Pride ist nicht nur einmal im Jahr
Queerer Aktivismus muss konfliktfreudiger und kollektiver werden, damit nicht nur im Juni die Regenbogenfahnen wehen
Von Bilke Schnibbe
Wieder ist ein Jahr vergangen, und wieder ist Pride Month. Deutschlandweit finden wie jedes Jahr im Juni Veranstaltungen rund um queere Themen statt. Wie in vielen Bereichen der radikalen Linken auch, ist die queere Bewegung in Deutschland sehr schwach aufgestellt. Eigentlich kann man nicht von einer »Bewegung« sprechen: Vereine und Gruppen kümmern sich vereinzelt darum, dass queere Versorgungsstrukturen regional entstehen und aufrechterhalten werden. Queere Themen tauchen in den sozialen Medien zwar auf – insgesamt ist die öffentliche Debatte um sie aber liberal: Im Juni schmücken sich Konzerne mit der Regenbogenfahne, und liberale Queers möchten so behandelt werden wie die anderen auch. Organisierung um radikale Forderungen gibt es aktuell wenig, Allianzen von Queers und anderen sozialen Bewegungen ebenfalls kaum.
Gleichzeitig tauchen »die Homolobby«, »der Queerfeminismus« und ihre vermeintlichen Anhänger*innen immer wieder in bürgerlichen Medien und teils auch in linken Debatten als übermächtige Gruppe dogmatischer Verrückter auf. Queere und feministische Aktivist*innen würden ihre Widersacher*innen einfach canceln, also aus ihren Positionen verdrängen und mundtot machen, wenn ihnen deren Meinung nicht passt. Sahra Wagenknechts Aussagen darüber, dass es aktuell zu viel um »skurrile Minderheiten« gehen würde, sind ein Beispiel für diese Fantasie.
Es ist keine Option, sich dauerhaft ins Private zurückzuziehen.
Im queeren Aktivismus nehmen also liberale Positionen viel Raum ein, während Angriffe von außen ihm zu viel Radikalität vorwerfen. Das schafft eine paradoxe Situation, in der linksradikale Queers zum einen Abwehrkämpfe nach außen führen müssen, die zeitgleich eine Auseinandersetzung mit tatsächlich problematischen Kommunikationsmustern innerhalb der queeren Szene behindern. Denn die gibt es – auch wenn die queerfeindliche und antifeministische Erzählung von der Gendermafia Quatsch ist. Die internen Probleme in queeren Kontexten nicht offen anzugehen, schwächt zum einen radikale queere Organisierung an sich, weil beispielsweise Konflikte innerhalb queerer Gruppen eskalieren und zu Spaltungen führen. Zum anderen behindert die Tendenz zum gegenseitigen Hauen und Stechen einen solidarischen und produktiven Umgang mit unterschiedlichen politischen Ansichten und Ausrichtungen im queeren Aktivismus. Das alles wiederum verhindert, dass langfristige, radikale Bündnisse und Beziehungen entstehen und mehr Raum gegenüber den aktuell besser organisierten liberalen Gruppen einnehmen können. Das alles führt, neben anderen Dingen, zu einem inhaltlichen »auf der Stelle treten«. Aus dieser Schraubzwinge müssen sich radikale Queers befreien – indem sie selbstbewusst Probleme in der Community ansprechen und aushandeln und nicht aus Angst davor, queerfeindliche Diskurse zu füttern, Probleme ignorieren. Mit diesem Text möchte ich einen Anfang zu einer solchen Debatte machen.
Aufmerksamkeitsgeile Schneeflocken
Queere Menschen sind von Homo- und Transfeindlichkeit betroffen. Das ist ein Fakt. Trotzdem ist etwas dran an der Kritik, dass queerer Aktivismus aktuell gut mit dem Druck zur Individualisierung und Selbstoptimierung im Kapitalismus zusammengehe. Aus dieser guten Passung resultiert, dass sich Queers nicht kollektiv organisieren, sondern auf individueller Ebene mit Queerfeindlichkeit umgehen. So werden beispielsweise selbstfürsorgliche Praktiken verfolgt, die aus der Schwarzen Bewegung in den USA stammen und in den sozialen Medien als »aktivistisch« und »radikal« gerahmt werden. Dabei tritt in den Hintergrund, dass viele Queers in Deutschland aufgrund verschiedener Faktoren viel weniger benachteiligt sind als die Gruppen, für die Selbstfürsorge einmal als radikale Praxis ausgerufen wurde. Polemisch formuliert: Es ist ein Unterschied, ob man das weiße, studierende Kind homofreundlicher Lehrer*innen ist und mal ein Haus erbt oder eine Schwarze trans Person im New York der 1980er Jahre inmitten der Aids-Krise. Was für die einen tatsächlich ein radikaler Akt ist und war, ist für weiße, deutsche Queers aus der Mittelschicht möglicherweise eine bequeme Ausrede, sich nicht organisieren zu müssen. Ja, Queers erleben Homo- und Transfeindlichkeit, das ist ein Fakt. Und ja, das ist anstrengend, und Erholung ist wichtig. Es ist aber auch wahr, dass viele Queers in Deutschland mehr Ressourcen hätten, andere Queers zu radikalisieren, zu vernetzen und zu unterstützen, als sie aktuell einsetzen. Und das liegt auch daran, dass viele Queers eben in einer Position sind, die (glücklicherweise) wesentlich weniger prekär ist als noch vor einigen Jahren.
