»Mama, kennst du Lenin?«
Der Roman »Camel Travel« von Volha Hapeyeva erzählt von Kindheit und Jugend Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in Minsk
Was können Fäustlinge über die Eigenständigkeit eines Kindes erzählen? Auf welche Weise kann die Schürze einer sowjetischen Schuluniform helfen, das unappetitliche Schulessen verschwinden zu lassen? Wie kann man Klavier spielen üben, ohne ein Klavier zu besitzen? Mit welchem belarusischen Lied kann man die kleinen Rowdies in Kirgistan beeindrucken? Und was macht es mit einem Mädchen, das mit den gesellschaftlichen Zuschreibungen für ihr Geschlecht konfrontiert wird?
Berührend, schlau und witzig erzählt Volha Hapeyeva, geboren 1982 in Minsk und in ihrer Heimat Belarus als Lyrikerin und Autorin von Kinderbüchern bekannt, in ihrem Roman »Camel Travel« über das Aufwachsen in einer turbulenten Zeit, als die Sowjetunion sich nichtsahnend auf ihr Ende zubewegt. Auch wenn die Sowjetunion munter vor die Hunde geht und schließlich die unabhängige Republik Belarus entsteht, werden in diesem Roman die großen historischen Ereignisse wie der Tschernobyl-Unfall, der Zusammenbruch der Sowjetunion oder die Transformationszeit in den 1990er Jahren vordergründig nicht thematisiert.
Für die kleine Volha ist der Übergang von einem kommunistischen System mit sowjetischen Ritualen in der Schule zum Sammeln von Kaugummipapieren mit Donald-Duck-Bildchen, was symbolisch für eine neue Ära steht, fließend. Geschichten einer Kindheit müssen nicht zwangsläufig alle Umbrüche der großen Geschichte widerspiegeln. »Camel Travel« ist ein Roman, in dem in zwanzig Kapiteln, prägende, hintergründige und amüsante Geschichten aus der Kindheit und Jugend der kleinen Volha auch einiges über die erwachsene Volha erahnen lassen. Ein Mädchen, das sich in dieser Zeit des Umbruchs emanzipiert, vor allem mit der Kraft des Willens und der Sprache.
Mit viel Selbstironie beschreibt die Autorin beispielsweise die Situation, als ihre Mutter auf die Frage »Mama, kennst Du Lenin?« mit der barschen Antwort »Wir sind nicht persönlich miteinander bekannt« das Gespräch und die offensichtliche kindliche Begeisterung der kleinen Volha für den Lenin-Mythos abkühlt. Die kleine Volha ist vom sowjetischen Pathos mehr angetan als ihre Mutter. In der Schule bringt die »allererste Lehrerin« den Kindern bei, die Regeln der Oktoberkinder zu lernen und sich darauf vorzubereiten, aufrichtige Kommunist*innen zu werden. »Oktoberkinder sind die Jungen Pioniere von morgen«, steht im Aufgabenheft. Und die Fibel beginnt mit »Lenin lebte, Lenin lebt, Lenin wird leben«, in riesigen Lettern geschrieben. Auch wenn zuhause keine Zuneigung zu der Partei gezeigt wird, scheint die kleine Volha vom kommunistischen Pathos fasziniert zu sein: »Aus mir hätte dagegen eine echte, aufrichtige und ergebene Kommunistin werden können, meine Naivität und der Respekt vor den Autoritäten Schule und Lehrerin hatten den Boden bereitet. Aber die Sowjetunion zerfiel, und ich kam über die Pionierin nicht hinaus.« Es ist vielleicht so, wie es in autoritären Systemen eben ist: Das System versucht einen zu einem braven und folgsamen Genossen zu machen. Aber weil kaum jemand (mehr) daran glaubt, werden die ideologischen Erziehungsmaßnahmen von der einfachen Bevölkerung mitunter aus den Angeln gehoben und verkehren sich ins Gegenteilige.
