Ende der Taubheit
Im Konflikt um ein neues Hochschulgesetz eröffnen sich für die griechische Linke neue Freiräume
Von Lucy Nowak und Michael Schwarz
Die Eingangstüren des Verwaltungsgebäudes der Aristoteles-Universität in Thessaloniki, Makedonien stehen weit offen. Seit dem 21. Februar dieses Jahres ist es besetzt. Auf dem Platz davor sitzen mehr als 50 Menschen in einem großen Kreis und diskutieren. Auf einem Tisch liegt, gut sortiert, in Plastik verpacktes Mensaessen gestapelt. Auf dem Dach halten Menschen nach Polizeifahrzeugen Ausschau.
Diese Szenen ordnen sich ein in eine breitere Dynamik, die an das Bewegungshoch der griechischen Linken während der sogenannten Euro-Krise ab 2008 erinnert: Beinahe täglich finden derzeit große Demonstrationen statt. Nicht nur in Thessaloniki, auch in Ionniana, Komotini und Volos halten Studierende verschiedene Fakultäten der Universitäten besetzt – als Reaktion auf die Verabschiedung eines neuen Hochschulgesetzes. In Athen zogen Mitte März Zehntausende durch die Straßen, um gegen Polizeigewalt zu protestieren. Nach der Pandemie-Pause im letzten Jahr hat die Bewegung, so scheint es, nun einen »Kaltstart« hingelegt. Wie kam es dazu?
Regierung im Krisenmodus
Seit Sommer 2019 regiert die rechte Partei Nea Demokratia in Athen, sie löste die gescheiterte sozialistische SYRIZA ab. Eine Reihe von umstrittenen Gesetzen und Skandalen bringen sie nun zunehmend in Bedrängnis. So befindet sich ganz Griechenland seit fünf Monaten in einem Lockdown, der große Einschränkungen der Freiheitsrechte mit sich bringt. Das Haus darf nur für Besorgungen des täglichen Bedarfs verlassen werden. Auch Versammlungen, Besuche bei anderen Menschen oder das Reisen innerhalb des Landes sind verboten. Bei Kontrollen durch die Polizei drohen hohe Bußgelder. Für die Bevölkerung sind die Maßnahmen über so lange Zeit praktisch nicht einzuhalten.
Zugleich ist der Zugang zu medizinischer Versorgung äußerst begrenzt: Die strengen Sparauflagen, die die Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission Griechenland ab 2010 im Gegenzug für ihre »Hilfskredite« auferlegt hatte, haben dem Land ein marodes Gesundheitssystem hinterlassen. Zudem trifft der Lockdown nun in erster Linie Privatpersonen, nicht die Unternehmen. Die Corona-Politik wird deshalb von vielen als Fortführung einer tendenziell autoritären und reaktionären Politik der Regierung von Premierminister Mitsotakis wahrgenommen, die seit Amtsantritt eine ganze Reihe umstrittener Verordnungen und Gesetze erlassen hat. Dazu zählen eine Anti-Einwanderungspolitik mit der Verschärfung des Asylgesetzes und die Zunahme von illegalen Pushbacks, neue Arbeitsgesetze, die Entlassungen erleichtern und den Zehn-Stunden-Tag ohne Lohnausgleich erlauben, und das explizit für den Anarchisten Dimitris Koufontinas erlassene Gesetz zur härteren Bestrafung sogenannter terroristischer Gefangener.
Nach einer längeren Phase relativer Ruhe regt sich nun zunehmend Protest gegen diese Politik. So trat Koufontinas, ehemaliges Mitglied der Organisation 17. November, nach der enormen Verschlechterung seiner Haftbedingungen Anfang Januar in den Hungerstreik – und löste damit eine anhaltende Welle von Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen bis ins bürgerliche Lager hinein aus.
