Reden ist Gold
Das Buch »Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt« erklärt ausführlich Probleme Betroffener und bleibt trotzdem an der Oberfläche
Von Bilke Schnibbe
Alle paar Jahre grüßt das Murmeltier: In der radikalen Linken wird wieder diskutiert, wie mit sexueller Gewalt umgegangen werden soll. Wie sollen Feminist*innen der nach wie vor gravierend hohen Zahl von Übergriffen aktivistisch begegnen? Welche Konzepte im Umgang mit Betroffenen und Täte*rinnen sind hilfreich, welche sind schädlich, wenn es zu konkreten Fällen kommt? Und, last but not least: (Wie) kann den vielen schweigenden Betroffenen ein Raum zum (öffentlichen) Sprechen geschaffen werden?
Mit der letzten Frage beschäftigt sich Lilian Schwerdtner im Buch »Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt – Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung«. Damit widmet sich das Buch einem zentralen Problem: Betroffene sprechen, wenn überhaupt, vor allem im privaten Rahmen über ihre Erfahrungen. Schon dort begegnet ihnen häufig Gegenwind und mangelnde Unterstützung, sodass sie schnell wieder verstummen. Die Autorin nennt das die »Entstimmlichung« Betroffener und sieht darin eine Form sprachlicher Gewalt. Diese sprachliche Gewalt sei, so Schwerdtner, ein massives strukturelles Problem und ein Teil davon, wie Betroffene im Stich gelassen würden. Die Entstimmlichung trüge auch dazu bei, dass sexuelle Gewalt als gesamtgesellschaftliches Phänomen aufrechterhalten bliebe. Es bleibt unsichtbar, wie viele Menschen eigentlich betroffen sind und Täter*innen können unbehelligt weitermachen. Schwerdtner erklärt verschiedene Mechanismen, die diese Form sprachlicher Gewalt ausmachen: kontraproduktive Reaktionen von Zuhörenden (z.B. anzweifeln, nicht glauben, kleinreden und ähnliches) , und deren Vorstellung davon, wie sich »echte« Betroffene verhalten sollten und wie »echte« Übergriffe aussehen.
Die Dinge beim Namen nennen
Die Beschreibung, wie Betroffenen der Raum zum Sprechen verwehrt wird, nimmt einen Großteil des Buches in Anspruch. Das im Titel angekündigte Plädoyer für Selbstbestimmung und Kollektivität lässt bis zum letzten Kapitel auf sich warten und ist kurz. Das ist schade, denn die Frage, wie sich Betroffene selbst organisieren können und was »Kollektivität« denn heißen könnte, werden nicht konkret beantwortet. Auf das umstrittene »Definitionsmacht«-Konzept und die #metoo-Bewegung wird kurz als kollektive Ansätze verwiesen. Wie daran konkret angeknüpft werden könnte, wird nicht thematisiert. Auch das ist schade, weil grade hier eigentlich Informations- und Vermittlungsbedarf besteht.
Das ist auch an anderer Stelle eine Schwäche des Buches: Schwerdtner bleibt trotz sichtbar guter Intentionen inhaltlich stellenweise unkonkret und dadurch beliebig. Es wird beispielsweise nicht deutlich, was genau damit gemeint ist, wenn die problematischen (Nicht-)Reaktionen auf die Äußerungen Betroffener als »sprachliche Gewalt« bezeichnet werden. Es ist sicherlich richtig, dass Betroffene massiv darunter leiden, wenn ihnen nicht geglaubt wird und ihre Anklagen folgenlos bleiben. Es stimmt auch, dass diese Art von Reaktionen systematisch stattfinden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob für diesen Umstand der hochgradig moralisch aufgeladene Begriff »Gewalt« tatsächlich angemessen ist. An anderer Stelle kritisiert Schwerdtner selbst, dass Sexarbeit gelegentlich als strukturell gewaltvoll bezeichnet wird, wodurch beispielsweise Vergewaltigungen von Sexarbeiter*innen verharmlost würden. Der Gewaltbegriff wird, so scheint es, dann in Stellung gebracht, wenn er der Argumentation der Autorin dient, und dann zurückgewiesen, wenn er ihrer politischen Haltung widerspricht. Als wäre allen »wirklich feministischen« Lesenden gleichermaßen klar, was denn nun Gewalt genannt werden muss und was nicht Gewalt genannt werden darf.
Psychotherapeutisches Halbwissen
Besonders problematisch ist das Kapitel über die psychischen Folgen von sexuellen Übergriffen. Schwerdtner zitiert hier stellenweise zweifelhafte Informationen über die Symptome und die Behandlung von Traumafolgestörungen. So seien beispielsweise Flashbacks, also extrem belastende Erinnerungsblitze an das Geschehene, eine Form des »Durcharbeitens« eines traumatischen Erlebnisses. Richtig ist, dass dieses für Betroffene extrem belastende Symptom häufig nicht von alleine verschwindet, wenn es oft genug erlebt wurde – das Gegenteil ist der Fall.
Begriffe wie »Trauma«, »Traumatisierung« und »Posttraumatische Belastungsstörung« werden im weiteren Verlauf ebenfalls unkonkret verwendet. Schwerdtner schreibt beispielsweise, dass die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung die Folgen von Naturkatastrophen einerseits und menschengemachte Gewalterfahrungen andererseits unkommentiert gleichsetzen würde. Dadurch würde sexuelle Gewalt zu etwas Natürlichem erklärt werden. Die Hauptquelle für diese Feststellung ist für die Autorin das Diagnosemanual ICD-10, in welchem die Kriterien zur Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung festgeschrieben sind. Dass es sich hierbei lediglich um eine Anleitung zur Diagnose und nicht (!) zur Behandlung handelt, bleibt Lesenden ebenso verborgen wie der eigentlich differenzierte Diskurs unter Forschenden und Behandler*innen um Traumata und deren Behandlung.
Tatsächlich gibt es in der Traumaforschung und -therapie eine intensive Beschäftigung mit den Unterschieden von Traumatisierungen, die durch Menschen oder ohne menschliches Zutun entstehen. Schwerdtners Kritik haftet hier an einem nebulös psychiatriekritischen Ansatz, der sich undifferenziert gegen »Pathologisierung« richtet. Psychiatrische und psychotherapeutische Maßnahmen sind definitiv kritikwürdig. Es stimmt aber auch, dass feministische Selbstorganisierung, wie in vielen Bereichen praktiziert, momentan nicht annähernd in der Lage ist, flächendeckend adäquate Alternativen zum Umgang mit schwer belasteten Menschen anzubieten. Gerade deshalb ist eine differenzierte Kritik notwendig, um Betroffene und ihre Unterstützer*innen nicht zu verunsichern, ob Therapie hilfreich sein könnte oder nicht.
Insgesamt beschreibt Schwerdtner in ihrem Buch viele Mechanismen und Probleme treffend und ihre Forderungen gehen in die richtige Richtung. Trotzdem entsteht insgesamt der Eindruck, dass »Trauma« und »Gewalt«, »Solidarität« und »Kollektivität« alles und nichts sein können. Und das trägt eher zur Unklarheit bei, was denn nun eine tatsächlich gute Strategie für feministische Organisierung und Gegenwehr sein könnte.