Die wunden Punkte von Amazon
Gewerkschaften müssen neue Wege gehen, wenn sie es mit dem Versandgiganten aufnehmen wollen
Von Nina Scholz
Gelbe Westen, ver.di-Fahnen, streikende Amazon-Arbeiter*innen, die bei Morgengrauen vor einem sogenannten Fulfillment-Center stehen und für bessere Arbeitsbedingungen und einen Tarifvertrag beim Logistikgiganten kämpfen – mittlerweile ist das Bild so geläufig, dass es schwer vorstellbar ist, dass die Proteste und Streiks bei Amazon erst 2013, also vor weniger als zehn Jahren, begonnen haben.
Allerdings ist der Konzern, gegen den sie kämpfen, auch nicht viel älter. Trotzdem gehört er bereits seit einigen Jahren zu den fünf wertvollsten der Welt. 1994 von Jeff Bezos in Seattle als Online-Buchhandlung gegründet, wandelte sich Amazon zu einem modernen, Algorithmen getriebenen Versandunternehmen und stieg zum Monopolisten auf. Anders als seine Mitbewerber Google, Facebook, Apple und Microsoft, die vieles daran setzen, als freundlich und nett wahrgenommen zu werden, verbindet Amazon den maschinengetriebenen Verschleiß von Arbeiter*innen mit digitaler Planbarkeit und verschleiert dabei kaum seinen Machthunger.
Wie man diesem Monopolisten trotzdem Lohnerhöhungen und Eingeständnisse abtrotzen kann, haben die Logistikarbeiter*innen im beschaulichen Bad Hersfeld in Deutschland immer wieder gezeigt. Sie sind zur Keimzelle einer international vernetzen Gewerkschafts- und Protestbewegung gegen Amazon geworden. Im ehemaligen Zonenrandgebiet Hessens hatte Amazon bereits 1999 sein erstes Versandzentrum in Deutschland, FRA1, gebaut, 2009 folgte an dieser Stelle ein zweites, FRA3. Insgesamt arbeiten in Bad Hersfeld etwa 3500 Menschen.
Bei ihren Kämpfen ging es den Amazon-Beschäftigten in Bad Hersfeld nicht alleine um Tarifauseinandersetzungen. Der Anfang dieses Jahres verstorbene Amazon-Arbeiter und Gewerkschafter Christian Krähling beschrieb die Arbeitsbedingungen in dieser Zeitung sehr eindrucksvoll: »Wir haben eine sehr hohe Krankenquote, die lag schon bei über 20 Prozent. Bei uns kommt es vor, dass ein Kollege abgemahnt wird, weil er 16 Sekunden zu früh in die Pause geht. Solche Dinge passieren täglich. Da stehen zu Pausenzeiten Manager vor dem Pausenraum und kontrollieren, ob jemand zu früh kommt.«
Ein gutes Drittel, 1100 Arbeiter*innen, traten am 9. April 2013 zum ersten Mal in Streik. »Etwas war geschehen, was niemand – vor allem nicht Amazon selbst – für möglich gehalten hätte: Zum ersten Mal in seiner knapp 20-jährigen Geschichte war der US-Internethändler mit einem Streik konfrontiert. Ausgangspunkt waren nicht etwa die USA, sondern das als wenig streikfreudig bekannte Deutschland«, heißt es in einer Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Vorausgegangen war über ein Jahr intensive Organisierungsarbeit von ver.di durch die nach und nach Organisationsmacht im Betrieb aufgebaut wurde – anstatt die Beschäftigten nur »von außen« zu vertreten.
Blaupause gewerkschaftlicher Organisierung
Ein Auslöser für den Strategiewechsel war die Schwäche der Gewerkschaft angesichts der Übermacht Amazons, schreiben Jörg Boewe und Johannes Schulte: »Das kleine Beispiel aus Bad Hersfeld (…) zeigt, wie groß die Schwierigkeiten für Gewerkschaften sind, bei Amazon Organisationsmachtaufzubauen.« Es zeige aber auch, dass es nicht unmöglich sei, wenn man den politischen Willen dazu habe.
