Schlecht klebende Pflaster statt Solidarität
Die Initiative Covax setzt auf internationale Hilfe bei der Impfstoffbeschaffung, doch dies kann das Recht auf Gesundheit nicht ersetzen
Von Anne Jung
Solidarität ist das Zauberwort dieser Pandemie. In nicht enden wollender Stereotypie wird sie gleichermaßen von der Politik, der Weltbank, Pharmaunternehmen und der Zivilgesellschaft angerufen, eingefordert, erwartet. So heißt es beispielsweise in einer gerade veröffentlichten Erklärung von Staatschef*innen von Chile über Südafrika bis Deutschland anlässlich des Weltgesundheitstages am 7. April: »Pandemievorsorge erfordert globale Führung für ein weltweites Gesundheitssystem, das den Anforderungen dieses Jahrtausends gewachsen ist. Wir müssen uns der Solidarität, Fairness, Transparenz, Teilhabe und Gerechtigkeit verschreiben, um dieser Verpflichtung gerecht zu werden.«
Ein Blick auf die globale Verteilung der Corona-Impfstoffe zeigt, dass es in der globalen Gesundheitspolitik weder gerecht noch solidarisch zugeht. Die Zahlen sind bekannt: Auf zehn wohlhabende Länder entfallen 75 Prozent der bislang verimpften Dosen, während über 100 Länder des Globalen Südens noch bis zu zwei Jahre auf die Versorgung mit dem Impfstoff zur Erlangung von Herdenimmunität warten müssen. Jahre, in denen die Schutzmaßnahmen wie Lockdowns selbst lebensgefährlich bleiben, weil die Menschen ohne jede soziale Absicherung unmittelbar ihr Einkommen verlieren. Jahre, in denen Hunderttausende an Covid-19 sterben werden, auch, weil es in ihren Ländern nur unzureichende öffentliche Gesundheitssysteme und viel zu wenig Beatmungsgeräte gibt, wo Armut und Hunger durch die prekärer werdenden (informellen) Arbeitsverhältnisse zunehmen werden und die Rückkehr zur Normalität nicht mehr bedeutet als die Rekonstruktion der alten Verhältnisse, die schon vor Corona krank waren.
Die Pandemie weist auf die vorher bereits existierenden Risse in unserer Weltgesellschaft hin. »Seien Sie ehrlich und sagen Sie: Mein Volk zuerst«, sagte die ehemalige ruandische Gesundheitsministerin Agnes Binagwaho: »Lügen Sie uns nicht an und sagen Sie nicht, wir seien gleichberechtigt.«
Wer von Patenten nicht reden will, schweige von Solidarität
Eines der größten Hindernisse bei der gerechten Versorgung mit Impfstoffen ist das Patentsystem. Patente sorgen dafür, dass die Kosten für die Impfstoffe hochpreisig sind und die Produktion nicht – wie es dringend nötig wäre – auf viele Orten der Welt von Dhaka bis Kapstadt ausgeweitet wird. Die Zusammensetzung und die Technologie für die Impfstoffe zu kennen ist eine Voraussetzung für einen Technologietransfer und den Ausbau der lokalen Produktion.
Die Industriestaaten halten dennoch am Patentsystem und der Kapitalisierung von Wissen fest. Und dies, obwohl das Patentsystem bereits bei der HIV/Aids-Pandemie dazu geführt hat, dass Millionen Menschen starben, weil sie die teuren Medikamente nicht bezahlen konnten.
Es sind Deutschland, Europa und mit ihnen fast alle Industrienationen, die durch intransparente Verträge dafür sorgen, dass das Wissen, das Voraussetzung für die Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe war und ist, den Pharmaunternehmen gehört, obwohl Milliardenbeträge aus öffentlichen Kassen in die Erforschung und Entwicklung der Impfstoffe geflossen sind. Die Industrienationen haben den Unternehmen vertraglich die Entscheidungsmacht verliehen, wie, wo und in welcher Anzahl die Impfstoffe hergestellt werden und wie viel sie kosten. Das ist privatwirtschaftliche Enteignung, organisiert durch den Staat. Es wäre die Verpflichtung der Regierungen gewesen, in den Finanzierungsverträgen die Offenlegung der Forschungsergebnisse und die faire Verteilung festzulegen − dies ist nicht geschehen.