Zu Protesten führte zu Jahresbeginn auch die #MeToo-Debatte. Unter anderen wurde der Direktor des nationalen Theaters, Dimitris Lignadis, der Vergewaltigung Minderjähriger beschuldigt. Auch Fälle von eingeschränkter Pressefreiheit und Verletzung des Datenschutzes wurden in den letzten Wochen bekannt. So verkaufte die Regierung dem Betreiber der E-Learning-Plattform Webex sämtliche Daten der Nutzer*innen. Seit über einem Jahr benutzen circa 1,5 Millionen Menschen im Bildungsbereich diese Software für den Online-Unterricht.
Über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden sind außerdem die Vorfälle enormer Polizeigewalt. Ein Mensch war am Nachmittag des 7. März im Athener Vorort Nea Smirni von der Polizei verprügelt worden. Er hatte versucht mit Polizist*innen zu sprechen, die eine Familie wegen eines Corona-Verstoßes drangsalierten. Die Polizei behauptete, sie wäre von 30 Personen angegriffen worden, was Videoaufnahmen widerlegen. Das Ereignis löste tagelange wütende Proteste in Athen aus.
Vom University Asylum zur Campus-Polizei
Die aktuellen Kämpfe gegen das neue Hochschulgesetz, das im Februar dieses Jahres verabschiedete wurde, verdienen auch deshalb größere Aufmerksamkeit, weil Universitäten in Griechenland seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle für emanzipatorische Bewegungen spielen.
Das sogenannte University Asylum verbannte staatliche Sicherheitseinheiten für fast 40 Jahre vom Campus.
Viele Aspekte des neuen Gesetzes werden seit Jahren kontrovers diskutiert. Die Regierung Mitsotakis wählte nun die Lockdown-Zeit, um die neoliberale Reformierung der Universitäten durchzusetzen. Das Gesetzespaket soll vieles einführen, was in Resteuropa längst Standard ist: eine maximale Studienzeit, eine Untergrenze der Abschlussnote zur Zulassung, aber auch ein Kameraüberwachungssystem auf dem gesamten Campus sowie Zugangskontrollen. Räume dürfen nur noch ihrer Widmung entsprechend und nach Genehmigung genutzt werden. Für die Durchsetzung der Gesetze sind landesweit circa 1.000 neu eingestellte Polizist*innen verantwortlich, die auf dem Campus stationiert werden. Verstöße werden zukünftig von einer Art Disziplinarrat geahndet und können bis zur Zwangsexmatrikulation führen.
Diese Veränderungen in der Hochschullandschaft haben auch gesamtgesellschaftliche Bedeutung, denn während und nach der Militärdiktatur wurde von Linken ein anderes Grundverständnis von Universität erkämpft. Der Studierenden-Aufstand 1973 wurde von der Militärregierung niedergeschossen und die Besetzung der Politechnio (der technischen Fakultät) mit Panzern geräumt. Als Konsequenz dieser Ereignisse wurde in der ersten Reform nach der Diktatur das sogenannte University Asylum beschlossen. Dieses Gesetz verbannte staatliche Sicherheitseinheiten für fast 40 Jahre vom Campus.
Durch diese Besonderheit sind Universitäten in Griechenland immer ein wichtiger Ort für politische Organisierung gewesen, der nicht nur von Studierenden, sondern von der gesamten Bewegung genutzt wird. Es gibt zahlreiche besetzte Räume in den Fakultäten. Hier wurden Diskussionsveranstaltungen und Konzerte organisiert. 2018 fand in Thessaloniki das No-Border-Camp auf dem Campus und in den Hörsälen statt – ohne die Leitung der Universität um Erlaubnis zu fragen.
Die Studierenden organisieren sich an den Universitäten basisdemokratisch. Die Versammlungen der jeweiligen Institute sind das wichtigste Gremium für politische Entscheidungen, in denen alle Studierenden das gleiche Mitbestimmungsrecht haben. So haben in den vergangenen Wochen immer mehr Studierende beschlossen, ihre Fakultäten zu besetzen.
Verteidigung linker Erfolge
Der universitäre Zugang in Griechenland wird durch vielfältige Sozialleistungen erleichtert. So gibt es zum Beispiel keine Studiengebühren, und bei Bedarf wird Wohnraum gestellt. Die Mensa in Thessaloniki bietet jeden Tag in der Woche drei kostenlose Mahlzeiten an, die nicht nur von Studierenden, sondern auch von anderen bedürftigen Menschen in Anspruch genommen werden. Dass diese Struktur bis heute fortbesteht, ist ein Erfolg linker Studierender in Auseinandersetzungen mit der Verwaltung.