Der Arbeitskampf in Bad Hersfeld ist so zu einer Blaupause für gewerkschaftliche Organisierung gegen Logistikunternehmen wie Amazon geworden. Ver.di hatte gezeigt, dass einem derart gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen nur mit einem strategisch geplanten Organisierungsprojekt und durch reale Gegenmacht, die sich in Personenstärke ausdrückt, durch Eins-zu-Eins-Gespräche, ein Netzwerk von Vertrauensleuten und die Einbindung der lokalen Community als Unterstützer*innen, etwas entgegenzusetzen ist. Die kämpfenden Arbeiter*innen haben dem US-amerikanischen Unternehmen mittlerweile konkrete, wenn auch kleinere Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, Weihnachtsgeld und Lohnerhöhungen abgetrotzt. Sie haben die Arbeitsbedingungen bei den Tech-Unternehmen in die Öffentlichkeit gebracht und den Diskurs, der vorher oft davon bestimmt war, dass die US-amerikanischen Tech-Unternehmen eine bessere Zukunft einleiten, deutlich verschoben.
Auch in anderer Hinsicht sind die Kämpfe der Bad Hersfelder Gewerkschafter*innen vorbildlich. Im Oktober 2014 eröffnet Amazon die ersten Versandzentren in Polen, wohl auch, um den mittlerweile vital gewordenen gewerkschaftlichen Kämpfen und regelmäßig stattfindenden Streiks in Deutschland zu entgehen. Und um billigere Arbeitskraft einzukaufen. Doch knapp acht Monate später wurde bereits eins der beiden Versandzentren bestreikt, parallel zu einem Streik in Bad Hersfeld. Der erste polnische Amazon-Streik war vielleicht bei Weitem nicht so gewerkschaftlich eingehegt wie der in Bad Hersfeld, doch auch er wurde vorbereitet: einerseits von der anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaft OZZ Inijatywa Pracownicza (IP), die der deutschen FAU nicht unähnlich ist. Der Austausch mit deutschen Amazon-Arbeiter*innen, die die polnischen Kolleg*innen auf eine Situation wie die im Oktober 2014 bereits in Gesprächen vorbereitet hatten, spielte eine große Rolle. Amazon hatte versucht den Arbeitsausfall, der durch den Streik in Bad Hersfeld entstanden war, durch das Versandzentrum in Poznan und Mehrarbeit für die Arbeiter*innen dort auszugleichen. In Poznan zeigte sich an diesem Tag zum ersten Mal, dass Arbeiter*innen die gut geölte Planungsmaschine Amazons über Grenzen hinweg zum Stottern bringen können, wenn sie zusammenhalten und sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Bemerkenswert ist diese Zusammenarbeit, die bis heute anhält, auch, weil zwei konkurrierende Ansätze des Arbeitskampfes – eine kleine Basisorganisation in Polen und eine nationale, sozialpartnerschaftliche Gewerkschaft in Deutschland – miteinander kooperieren.
Auf diese Erkenntnis haben die Amazon-Arbeiter*innen bereits praktisch reagiert und die internationale Vernetzung Amazon Workers International (AWI) gegründet. Neben Arbeiter*innen aus Polen und Deutschland koordinieren Amazon-Beschäftigte aus Italien, Frankreich, Spanien, Slowenien, Großbritannien und den USA innerhalb der AWI Erfahrungs- und Informationsaustausche, internationale Konferenzen und erste Versuche gemeinsamer Streikaktionen. In der ebenfalls international vernetzen Kampagne »Make Amazon Pay« organisieren Aktivist*innen und Arbeiter*innen gemeinsam Aktionstage, bei denen Näher*innen in Bangladesh und Kambodscha, Lager- und Logistikarbeiter*innen in Europa und den USA an die Öffentlichkeit appellieren. Bisher fehlt den Aktionen noch die Schlagkraft Amazon wirklich finanziellen Schaden zuzufügen. Es zeigt sich aber, dass durch kontinuierlichen Ausbau dieser Netzwerke und Ausbau der lokalen Organisierungen internationale Schlagkraft gewonnen werden könnte, um in Zukunft wichtige lokale Knotenpunkte gemeinsam und transnational lahmzulegen. Wie breit die internationale Vernetzung mittlerweile ist, konnte man bei einem traurigen Anlass, einer internationalen Online-Gedenkveranstaltung für den verstorbenen Gewerkschafter Christian Krähling sehen. Kolleg*innen und Mitstreiter*innen aus der ganzen Welt kondolierten mit eigenen Beiträgen und trauerten um ihren Freund und Mitstreiter, der maßgeblich den Aufbau der AWI vorangetrieben hat. Zugleich war diese Zusammenkunft auch ein Zeichen dafür, dass Gewerkschaftsbewegungen noch viel zu oft von einzelnen beeindruckenden Menschen wie Krähling leben.