Kein Bock auf Matrjoschka
Von der großen Heimat Sowjetunion dagegen hält die kleine Volha nicht besonders viel: zu groß und abstrakt kommt sie ihr vor. Dazu noch die ständige Verwirrung, weil es für sie zwei Länder (BSSR und UdSSR), zwei Hauptstädte (Minsk und Moskau) und zwei Hymnen (der BSSR und UdSSR) gibt. Volha findet für dieses Gefühl eine Metapher, die für viele sowjetische Länder im Schatten von Russland gelten könnte: »Als lebten wir parallel in zwei Dimensionen oder im Bauch einer russischen Holzmatrjoschka. Die Dinger konnte ich noch nie leiden, weil sie so schwer aufgingen und so scheußlich kreischten, wenn der rohe Holzrand der oberen Hälfte gegen den der unteren rieb. Meine Lieblingsmatrjoschka war die letzte, weil die nicht aufging und nicht quietschte, glatt und winzig, wie die BSSR im Vergleich zur UdSSR. Die unendlichen Weiten der großen Heimat machten mir Angst, ich wollte mich nicht abfinden mit Matrjoschkaprinzip und Zweitrangigkeit.« Vielleicht ist es dieses Gefühl, das letztlich die erwachsene Volha dazu bewegt, sich für die belarussische Sprache zu entscheiden, die immer noch für zweitrangig gehalten wird, auch wenn sie de jure neben dem Russischen Staatssprache im unabhängigen Belarus ist.
Volha Hapeyeva
ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin. Ihre Gedichte wurden vom Belarusischen in mehrere Sprachen übersetzt: 2020 erschien ihr Gedichtband »Mutantengarten« in der Edition Thanhäuser. Nun ist ihr Roman »Camel Travel« in deutscher Übersetzung von Thomas Weiler bei Droschl erschienen.
Humorvoll und nüchtern blickt Volha auf ihre Kindheit und Erlebnisse, die sie geprägt und geformt haben. Der Vater verlässt die Familie, die Mutter verzichtet auf Nähe und Zärtlichkeit, weil sie dies auch von ihrer Mutter nicht mitbekommen hat. Man spürt die Wut der kleinen Volha, wenn sie auf die Momente zurückblickt, in denen sie einfach »wie die anderen Menschen (sprich: Männer)« behandelt werden möchte. Sie will Fußball spielen und nicht darauf hingewiesen werden, dass sie als Mädchen ans Heiraten denken soll.
Berührend, schlau und witzig erzählt Volha Hapeyeva über das Aufwachsen in einer turbulenten Zeit.
Aus der kleinen Volha, die mitunter vor Autoritäten Respekt hat, entwickelt sich schließlich die sehr eigenwillige und feministische Lyrikerin Volha Hapeyeva, die unter anderem Gedichte über Emmeline Pankhurst auf belarusisch verfasst und die sprachliche Auslotung von Grenzen zu ihrem Thema macht. Welche Erfahrungen diese junge Frau auf dem Weg zur belarusischsprachigen Lyrikerin in einer von Männern dominierten Literaturszene gemacht hat? Was hat sie auf diesem Weg geprägt? Das bleibt offen. Und das ist auch ein anderer Lebensabschnitt, der vielleicht in einer Fortsetzung erzählt werden könnte.
Das Kamel, das dem Roman den Titel gegeben hat, taucht übrigens auf, als die sechsjährige Volha zu ihren Verwandten in »die Heldenstadt Frunse«, heute Bischkek, in Kirgisien fliegt. Allein diese heldenhafte Bezeichnung klingt für die kleine Volha geheimnisvoll und vielversprechend. Es gibt ein Farbfoto von dieser Reise. Die sechsjährige Volha sitzt »mit einem schiefen Lächeln im Gesicht und stark hervortretenden Rippen (den Bauch gut eingezogen, vielleicht zu gut)« und überhaupt zu vielen Gedanken über den Bauch und ihren Körper auf dem Kamel. Dazu schreibt sie: »Das Abenteuer Leben fing gerade erst an«.