Der feministische Zündfunke
Natasha A. Kelly, Expertin für Schwarze deutsche Geschichte, Antirassismus und Frauenbewegung, über afrodeutsche Politik
Interview: Johannes Tesfai
Schwarzen Widerstand gegen Rassismus und koloniales Unrecht gibt es in Deutschland schon lange. Das frühe Zusammendenken von Antirassismus und Feminismus hatte die Bewegung der deutschen Gesellschaft voraus.
Gab oder gibt es so etwas wie eine afrodeutsche Bewegung?
Natasha A. Kelly: Es gab zwei Wellen der afrodeutschen Bewegung. Die erste war während des deutschen Kolonialismus, also eine antikoloniale Bewegung. Sie war zum großen Teil von Schwarzen Menschen organisiert. Sie kämpften dafür, ihre rechtliche Situation in Deutschland zu verbessern, da sie nicht die vollen Grundrechte besaßen. Später in der Nachkriegszeit gab es dann viele Bemühungen für eine Gleichstellung der Schwarzen Kinder, die einen Schwarzen US-amerikanischen Soldaten als Elternteil hatten und deswegen in die USA zwangsadoptiert wurden. In den 1970er Jahren gründeten sich bereits feministische Gruppen, wie zum Beispiel die Schwarze Frauen Gruppe, die ihre Anliegen häufig im Radio artikulierten – damals die einzige Möglichkeit, Öffentlichkeit zu schaffen.
Die zweite Welle der Schwarzen Bewegung begann Anfang der 1980er Jahre, als die Schwarze Feministin Audre Lorde nach Deutschland kam und Gastprofessorin an der Freien Universität Berlin wurde. Dort gab sie verschiedene Literaturkurse und inspirierte unter anderem ihre Schwarzen deutschen Studentinnen May Ayim und Katharina Oguntoye, ihre Geschichten zu recherchieren und aufzuschreiben. So ist das Buch »Farbe bekennen« entstanden, das den Beginn der heutigen Bewegung markiert. Ich würde schon sagen, dass der Widerstand der Schwarzen deutschen Bewegung kontinuierlich war und ist, aber die beiden Höhepunkte waren während des Kolonialismus und in den 1980er Jahren.
Natasha A. Kelly
ist Autorin, Kuratorin und Kommunikationssoziologin mit den Themenschwerpunkten Schwarze deutsche Geschichte, Schwarzer Feminismus und Antirassismus. Ihr neues Buch »Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen« ist eine Reaktion auf den Sommer 2020 und erscheint am 23. April 2021 im Atrium Verlag.
Du hast das Buch »Farbe bekennen« erwähnt. Welche Bedeutung hat dieses Buch?
»Farbe bekennen« ist heute das Grundlagenwerk der Schwarzen deutschen Community. Darin konnte May Ayim ihre Diplomarbeit veröffentlichen. In dieser Arbeit ging es um die Sozialisation von Schwarzen Menschen in Deutschland. Außerdem sind in »Farbe bekennen« auch biografische Texte zu finden, die von Anfang der 1980er Jahre bis in die Nachkriegszeit zurückreichen. Das Buch ist also generationsübergreifend. In diesen Texten erzählen Schwarze Frauen von ihren Lebenserfahrungen in Deutschland.
Auffällig bei dem Buch ist, dass es schon relativ früh Feminismus und Schwarz-Sein zusammendenkt, also eine intersektionale Perspektive nahelegt. Warum war das Buch seiner Zeit voraus?
Ich glaube nicht, dass das Buch seiner Zeit voraus war, sondern, dass die deutsche Gesellschaft hinterherhinkt. Audre Lorde ist seit den 1970er Jahren eine der führenden Intersektionalitäts-Theoretiker*innen in den USA gewesen. Daher ist es gar nicht überraschend, dass sie während ihres Deutschlandaufenthaltes Schwarze Frauen dazu anregte, Race und Gender oder Rassismus und Sexismus auch im deutschen Kontext zusammenzudenken. Wir Schwarzen Frauen waren im internationalen Vergleich zeitgemäß. Es ist die Gesellschaft, die hinterherhinkt. Das darf nicht verkehrt werden. Entscheidend ist, dass die Schwarze Bewegung in den frühen 1980er Jahre durch den Schwarzen Feminismus wiedererwachte.
Wir Schwarzen Frauen waren im internationalen Vergleich zeitgemäß. Es ist die Gesellschaft, die hinterherhinkt.
Wie hat sich afrodeutsche Politik seit den 1980er Jahren entwickelt und was waren die dominierenden Themen seitdem?