Die Unfähigkeit der SYRIZA-Regierung, ihre Versprechen zu halten, bewirkten eine Desillusionierung des Großteils der Bevölkerung.
Die rechte Regierung versucht nun, die Kontrolle zu übernehmen: schon 2019 wurde das University Asylum abgeschafft, mit der Begründung, dadurch mehr Ordnung und Sicherheit für die Studierenden zu schaffen – gerade im Zuge der aktuellen Diskussion um Polizeigewalt eine mehr als fragwürdige Erklärung. Das neue Hochschulgesetz soll diesen Prozess weiterführen.
Besonders große Dynamik entfalten die Proteste gegen das Gesetz an der Aristoteles-Universität in Thessaloniki, der größten Hochschule Griechenlands. Nach der Verabschiedung Mitte Februar ging auf einmal alles ganz schnell. Die Besetzung der Univerwaltung Prytaneia Ende Februar wurde sofort mit einem brutalen Polizeieinsatz beantwortet und das Gebäude teilweise geräumt. Die auf Socialmedia-Plattformen kursierenden Videos führten dazu, dass viele Menschen noch am selben Tag zur Wiederbesetzung zusammenkamen und hunderte vor dem Gericht die Freilassung der 31 Gefangenen forderten. In den darauffolgenden Wochen erklärten sich immer mehr Lehrende und Lernende der Uni solidarisch mit der Besetzung und kamen zu gemeinsamen Diskussion zusammen.
Mittlerweile musste das Prytaneia-Squat zwar aufgegeben werden; der zuvor wegen der Corona-Pandemie meist menschenleere Campus ist nun jedoch wieder ein gut besuchter Ort. Jeden Tag finden selbstorganisierte Veranstaltungen statt. Während ein feministisches Plenum über den Umgang mit übergriffigen Professoren berät, wird im Nebenraum der Bildungszugang für und mit Migrant*innen diskutiert. Es gibt wieder einen Ort, an dem Menschen zusammenkommen.
Hoffnungsschimmer
Die letzten Jahre in Griechenland waren vor allem geprägt von Rückschritten für die politische Linke. Die Unfähigkeit der SYRIZA-Regierung, ihre Versprechen zu halten, bewirkten eine Desillusionierung des Großteils der Bevölkerung. »Die Ereignisse der letzten Wochen haben dazu geführt, dass viele Menschen endlich die Taubheit abgeschüttelt haben, die sie seit dem Verrat von SYRIZA 2015 eingehüllt hat«, erklärt die Studentin Eleni, die sich an den Protestaktionen beteiligt.
Sich den Campus wieder anzueignen ist auch ein notwendiger Schritt, um ihn in den kommenden Monaten verteidigen zu können. Nach Aussagen des »Bürgerschutzministers« Michalis Chrysochoidis werden die ersten Polizist*innen bereits ab Mitte April auf dem Campus stationiert. Momentan wird sich in der besetzten Uni darauf vorbereitet, mit direkten Aktionen die Umsetzung der Gesetze zu stören.
Um den Erfolg der Bewegung aufrechtzuerhalten ist es entscheidend, diesen Verteidigungskampf an den Universitäten mit den aktuellen feministischen und migrantischen Bewegungen sowie den Kämpfen gegen Polizeigewalt zu verbinden. Nach den Misserfolgen der letzten Jahre müssen alle gemeinsam die Mammutaufgabe bewältigen, überhaupt erst wieder eine neue Vision für Veränderung zu schaffen – jenseits von Regierung und Parlament. Dafür kann die linke Bewegung in Griechenland auf eine Reihe bestehender Strukturen und viel Erfahrung in Selbstorganisation zurückgreifen – und mit den aktuellen Kämpfen hoffentlich neue Hoffnungsschimmer entfachen.