formalen, an Stilfragen orientierten Beschreibung. Er definiert Populismus als eine neue Strategie der Machteroberung, »die etablierte Repräsentationswege verlässt (und diese zugleich diskreditiert), die sich neuer Kommunikationsmittel und Organisationsformen bedient und dabei auch mit der hergebrachten politischen Semantik bricht«. Nur um unmittelbar die Frage anzuschließen, »warum es denn den neuen politischen Entrepreneuren bei ihren Anläufen zur Eroberung politischer Macht mal aussichtsreich erscheint, eine linke Mobilisierungsstrategie zu wählen, mal eine rechte«?
Rechter Populismus = linker Populismus?
Ja, warum? Könnte es vielleicht daran liegen, dass es sich um rechte respektive linke politische Akteure handelt? Eine Begründung, warum es sinnvoll sein soll, Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan und Hugo Chávez, die AfD und Syriza, die Wahren Finnen, UKIP und Podemos (nicht aber die deutsche Linkspartei, Labour unter Jeremy Corbyn, die Bernie-Sanders-Fraktion der US-Demokraten …) unter dem Oberbegriff Populismus zusammenzufassen, lässt das Buch vermissen. Dass das mehr als ein paar Schönheitsfehler produziert, wird sich bei Manows Bewertung des empirischen Materials zeigen.
Gleichwohl bietet Manow eine Prämisse an, die für jeden Populismus gelten soll: Populistischer Protest sei eine verteilungspolitische Reaktion auf die Globalisierung, die Manow als »grenzüberschreitende Bewegung von Kapital sowie Gütern und der von Personen« fasst. Dabei folgt er dem Ökonom Dani Rodrik, der die Faustregel aufstellt: Protest äußere sich eher links, wenn die Bewegung von Gütern und Geld als Problem erfahren wird, rechts, wenn die Bewegung von Personen als problematisch empfunden wird.
Warum wird nun welche Bewegung für eine Ökonomie problematisch? Auch dies erklärt Manow in Anlehnung an Rodrik: In den auf Außenhandel orientierten nord- und kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften hätten sich zur Kompensation der potenziellen Verlierer*innen des Außenhandels (der sprichwörtlichen Bergwerker und Stahlarbeiter) großzügige und zugängliche Wohlfahrtsstaaten entwickelt. In den mehr auf den Binnenmarkt orientierten Ökonomien Südeuropas seien zwar ebenfalls großzügige Wohlfahrtsstaaten entstanden, diese seien aber nur wenigen Menschen zugänglich. Für diese Länder werde vor allem der freie Güter- und Geldverkehr problematisch, da sie auf dem Weltmarkt weniger konkurrenzfähig seien. Zudem fehle ihnen seit der Einführung des Euro die Möglichkeit, mit Abwertung der eigenen Währung zu reagieren. Da in Südeuropa der Sozialstaat Migrant*innen weitgehend verschlossen sei, entwickle sich dort eher linksgerichteter Protest gegen die Folgen der Globalisierung bzw. die von der EU verordnete Sparpolitik.