Zu Beginn ging es viel um Identität. Mit »Farbe bekennen« wurden die Selbstbezeichnungen »Schwarze Deutsche« und »Afrodeutsche« geprägt. Durch diese Begriffe konnten wir rassistische Fremdbezeichnungen ablösen und unsere soziale Realität und politische Position erstmals überhaupt benennen. Darauf aufbauend ist sehr viel Aufarbeitung erfolgt: Deutsche Geschichte wurde aus Schwarzer Perspektive »neu« geschrieben, so dass beispielsweise die Situation von Schwarzen Menschen während des Kolonialismus und Nationalsozialismus sichtbar werden konnte. Anfang der 2000er Jahre ist dann eine postkoloniale Perspektivumkehr erfolgt. Wichtig war hier zum Beispiel die Umbenennung des Gröbenufers in Berlin-Kreuzberg in May-Ayim-Ufer, wo erstmals Schwarze deutsche Geschichte auch in Nationalgeschichte eingeschrieben wurde. Es konnte nachgewiesen werden, dass Friedrich von Gröben während Brandenburgs Beteiligung am Kolonialismus Ende des 17. Jahrhunderts zahlreiche Verbrechen begangen hatte, was schließlich 2010 zur Umbenennung führte.
Was war der Grund dafür, die postkoloniale Wende einzuleiten?
Der jahrelange Aktivismus von Schwarzen Organisationen. Um Geschichte aus einer anderen Perspektive schreiben zu können, braucht es die postkoloniale Umkehr. Das bedeutet letzten Endes dass, Geschichte, primär Kolonialgeschichte, nicht mehr aus der Perspektive der Täter*innen, sondern aus der Perspektive der Betroffenen erzählt wird. Diese postkoloniale Perspektivumkehr hat mit der Straßenumbenennung hier in Berlin begonnen, aber dieser Prozess dauert an und hat sich auch auf andere Städte ausgeweitet. Viele Community-Organisationen in Deutschland beschäftigen sich heute mit dekolonialen Projekten. Konkret heißt das, zu schauen, wo heute noch Spuren des Kolonialismus zu finden sind, um diese dann zu verfolgen und aufzuarbeiten. 2011 wurden z.B. die ersten Gebeine nach dem Genozid an den Herero und Nama nach Namibia zurückgeführt. Im Dekolonialisierungsprozess geht es also nicht mehr nur darum, Geschichte neu zu schreiben, sondern diese neu geschriebene Geschichte in Handlungen umzusetzen und Handlungsstrategien zu entwickeln.
Was würdest du unter Handlungsstrategien verstehen?
Neben den Straßenumbenennungen und die Rückgabe der Gebeine an die Herero und Nama, passiert gerade viel im Kulturbereich. Dort wird die Frage gestellt, wie denn überhaupt einzelne Objekte in den Besitz der Deutschen kamen. Es gibt vermehrt Ausstellungen zum Thema Kolonialismus, auch in der Literaturlandschaft hat sich sehr viel getan. Ich allein habe inzwischen mehrere Bücher herausgegeben oder geschrieben. Aber auch in der Politik verändert sich etwas, in Berlin gibt es seit letztem Jahr ein Landesantidiskriminerungsgesetz. Das würde ich auch als Meilenstein sehen, da jetzt anhand dieses Gesetzes auf der institutionellen Ebene gegen strukturellen Rassismus geklagt werden kann. Das war auf Grundlage des Antidiskriminierungsgesetzes des Bundes nicht möglich.
Ist die BLM-Bewegung ebenfalls so ein Meilenstein? Schließlich nimmt sie ebenfalls den strukturellen Rassismus in den Fokus.
Die Black-Lives-Matter-Bewegung begann 2013 als Hashtag-Bewegung im Internet und wurde dadurch sehr schnell zu einer transnationalen Bewegung. 2016 wurde die Hashtag-Initiative dann auch in Deutschland auf die Straße getragen und es wurde gegen strukturellen Rassismus und rassistische Polizeigewalt demonstriert. Allerdings haben die Black-Lives-Matter-Demonstrationen damals noch nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen. Ein Grund für die große Mobilisierung im Sommer 2020 liegt sicherlich an Corona. Die Leute waren viel zu Hause und haben die Berichterstattung sehen können. Im Normalfall wären sie vielleicht bei der Arbeit oder anderswo gewesen. Viele schlossen sich dann der Bewegung an. Mit Sicherheit sind nicht alle aus Überzeugung mitgelaufen. Sie waren vielleicht nur froh überhaupt rauszukommen, der erste Lockdown war ja gerade vorbei. Zudem gibt es jetzt eine junge Generation von Schwarzen Aktivist*innen, die sich heute anders organisieren. Diese junge Generation arbeitet viel mit Sozialen Medien und hat dadurch eine ganz andere Reichweite, als wir es damals hatten. Das hat die Mobilisierung enorm verstärkt.