Geh bitte! Die Zeit
Von Nelli Tügel
Neulich wurde die Wochenzeitung Die Zeit, die Bravo für pensionierte Professoren, bekannt aus gelederten Zeitungsständern in Wilmersdorfer Altbauwohnungen, 75 Jahre alt.
Aus einem schmierigen Geburtstags-Werbefilmchen erfuhren wir, dass man bei der Zeit für gute Arbeit vom Chef ein Stück Braten im Druckerraum zugesteckt bekommt. Außerdem stellte der Bratenverteiler, Giovanni di Lorenzo, zum Jubiläum in einem Leitartikel (»Pressefreiheit: Wofür stehen wir?«) einmal so richtig klar, wofür das Zentralorgan »der Mitte« steht. Nämlich – Achtung, Achtung – für die Pressefreiheit. Diese sieht di Lorenzo bedroht: von rechts wie von links. Man las, dass sein Amtskollege von der Bild, Julian Reichelt, wegen Drohungen »von links« in einer gepanzerten Limousine herumkutschiert werden müsse. Eine unbelegte Behauptung, die noch ein wenig zwielichtiger anmutet, da di Lorenzo gänzlich darauf verzichtete zu erwähnen, dass die Bild regelmäßig Menschen durch ihre schamlose Hetze das Leben zur Hölle macht (und Reichelt himself – wie pünktlich zum 8. März publik wurde – mutmaßlich auch einigen Frauen bei der Bild).
Di Lorenzo widmete sich außerdem ausführlich einem Phänomen, das er für einschüchternder hält als alle konkreten Bedrohungen, denen Journalist*innen ausgesetzt sind: der sogenannten Identitätspolitik. Man kann über Die Zeit wirklich sagen, was man will, aber hier bleibt sie sich treu. Kein Thema hat dieses Blatt über Jahre so zuverlässig begleitet wie dieses, wenn auch unter sich wandelnden Stichworten: Was darf man überhaupt noch sagen!?!; Sie legen Hand an die Kinderbücher!; Politische Korrektheit; Identitätspolitik; Cancel Culture; »Dieser Irrsinn muss gestoppt werden« (aus einer Zeit-Titelei vom 10. März). So wird en passant der Wunsch der Zeit-Leserschaft nach für sie folgenlosem »Diskurs« erfüllt – und daher ist es besonders witzig, dass di Lorenzo seinen Kommentar zum 75ten mit den Worten abschloss »Wenn Medien … darauf setzen, möglichst störungsfrei die eigene politische Klientel zu bedienen, dann betreiben auch sie die Spaltung der Gesellschaft« – ohne zu bemerken, dass das recht präzise das Geschäft seiner eigenen Zeitung beschreibt.
Ein bisschen neidisch dürfte die Redaktion den Clou des Spiegels zur Kenntnis genommen haben, zum 8. März mit dem »Kulturkampf um das Gendersternchen« (»Ist das noch deutsch?«) aufzumachen. Denn in der Disziplin, den sogenannten Kulturkampf zur Titelgeschichte zu erheben und zugleich anzuprangern, Linke (neuerdings oft ergänzt um das Attribut »woke«) interessierten sich nur noch für Kulturkämpfe, ist nun einmal Die Zeit Weltmeisterin. Vielleicht auch deshalb, weil man andere Themen den Oberstudienräten in Hamburg-Eppendorf nur dosiert zumuten möchte. Ein Jahr nach den Hanauer Terroranschlägen etwa kam das Blatt mit einer Seite 1 zum »Großen Unterschied« raus. Gemeint waren Männer und Frauen. Für diskussionswürdig hielt die Hamburger Redaktion die Frage, ob Männer bevorzugt geimpft werden sollten – aber die Auswüchse von Identitätspolitik sieht di Lorenzo eher bei den Linken. Nun ja.
Ich sag’s mal so: Mit 80 in Rente, das ist ein feuchter Traum der Neoliberalen. Im Zweifel würde sich Die Zeit, die auch mal über ihre Social-Media-Kanäle streikende Arbeiter*innen des Öffentlichen Nahverkehrs denunziert, immer hinter sie (also die Neoliberalen) stellen, klar, aber manchmal muss man die Leute auch vor sich selbst schützen. Deshalb: 75 Jahre sind genug! Es ist Zeit, dicht zu machen.