In den exportorientierten Ökonomien Nord- und Kontinentaleuropas (Skandinavien, Deutschland, Holland, Belgien, Österreich) werde dagegen eher Migration zum Problem, weil diese die Sozialsysteme zu überlasten drohe, die »Kompensationsfähigkeit« des Sozialstaats in Frage stelle. Folglich artikuliere sich der Protest hier eher rechts. Zudem seien die Sozialversicherungselemente in den vergangenen Jahrzehnten massiv zurechtgestutzt worden, in Deutschland durch die Hartz-Reformen, so dass Beschäftigte, wenn sie arbeitslos werden, rasch auf das Niveau der Grundsicherung abrutschen – was vor allem bei »Arbeitsmarkt-Insidern«, also jenen mit gut bezahlten Vollzeitjobs, viel Wut hervorrufe. »In diesem Kontext wurden großzügige, den Zugang von EU-Ausländern oder Drittstaatlern zu nationalen Sozialleistungen betreffende Nicht-Diskriminierungsregeln hoch kontrovers.«
Manow ergänzt die Typisierung noch um das angelsächsische Modell (Großbritannien), das über einen liberalisierten Arbeitsmarkt, aber nur über einen schwach ausgebauten Wohlfahrtsstaat verfüge. Hier verschärfe Arbeitsmigration die Konkurrenz im Niedriglohnbereich, weshalb dort vor allem »Arbeitsmarkt-Outsider« (prekär Beschäftigte, Erwerbslose etc.) gegen Migration protestierten. Etwas außerhalb des Rasters finden sich die osteuropäischen Länder, die von der wirtschaftlichen Liberalisierung einerseits profitierten, andererseits vor allem Entsendeländer von Arbeitsmigrant*innen seien, selbst aber »keine Empfänger von Migration werden wollen«. In Frankreich schließlich finde man sowohl Elemente des süd- wie des nordeuropäischen Modells, was auch die Existenz sowohl starker links- als auch rechtspopulistischer Akteure (La France Insoumise und Rassemblement National) erkläre.
Manows Probleme mit den Daten
Kapitel 4 und 5 sollen den empirischen Beleg für Manows Thesen liefern. In diesem Teil des Buches findet sich interessantes Datenmaterial, mit dem Manow unter anderem nachweisen kann, dass die AfD nicht in besonders »abgehängten« Regionen stark ist, sondern vor allem in Gegenden, die wirtschaftlich vergleichsweise gut dastehen. Interessant ist aber auch, welche Zusammenhänge Manow übersieht – oder wegerklärt. Manow ist bekannt, dass Männer deutlich häufiger AfD wählen als Frauen. Da er aber auch eine Korrelation zwischen Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe und Wahl der AfD entdeckt, löst er die Männer-Frauen-Wahlunterschiede einfach in diesem Faktor auf: »Dann wäre der Befund, dass unter den AfD-Wählern deutlich mehr Männer als Frauen zu finden sind, zumindest in Teilen das Resultat ihrer stärkeren Einbindung in das klassische industrielle Modell Deutschlands.«
»Ökonomische« Zusammenhänge sind Manow alles, »kulturelle« nichts. Doch obwohl seine komplette Erklärung für den Erfolg des Rechtspopulismus darauf basiert, macht er sich nicht die Mühe zu belegen, dass Migration seit 2015 tatsächlich zu einer schweren Belastung für die nordeuropäischen Staaten geworden ist. Für Deutschland kann man einen solchen Zusammenhang jedenfalls nicht nachweisen.
Im Bundeshaushalt 2018 waren für »flüchtlingsbezogene Leistungen« 21,4 Milliarden Euro angegeben, darunter Erstattungen an Länder und Kommunen von 6,6 Milliarden und Ausgaben für Integrationsleistungen sowie Sozialtransfers in Höhe von acht Milliarden Euro. In den Vorjahren sah es ähnlich aus. Gleichzeitig steigen die Einnahmen des Staates kontinuierlich: 2016 konnten sich Bund, Länder und Kommunen über Steuermehreinnahmen von 28 Milliarden Euro freuen, 2017 stiegen die Einnahmen noch mal um 26 Milliarden Euro. 2018 nahm die Bundesrepublik abermals sechs Prozent mehr ein – insgesamt 713 Milliarden Euro. (1)
Die Kosten explodieren?
Und nicht nur das: Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherungen geben seit Jahren weniger Geld aus als sie einnehmen. Allein 2018 lagen die Überschüsse bei 58 Milliarden Euro. Angesichts dieser Zahlen fällt es schwer, das Szenario der systemsprengenden Kosten der Migration nachzuvollziehen. (2)
Zudem ist fraglich, ob die Wähler*innen rechter Parteien Migration tatsächlich in erster Linie wegen der öffentlichen Ausgaben ablehnen: Mindestens ebenso hartnäckig wurde von rechts auf den angebliche Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität oder »islamistischem Terror« gepocht – oder zwischen Migration und wachsender Konkurrenz am Arbeitsmarkt.