Die Industrienationen waren es also, die mitten in einer Jahrhundertgesundheitskrise entschieden haben, die bestehende Ordnung bis zur letzten Impfdosis gegen die Gesundheitsbedürfnisse der Menschen und gegen die epidemiologischen Notwendigkeiten der Pandemieeindämmung zu verteidigen. Dies taten sie, indem sie die Initiative von über 100 Ländern des Globalen Südens zur Aussetzung des Schutzes auf verschiedenste Formen von geistigem Eigentums, den sogenannten Waiver, bei der Welthandelsorganisation Verhandlungsrunde für Verhandlungsrunde torpedierten. Noch deutet nichts darauf hin, dass beim nächsten Treffen im Juni ein Akt progressiver Solidarität zu erwarten wäre.
Impfstoffe müssen allen gehören – überall
Die Folge von alledem ist eine künstliche Verknappung der Impfstoffe. Spendenbasierte Initiativen wie Covax, eine klassische Public-Private-Partnership, die an die Weltgesundheitsorganisation angedockt wurde und auf freiwillige Zuwendungen von Staaten, Pharmaindustrie und philantropischen Stiftungen basiert, wurden als Feigenblatt des Kapitalismus ins Leben gerufen. Doch Covax kann eine globale Verteilungsgerechtigkeit des Impfstoffs nicht ermöglichen und hält zudem die benachteiligten Länder in Abhängigkeit. Denn ihnen bleibt nichts, als auf freiwillige Lieferungen zu warten. Mehr noch, Covax wird von der Europäischen Union gegen die strukturellen Maßnahmen in Stellung gebracht: Man fürchte, die Forderung nach Aussetzung der Patente würde die Pharmaindustrie so verärgern, dass sie aus Covax aussteigen könnte, heißt es von der EU.
Hilfe ersetzt also dieser Logik nach das Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit. Angesichts struktureller Ungleichheit kann sie nicht mehr sein als ein schlecht klebendes Pflaster, das die »sichtbaren Wundstellen der Gesellschaft planmäßig zukleben soll« (Adorno). Das ist die gelebte neoliberal gewendete Solidarität, wie sie im Eingangszitat der Erklärung »Lehren aus Covid-19« präsentiert wird. Unter den 20 Staats- und Regierungschef*innen, die den Aufruf unterzeichnet haben, finden sich übrigens auch Vertreter*innen jener Länder des Globalen Südens wie Südafrika und Costa Rica, die gleich nach dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 einen Technologie- und Wissenstransfer sowie die Freigabe der Patente gefordert haben. Was daraus wurde, ist bekannt: Nichts.
Es spricht Bände, dass in der Erklärung, die eine »Grundlage für eine bessere Vorbeugung und Bekämpfung von Seuchen schaffen soll«, kein Wort von Patenten und Eigentumsverhältnissen zu finden ist. Es liest sich daher wie eine Kapitulationserklärung der Länder, die es gewagt haben, mit ihren Ideen die bestehende Ordnung zu hinterfragen.
Organisationen und Bündnisse in vielen Ländern des Globalen Südens wehren sich gegen diese Abhängigkeiten und vernetzen ihre Kämpfe. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der breite Zusammenschluss der C19 People’s Coalition in Südafrika, die ihr politisches Handeln in der Pandemie mit Forderungen nach einem Grundeinkommen, einer Reform des öffentlichen Gesundheitswesens und der nationalen Gesetzgebung zu Rechten des geistigen Eigentums verbindet. Unter dem Motto Black Lives Matter demonstrieren sie für den Waiver bei der WTO und für globale Impfgerechtigkeit. Zurecht wenden sie und viele andere sich auch an uns mit der Forderung nach einer dezidierten transnationalen Solidarität.
Dieser geschichtliche Moment ist wie geschaffen für eine breitere globale Bewegung, um das Recht auf bestmöglichen Zugang zu Gesundheit allumfassend und universell auch jenseits von Pandemien zu erstreiten. Es ist genau der Moment, um eine an den Gesundheitsbedürfnissen aller Menschen ausgerichtete Politik einzufordern, die öffentliche Gesundheitssysteme gegen Kapitalinteressen verteidigt und darin auch die Macht der Pharmaindustrie begrenzt. Das ist im Interesse aller und noch dazu kostengünstiger als das System von Patenten.