analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 668 | Geschichte

Aufklärung nach fast 30 Jahren?

Der mutmaßliche Mörder von Samuel Yeboah wurde identifiziert – eine Durchleuchtung der saarländischen Neonaziszene könnte noch mehr ans Tageslicht bringen

Von Jessica Herrmann

Bei diesem Aufmarsch in Worms wurde der mutmaßliche Mörder von Samuel Yeboah zusammen mit NSU-Mitgliedern in Gewahrsam genommen. Zu sehen sind Ralf Wohlleben, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Foto: Antifa Saar

Am 19. September 1991 brannte die Asylbewerberunterkunft im ehemaligen Hotel »Weißes Röss’l« in Saarlouis-Fraulautern. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 19 Geflüchtete im Haus. Bis auf die drei Bewohner*innen aus dem obersten Stockwerk konnten alle aus dem Gebäude fliehen. Von den drei Übriggebliebenen sprangen zwei aus dem Fenster und erlitten Verletzungen, überlebten jedoch. Samuel Kofi Yeboah, ein Geflüchteter aus Ghana, versuchte durch das Treppenhaus zu fliehen. Er erlitt schwerste Verbrennungen, an denen er kurze Zeit später im Krankenhaus im Alter von 27 Jahren starb.

Der Brandanschlag war kein Einzelfall, sondern bildete vielmehr den Auftakt zu einer ganzen Serie: Allein 24 Brand- und Bombenanschläge sowie eine Vielzahl von Überfällen und anderen Gewalttaten gegenüber Antifaschist*innen, Wohnungslosen und Menschen, die rassistisch markiert wurden, prägten die 1990er im Saarland. Insbesondere in der Stadt Saarlouis, wo auch die Asylbewerberunterkunft brannte, häuften sich die Fälle. Die dortige Naziszene war ein gut organisiertes Netz, bestehend aus rechten Parteien, Kameradschaften und rechten Skinheadgruppen. Die Verbindungen reichten bis in staatliche Strukturen hinein.

Trotz oder vielleicht deshalb wurden die Ermittlungen zum Fall Yeboah bereits elf Monate nach dem Brandanschlag ergebnislos eingestellt. Die Behörden konnten oder wollten in Ermangelung eines Bekennerschreibens oder anderer Indizien wie Neonazigraffito am Tatort keine rassistische Tatmotivation erkennen. Fast 29 Jahre sollte es dauern, bis nun die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden. Im August letzten Jahres ließ die Bundesanwaltschaft verlauten, dass die Ermittlungen an sie übergegeben worden sind. Es gäbe »neue Erkenntnisse«, wobei »gravierende Anhaltspunkte auf einen rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Hintergrund des Anschlags« hindeuteten würden. (1)

Welcher Art diese Erkenntnisse sind und warum sie erst 29 Jahre nach dem Anschlag zu Tage treten, wird nicht beantwortet. Auch die Bundesregierung gibt auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Martina Renner (Die LINKE) mit dem Verweis auf laufende Ermittlungen und Staatswohlgefährdung keine Auskunft.

Militante Szene der 1990er Jahre

Nur durch über Jahrzehnte anhaltende antifaschistische Recherchearbeit sind detaillierte Einblicke in die saarländischen Verhältnisse der 1990er Jahre zu bekommen. Insbesondere die partielle Anbindung behördlicher Strukturen an die rechte Szene verdient hierbei besondere Aufmerksamkeit. In den späten 1970er Jahren unterhielt der Polizeibeamte Hans Günter F. über seine Mitgliedschaft in der Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten Kontakte zu Neonazis im gesamten Bundesgebiet, unter anderem zu Manfred Roeder. Roeder war der Gründer der Deutschen Aktionsgruppen, die insgesamt sieben Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte verübten. Bei einem dieser Anschläge wurden zwei Menschen tödlich verletzt. Als Roeder 1996 erneut vor Gericht musste, wohnten auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt sowie André Kapke und Ralf Wohlleben dem Prozess in Jena bei.

Neben der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP), der NPD und der Nationalistischen Front (NF) bestand die lokale rechte Parteienlandschaft unter anderem auch aus den Republikanern (REP). Insbesondere bei den REP finden sich Polizeibeamt*innen unter den Mitgliedern. 1989 wurde der Polizeibeamte i.R. Karl-Werner W. zuerst ihr stellvertretender Landesvorsitzende und ab 1993 schließlich erster Landesvorsitzender im Saarland. Gernot P., der Vorsitzende des im November 1993 gegründeten ersten saarländischen Ortsverbandes Merchweiler-Wemmetsweiler, war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Polizeibeamter. Beide traten bei der Bundestagswahl 1994 für die REP an.