Es ist keine Option, sich dauerhaft ins Private zurückzuziehen und zu sagen »naja, ich als queerer Mensch habe es aber auch nicht leicht«, wenn sich etwas ändern soll. Auch ich muss immer wieder daran arbeiten, nicht etwas »selbstmitleidig« in meiner queeren Biografie zu versinken. Die schwerste Aufgabe ist, sich selbst als queere Person ernst zu nehmen und die eigenen Bedürfnisse trotzdem nicht automatisch als wichtigstes Anliegen queerer Kämpfe zu betrachten. Vor allem Queers mit mehr Ressourcen müssen sich fragen: Ist das hier grade noch ein kollektives Anliegen oder verfolge ich vielleicht individualistische Ziele?
Es ist ein heikler Punkt, dieses Problem in der queeren Szene in Deutschland zu benennen. Insbesondere weil regelmäßig mit ähnlichen Aussagen von rechts gegen queere Personen gehetzt wird: Empfindliche Schneeflocken, die aus Jux und Dollerei alle zwei Tage eine neue Geschlechtsidentitäten erfinden, so oder so ähnlich liest es sich alle paar Wochen in deutschen Zeitungen. Zu Recht haben viele Queers Angst, anderen Queers öffentlich in den Rücken zu fallen und queerfeindliche Positionen ungewollt zu stärken. Auch ich habe Angst, dass dieser Text für solche Zwecke instrumentalisiert wird. Dass diese Gefahr auch aus vermeintlich linker Ecke droht, zeigte sich 2017, als der Sammelband »Beißreflexe« im Querverlag erschien und, so die Unterzeile, »Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten« üben wollte. Viele radikale Queers erinnern sich mit Grauen an die eskalierende Debatte nach Erscheinen des Bandes. Und viele Queers wollen zurecht vermeiden, in ähnliche unsolidarische Kerben zu schlagen wie viele der Autor*innen im Sammelband und in den folgenden Debatten.
Konflikt? Konflikt!
Die Sorge, in einer kompliziert erscheinenden Debatte etwas »falsch zu machen«, ist verständlich. Es ist aber wie gesagt langfristig kontraproduktiv, wenn queere Aktivist*innen und Gruppen politische und persönliche Konflikte nicht mehr austragen aus Angst, den falschen Leuten Wasser auf die Mühlen zu gießen. Es wird immer Konflikte geben, wenn Menschen miteinander in Beziehung treten. Die Fähigkeit, Konflikte zu adressieren, statt sie zu ignorieren bis sie eskalieren, ist daher etwas grundlegend Notwendiges für politische, solidarische Organisierung. Da hat nicht nur die queere Bewegung Aufholbedarf, das gilt für die radikale Linke allgemein, wie zum Beispiel die Debatten um sexuelle Gewalt in linken Räumen im letzten Jahr gezeigt haben.
Viele Queers haben schon selbst ein episches, queeres Drama erlebt, in dem sich romantische Beziehungen, Gruppen, Freund*innenschaften, Wohnprojekte gespalten haben. Auch das ist sicherlich nichts, das nur in queeren Kontexten passiert. Oftmals wird die angeblich besondere »queere Drama-Neigung« damit erklärt, dass Queers häufiger als Andere negative Dinge, insbesondere in ihren Herkunftsfamilien, erlebt haben und deshalb Schwierigkeiten in Beziehungen haben. Auf der anderen Seite müssen Queers im persönlichen Rahmen Beziehungsformen abseits der gesellschaftlichen Norm finden. Queers steht oft nicht der Weg offen, eine Kleinfamilie oder ähnliche Struktur zu wählen, in der über eingeschliffene Hierarchien Stabilität geschaffen wird. Queers haben außerdem keinen Staat und keine Gesellschaft im Rücken, die ihre Beziehungsformen unterstützen. An all diesen Punkten ist sicherlich etwas dran. Die liberale Forderung, Queers mit Nicht-Queers »gleichzustellen«, ist nicht grundlegend schlecht – aber nicht ausreichend. Die Zweier-Ehe oder das Adoptionsrecht für Paare umfasst nicht alle queeren Familienmodelle. Mehr als eine hingewürgte Imitation cisgeschlechtlicher und heterosexueller Lebensentwürfe werden wir aber nicht kriegen, wenn wir uns vorher nicht organisieren. Das heißt, dass wir an unserer Beziehungs- und Konfliktfähigkeit miteinander arbeiten müssen – egal, wie gerechtfertigt es ist, dass wir so sind, wie wir sind. Das heißt im Moment insbesondere, dass wir uns trauen, Probleme in der queeren Szene anzusprechen. Sonst bleibt es bei dem alljährlichen Regenbogensticker an der Glastür der Sparkassenfiliale.