Basisgewerkschaften als Schreckgespenst
Wie unterschiedlich die Kampftaktiken in den verschiedenen Ländern sind, zeigte sich bei einem landesweiten Streik in Italien am 22. März 2021. Alle Arbeiter*innen aus allen Bereichen der Amazon-Logistik des Landes, von den Lieferfahrer*innen bis zu den Lagerarbeiter*innen, streikten gemeinsam. Beobachter*innen schätzen, dass sich zwischen 20.000 und 40.000 an dem landesweiten Streik beteiligten. Francesco Massimo vermutet, dass die Radikalität des Streiks auf die Organisierungsmacht der italienischen Basisgewerkschaften, Cobas genannt, zurückzuführen ist. Sie, und nicht die etablierten Gewerkschaften, hätten die Streiks angeführt. Die streikenden Arbeiter*innen hätten auch Lagerhallen blockiert und den Warenverkehr behindert. »Die Basisgewerkschaften«, so Massimo, »sind ein echtes Schreckgespenst in der Logistikbranche. Und die etablierten Gewerkschaften stehen unter Zugzwang und versuchen daher, die Führung in der Branche zurückzuerobern.« Diesen Zugzwang spürt ver.di in Deutschland nicht. Vielleicht ist das auch ein Grund, dass die Arbeitskämpfe hierzulande schon länger keine nennenswerten Siege mehr errungen haben. Dabei sind Siege dringend notwendig gegen einen Konzern, der seine Macht in der Corona-Krise nochmal deutlich ausbauen konnte.
Es gibt keine Abkürzungen zum transnationalen Streik, es braucht stabile Organisierung in den Betrieben.
Bei aller internationalen Dynamik darf aber auch nicht vergessen werden, dass lokale Macht immer wieder neu aufgebaut werden muss. Es gibt keine Abkürzungen zum transnationalen Streik, es braucht stabile Organisierung in den Betrieben. Die Niederlage der Gewerkschaft in Bessemer, Alabama in den USA hat das 2021 eindrucksvoll vor Augen geführt. In diesem Südstaatenort sollte die erste Gewerkschaft innerhalb eines Amazon-Fulfillmentcenters gegründet werden – und scheiterte: 738 Amazon-Arbeiter*innen stimmten für die Gewerkschaftsgründung und 1798 dagegen.
Lehren aus Bessemer
Die langjährige Gewerkschaftsorganizerin Jane McAlevey kritisierte in den Tagen der Niederlage, dass ihre Kolleg*innen vor Ort nicht die nötige Aufbauarbeit gemacht hätten. Der Weg, den die Bad Hersfelder*innen beschritten haben, müsse von allen Betrieben immer wieder gegangen werden. Weil es keinen Umweg für den Aufbau einer sozialen Basis der Kämpfe und keinen automatischen Erfolg von Kämpfen gäbe – gerade dann nicht, wenn sie sich mit dem mächtigsten Konzern der Welt anlegen.
Die konkreten Klassenkämpfe der Amazon-Arbeiter*innen sind aber auch das nötige Korrektiv für die theoretischen Debatten der akademischen Linken. In letzter Zeit wird wieder vermehrt die Diskussion um sozialistische Planungsalternativen zum kapitalistischen Markt geführt. Leigh Phillips und Michal Rozworski spielen in ihrer Schrift »The People’s Republic of Walmart« diesen Gedankengang durch: könnte die Infrastruktur von Amazon wie gemacht dafür sein, enteignet, vergesellschaftet und für sozialistische Planungen bedürfnisorientierter Versorgung genutzt zu werden? Die konkreten Klassenkämpfe der Amazon-Arbeiter*innen können aufzeigen, in welcher Weise die zur Ausbeutungsmaximierung programmierten Algorithmen Herrschaftsinstrumente sind, die in einer sozialistischen Planung unbrauchbar, weil unmenschlich sind. Die theoretischen Debatten können aber ihrerseits auch dazu dienen, die Frage nach dem Ziel der Kämpfe zu stellen: Was kommt nach den Lohnerhöhungen und vielleicht sogar nach einem hart erkämpften Tarifvertrag? Wieviel Mitbestimmung wollen die Amazon-Arbeiter*innen und wer soll die Algorithmen planen? Doch bis diese Fragen praktisch beantwortet werden können, ist es noch ein langer und sicher auch kein gerader Weg.