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Tragische Ignoranz

Die vier Morde im Potsdamer Oberlinhaus sind kein Einzelfall, sondern Alltag in einer behindertenfeindlichen Gesellschaft

Von Frédéric Valin

Das Potsdamer Oberlinhaus im Juni 2013. Foto: Foto: Kwikk / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Pflege und Betreuung sind immer auch Zwang und Gewalt. Öffentlich thematisiert wird das aber erst dann, wenn sich eine »Tragödie« ereignet. So wie jetzt: Vier Bewohner*innen wurden im Potsdamer Oberlinhaus von einer langjährigen Mitarbeiterin ermordet. Die Namen der getöteten Opfer sind: Martina W., Christian S., Lucille H. und Andreas K. Eine weitere Person überlebte schwer verletzt. Am Tag vor der Tat stellte die zuständige Behörde bei einer Kontrolle keine Mängel fest. Das heißt wohl, man muss damit rechnen, ermordet zu werden, wenn man in einer betreuten Wohneinrichtung lebt.

Aber könnte man solche Gewalttaten durch Überprüfungen verhindern? Ist es nicht eine bedauerliche Einzeltat oder, wie der Vorstand des Oberlinhaus Matthias Fichtmüller sagt, »eine Erschütterung«, durch die wir »aus unserer Umlaufbahn geworfen worden sind«? Nicht jede Gewalttat ist vorhersehbar, aber es gibt einen systematischen Aspekt an dieser Gewalt. Es hat die letzten Jahre immer wieder Fälle dieser »bedauerlichen Einzeltaten« gegeben. Der Pfleger Niels Högel wurde 2015 zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er mindestens 85 Menschen ermordet hatte. Im Oktober 2020 stand ein Aushilfspfleger vor Gericht, weil er drei Personen mit Insulin getötet hatte; auch hier lautete das Urteil lebenslänglich. Im Juni 2018 verurteilte ein Gericht eine Altenpflegerin sowie zwei Hilfskräfte zu ebenfalls lebenslanger Haft, weil sie zwei Bewohnerinnen getötet hatten. Aktuell wird gegen 145 Beschäftigte einer Einrichtung in Bad Oeynhausen ermittelt, weil sie wiederholt Bewohner*innen gefesselt und in 21 Fällen mit Reizgas traktiert haben sollen. Und das sind nur Fälle, die bekannt wurden.

Es ist seit Jahrzehnten klar, dass Wohneinrichtungen Gewalt begünstigen und selbst Orte struktureller Gewalt sind. Darüber soll aber nicht gesprochen werden. Bei der Trauerfeier für die vier Ermordeten standen stellvertretend für die Opfer vier leere weiß besprühte Rollstühle auf der Bühne; eine Symbolik, die angelehnt ist an die weißen Stühle der Erdbebenopfer in Christchurch und an geweißte Fahrräder zum Gedenken an Unfallopfer. Martina W., Christian S., Lucille H. und Andreas K. wurden damit nicht nur auf ihre Behinderung reduziert. Die Tat wirkt dadurch wie eine Naturkatastrophe, ein Unfall.  Die Morde hatten in dieser Darstellung etwas Unausweichliches, an dem niemand schuld hat. Das ist nichts anderes als bewusst wegzusehen.

Matthias Fichtmüller sei, so sagte er dem Deutschlandfunk, »irritiert, dass die Geschehnisse in seiner Einrichtung nun den Anlass für eine allgemeine Debatte über den Umgang mit Menschen mit Behinderung bieten sollen.« Zwar sei das Thema Gewalt in Heimen wichtig, jetzt aber sei die Zeit für Trauerbewältigung und Aufklärung. »Zudem«, so heißt es in dem Beitrag, »wehre er sich gegen Einmischungen von außen.«

Pflegeeinrichtungen sind oft genug geschlossene Systeme, in denen Missstände lieber übergangen werden als sie zu thematisieren. Es mag für Fichtmüller unfair aussehen, dass seine Einrichtung so sehr im Fokus steht, und das ist auch ein Punkt, an dem er recht hat: Dieser Diskussion müssten sich alle Einrichtungen stellen. Aber auf keinen Fall darf die Debatte vermieden werden, indem auf die Überforderung der Belegschaft abgehoben wird. Aktivist*innen über den Mund zu fahren und das als »Einmischung von außen« abzutun, verkennt völlig, dass Betroffene zu Recht fürchten, die nächsten Opfer bedauerlicher »Einzeltaten« zu werden.

Es bräuchte eine Pflege, die stärker auf die Bedürfnisse der Gepflegten ausgerichtet ist; ein System, das weniger hierarchisch und viel offener ist als die jetzigen Heimstrukturen; Pflegende, die alltägliche Gewalt im System thematisieren und diskutieren; Verantwortliche, die nicht so tun, als wäre solche Gewalt ein »Schicksalsschlag«; eine Gesellschaft, die sich kontinuierlich für Vorkommnisse in Heimen interessiert.

Frédéric Valin

ist Autor. In ak schreibt er (endlich wieder!) die Kolumne »Torten & Tabletten«. Zuletzt erschien sein autobiografischer Roman »Ein Haus voller Wände« (Verbrecher-Verlag 2022) über seine Arbeit als Pfleger.