Methode und Missverständnis
Heather Brown durchsucht akribisch die Marxschen Schriften nach Wesentlichem für das Verständnis von Geschlechterverhältnissen
Von Bafta Sarbo
In »Geschlecht und Familie bei Marx«, das kürzlich im Dietz Verlag erschienen ist, untersucht die Politikwissenschaftlerin Heather Brown systematisch die Marxschen Schriften bezüglich der Stellung der Frau und Geschlechterverhältnissen. Sie beginnt mit einer Beschreibung der Krise des Neoliberalismus und der aktuellen Stellung der Frau im Kapitalismus. Seit einigen Jahrzehnten habe sich die feministische Theorie von antikapitalistischen Ansätzen wie der Frage nach dem Verhältnis von Klasse und Geschlecht und der politischen Ökonomie weg entwickelt und eher poststrukturalistischen Ansätzen zugewandt. Marxistische Feministinnen hätten zwar lange die Vereinbarkeit von Marxismus und Feminismus theoretisch nachgewiesen, eine systematische Durcharbeit aller Marxschen Schriften zu diesem Themen habe es bisher jedoch noch nicht gegeben. Das will Brown mit ihrem Buch leisten.
Sie beginnt dazu mit den Frühschriften, für die sie nachweist, dass Marx’ Versuch der Überwindung des Dualismus von Natur und Kultur eine Kritik der bürgerlichen Familie enthält, sowie dass die Theorie der Entfremdung insbesondere für die Frau anwendbar ist. Dies werde weiterentwickelt in Marx’ und Engels’ polit-ökonomischen Schriften, die die Folgen der kapitalistischen Entwicklung für Frauen und Kinder beschrieben. Wenn auch ihre Einschätzung zur Auflösung der Familie durch die kapitalistische Produktion nicht in der Form eintraf, zeigen sie doch, wie Familienverhältnisse den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktion untergeordnet werden. Aus ihrer weiteren Durchsicht von Marx’ politisch-journalistischen Arbeiten zeigt Brown, wie sein Verständnis der Frauenfrage im Kapitalismus sich durch den Einfluss der politischen Erfahrung der Frauen in der Arbeiterbewegung entwickelte. Durch eine Gegenüberstellung von Engels’ und Marx’ Schriften zur historischen Entwicklung des Geschlechterverhältnisses kontrastiert sie die Schlüsse, zu denen diese jeweils kommen. Sie sieht dabei in Marx’ dialektischer Methode eine komplexere Herangehensweise an Geschlechterfragen.
Browns Lesart der Marxschen Schriften zu Geschlecht und Familie ist vor allem in Bezug auf die Methodik aufschlussreich. Insbesondere die Dialektik von Natur und Kultur und die Historisierung des Biologischen zeigen die geschichtliche Veränderlichkeit von Geschlechterverhältnissen. Dies kann auch über die im Buch diskutierten Fragen der Stellung der Frau hinaus für queertheoretische Ansätze relevant sein.
Die Dialektik von Natur und Kultur und die Historisierung des Biologischen zeigen die geschichtliche Veränderlichkeit von Geschlechterverhältnissen.
Gerade in Bezug auf die Methodik kontrastiert Brown allerdings Marx und Engels. Sie führt das Missverständnis, dass Marx zu Geschlecht eher deterministische Antworten bietet, darauf zurück, dass vor allem Engels’ Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« bekannt sei und dass oft angenommen werde, Marx’ und Engels’ Denken sei voneinander nicht zu unterscheiden. Sie betont insbesondere, dass Marx durch seine Dialektik, die die Widersprüche in allen sozialen Beziehungen darstellt, eben die Subjektivität von Frauen erkannt habe. Im Gegensatz dazu ginge Engels monolithisch ausschließlich von der »weltgeschichtlichen Niederlage des weiblichen Geschlechts« aus, die Frauen als passive Elemente patriarchaler Unterdrückung zeichne. Eine Kontrastierung von Marx’ und Engels’ Darstellung der Entstehung der Geschlechterverhältnisse mag auf dieser Grundlage möglich sein, es widerspricht jedoch ihrem eigenen Selbstverständnis, so dass sich die Frage stellt, wieso es nicht auch möglich sein sollte, Engels’ Schriften als die vereinfachte politische Darstellung der marxistischen Theorie zu lesen, die sie sein sollten.
Laut Brown bleiben Marx’ Äußerungen zu Geschlecht zwar eher fragmentarisch, aber der Marxismus könne als methodischer Zugang für feministische Fragen ein sinnvoller Beitrag sein. Ob sich die dialektisch-materialistische Methode einfach auf Geschlechterfragen übertragen und vom klassenpolitischen Inhalt trennen lässt, bleibt offen. Doch Brown wirft die Frage indirekt auf, indem sie schreibt, dass Marx keine Privilegierung von Klasse gegenüber Geschlecht vornehme, sondern sie als parallel existierende Verhältnisse darstelle. Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist allerdings, ob die feministische Kritik, Marx habe sich mit Geschlecht nicht ausreichend befasst oder es nur zu einem Nebenprodukt erklärt, die Brown versucht auszuhebeln, nicht an sich schon auf einen methodischen Fehler verweist. Marx’ Gegenstand der Untersuchung war die Kritik der politischen Ökonomie. Marxistische Feministinnen haben mit Ansätzen wie der »sozialen Reproduktionstheorie« bereits Ergänzungen vorgenommen, die Geschlechterfragen zu einem wesentlichen Bestandteil kapitalistischer Ausbeutung erklären. Daher ist die Frage, ob es einer dezidierten Untersuchung, ob genau dies im Marxschen Denken bereits angelegt war, überhaupt bedarf.
»Geschlecht und Familie bei Marx« bietet trotz der stellenweise kontroversen Lesart eine akribische und dennoch sehr übersichtliche Durcharbeit der Marschen Schriften. Browns Buch kann daher ein sehr gutes Nachschlagewerk sein, um sich Marx’ Beitrag zu Geschlechterfragen konkreter anzuschauen.
Heather Brown: Geschlecht und Familie bei Marx. Dietz, Berlin 2021. 264 Seiten, 29,90 EUR.