Schließlich ist unklar, wieso sich vor allem »Arbeitsmarkt-Insider« so sehr um die Finanzierung des Sozialstaats sorgen sollten. Und wieso ihnen ein von Manow behaupteter, in der Realität aber kaum existierender Zusammenhang so wichtig sein sollte, während sie sehr reale Faktoren, die die Einnahmen des Staates unterhöhlen (wir erinnern uns an den Cum-Ex-Skandal), komplett ignorieren? Manows Argument ist, dass die »Arbeitsmarkt-Insider«, sollten sie einmal arbeitslos werden, durch die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre ihren beruflichen Status schneller verlieren als früher. Das ist tatsächlich eine drastische sozialpolitische Verschlechterung, kann aber noch nicht erklären, wieso sich die Wut darüber gegen Migrant*innen richtet. (3) Um hier einen besonderen Skandal zu empfinden, muss das eigene Leben als wertvoller wahrgenommen werden als das von Migrant*innen, kurz: Es geht nicht ohne verinnerlichten Rassismus.
Der aber ist als »kulturalistische« Deutung aus der Erklärung ausgeschlossen. Dass hier etwas nicht ganz zusammenpasst, scheint Manow selbst zu dämmern. Im empirischen Teil versucht er zu ergründen, warum Leute mit sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen überdurchschnittlich häufig AfD wählen – und warum vor allem in Orten, in denen in der Vergangenheit hohe Arbeitslosigkeit herrschte. Manow schreibt: »Man könnte formulieren: AfD-Wähler leiden unter Reminiszenzen – Reminiszenzen, die durch das Geschehen in den Jahren 2015ff. aktualisiert wurden.«
Reminiszenzen also. Könnte sich hier vielleicht die Frage nach der ideologischen Verarbeitung sozialer Erfahrungen, nach politisch-kulturellen Deutungen stellen? Nein! Gleich im nächsten Satz insistiert Manow: »Das braucht man nun aber nicht zu psychologisieren (und auch nicht zu kulturalisieren), denn dahinter scheint doch (auch oder wesentlich?) ein Konflikt über die gerechte Verteilung von Ressourcen … zu stehen, und das heißt eine vielleicht kulturalisierte, im Kern jedoch sozioökonomische Auseinandersetzung.«
Schade, dass Manow die Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Rassismus und sozialen Hierarchien konsequent verweigert. (4) Begreift man Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis, das materielle und symbolische Vor- und Nachteile verteilt, lässt sich in den zusammengetragenen Daten leicht ein anderer Sinn erkennen: Wohlstandschauvinismus, der auf die Absicherung bestehender sozialer Hierarchien und Privilegien durch rassistischen Ausschluss setzt.
Auch die Annahme, dass politische Kulturen und Traditionen keinen wesentlichen Beitrag zur Erklärung politischer Einstellungen leisten könnten, trübt Manows Blick. In einer kürzlich veröffentlichten Studie fand der Wirtschaftshistoriker Davide Cantoni von der Ludwig-Maximilians-Universität München heraus, dass die AfD in solchen Orten besonders gute Wahlergebnisse erzielt, in denen auch die NSDAP stark war. Langzeituntersuchungen wie die Leipziger Autoritarismus-Studie (vormals »Mitte-Studie«) weisen zudem seit Jahren einen relativ stabilen Anteil rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung nach. Diese Menschen haben, so die Studien, früher entweder gar nicht gewählt oder ihr Kreuz bei anderen Parteien gemacht, bei der CDU/CSU oder der SPD. Erst seit der Gründung der AfD 2013 gibt es für sie ein passendes Wahlangebot. Doch solche Zusammenhänge passen schlecht zur These von den verteilungspolitischen Ursachen des »neuen Populismus«.
Hauptsache eine flotte These
Zu guter Letzt kann Manows Prämisse, dass Populismus – egal ob links oder rechts – ein zusammenhängendes Phänomen sei, das sich als solches erklären lasse, nicht überzeugen. Die Schwäche dieser Perspektive zeigt sich auch bei der Interpretation der statistischen Daten: So fällt Manow unter anderem auf, dass Beschäftigte im Öffentlichen Dienst in Südeuropa überdurchschnittlich häufig (links-)populistische Parteien wählen, während sie im Norden seltener als der Bevölkerungsdurchschnitt (rechts-)populistische Parteien wählen. Manow entdeckt hier »Unterschiede« im Wahlverhalten der Staatsbeschäftigten (hier mehr, dort weniger populistisch), die er mühsam mit ihren unterschiedlichen Positionen in den Wirtschaftsmodellen Süd- und Nordeuropas zu erklären versucht. Dabei liegt der Schluss viel näher, dass hier kein Unterschied, sondern eine Gemeinsamkeit gemessen wurden: Beschäftigte im Öffentlichen Dienst wählen offenbar sowohl in Nord- wie Südeuropa lieber links als rechts.
Fazit: Nicht nur ist Manows Grundannahme – die Migration seit 2015 ist problematisch für die Sozialsysteme – nicht belegt, auch seine Annahme, dass diese Kosten die Problemwahrnehmung bestimmen würden, ist fragwürdig. Er ignoriert relevante Untersuchungen zum Thema, insbesondere jede Erkenntnis, die die Rassismusforschung der letzten Jahrzehnte produziert hat. Sein Buch erklärt wenig und legt falsche Fährten, dabei gefällt sich der Autor in der Pose des Aufklärers mit dem kühlen Kopf, der weiß, wie es wirklich ist. Zu Unrecht. Leider hat Manows Nebelkerze gut gezündet, die Rezeption des Buchs ist überwiegend positiv.
Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus, Suhrkamp, Berlin 2018. 176 Seiten, 16 EUR.
Anmerkungen:
1) Ein Teil der Mehreinnahmen geht auf die Anwesenheit geflüchteter Menschen zurück: höhere Mehrwertsteuereinnahmen durch privaten Konsums; Steuern und Sozialabgaben, die erwerbstätige Asylsuchende zahlen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit schätzt zudem, dass im Zusammenhang mit der Flüchtlingsversorgung mindestens 50.000 zusätzliche sozialversicherungspflichte Arbeitsplätze entstanden sind.
2) Worauf Manow gar nicht eingeht, ist, dass in Deutschland die Sozialleistungen für Asylbewerber*innen unter denen für deutsche Staatsbürger*innen liegen (354 Euro im Monat nach Asylbewerberleistungsgesetz vs. 424 Euro im Monat bei Hartz IV) – obwohl das Bundesverfassungsgericht diesen Unterschied schon vor Jahren für verfassungswidrig erklärte. Auch EU-Bürger*innen sind beim Sozialleistungsbezug schlechter gestellt. Sofern sie nicht durch eigene Arbeit Ansprüche erworben haben, erhalten sie erst nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland Hartz IV oder Sozialhilfe (bis 2017: nach sechs Monaten). Mehr hierzu auf Seite 6.
3) »Im entsprechenden Milieu dürfte dies ganz erheblich zum Unmut über die massive Zuwanderung beigetragen haben.« (S. 88) Und: »Die Empörung hierüber konnte sich aber nicht in einer linken Protestwahl entladen, weil die Linke ja Migration vorbehaltlos befürwortet.« (S. 89)
4) Er benutzt im ganzen Buch nicht ein einziges mal das Wort Rassismus, sondern schreibt stets von »Fremdenfeindlichkeit« und der »Protestpartei« AfD.