Auch die rechten Skinheads waren ein bedeutender Bestandteil der Saarlouiser Naziszene. Zu Beginn der 1990er Jahre orientierten sich diese zunehmend an der FAP, welche den offenen Terror gegen Migrant*innen, BIPOC und politische Gegner*innen propagierte. Die Skins setzten das in die Tat um, wodurch die Anzahl der Übergriffe und Anschläge stieg. Trotz der wachsenden Dimension des Ganzen sprach die Lokalpolitik auch weiterhin verharmlosend von randalierenden Jugendlichen – die politische Komponente wurde außer Acht gelassen und die Existenz einer organisierten rechtsradikalen Szene dementiert. Selbst nach dem Tod Samuel Yeboahs stritt der damalige Saarlouiser Bürgermeister Alfred Fuß (SPD) in einem taz-Interview vom 26. September 1991 ab, dass es eine »richtige Szene« gibt – ausländerfeindlich sei man in Saarlouis bestimmt nicht. Zur Einordnung: Zum Zeitpunkt des Interviews waren bereits Brandanschläge auf Asylunterkünfte in Saarlouis-Rodern und Saarwellingen verübt worden. In Saarbrücken wurde eine Bombe am PDS-Büro entdeckt, eine weitere Bombe explodierte während einer Veranstaltung mit dem Thema »Den Nationalsozialismus überwinden« in Saarlouis.

»Akzeptierende Jugendarbeit«

Das Saarland und insbesondere Saarlouis entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer faschistischen Hochburg, in der sich Neonazis beinahe ungehindert ausbreiten konnten. Aufgrund des Images, das die Region inzwischen bundesweit erlangt hatte, sah sich die Stadt irgendwann doch gezwungen zu reagieren. Gemeinsam mit der evangelischen Kirche rief sie 1993 ein Projekt der akzeptierenden Jugendarbeit ins Leben: Die organisierten rechten Skinheadstrukturen galten dort als rebellierende Jugendliche, denen man nur wieder auf den rechten Weg verhelfen müsse. Das verharmloste die Skins nicht nur, ihnen wurde so auch gleich die Infrastruktur zur Verfügung gestellt, durch die die Szene wachsen konnte.

Was weder Politik noch Behörden in den 90er Jahren erkennen konnten oder wollten, ist nun der Bundesanwaltschaft in ihren Ermittlungen zum 19. September 1991 gelungen. In den frühen Morgenstunden des 28. Januar dieses Jahres fanden Durchsuchungen bei insgesamt fünf Personen statt. Einer davon ist der mutmaßliche Mörder von Samuel Yeboah, der langjährig aktive Neonazi Peter Werner S.

S. war seit etwa 1990 in der Saarlouiser Naziszene aktiv. Gemeinsam mit einem anderen Peter S., der als Zeuge ebenfalls durchsucht wurde, galt er als eine ihrer Führungspersonen. Laut einer Sprecherin der Antifa Saar/Projekt AK war es kein Geheimnis, dass Peter Werner S. und Peter S. in der Nacht der Ermordung Samuel Yeboahs am Tatort gewesen waren. Peter Werner S. hätte vor seinen Kameraden regelrecht damit geprahlt. Beide Peters beteiligten sich an mehreren Überfällen. Beide waren in der Kameradschaft Horst Wessel Saarlautern aktiv, die als Reaktion auf die 1995 verbotene FAP 1996/97 gegründet wurde. Die Kameradschaft hatte etwa 15 Mitglieder und organisierte verschiedene Naziaufmärsche sowie Ausflüge. Ihr Ziel war die Errichtung einer »National Befreiten Zone«, also die Erringung politischer sowie kultureller Hegemonie. Anführer der Kameradschaft war Peter S., der zugleich in der NPD-Jugendorganisation Junge Nationale (JN) aktiv war und hierdurch Verbindungen zu Neonazis in das gesamte Bundesgebiet unterhielt.

Auch von dem Projekt der akzeptierenden Jugendarbeit konnte Peter S. profitieren, indem er auch hier Kontakte, diesmal zu jungen Nachwuchsrechten knüpfte. In seiner Rolle als Führungsperson wurde er nicht nur von den Sozialarbeiter*innen, sondern auch von öffentlicher Seite akzeptiert. Die Aktivität und das Netzwerk der beiden beschränkte sich nicht nur auf das Saarland. An einem im August 1996 stattfindenden Rudolf Heß-Aufmarsch in Worms marschierte Peter Werner S. Seite an Seite mit Beate Zschäpe und Uwe Mundlos. Er wurde später sogar mit ihnen in Gewahrsam genommen. Zum Vorbereitungstreffen eben dieses Aufmarsches fuhr Peter Werner S. unter anderen gemeinsam mit dem Anführer der Sauerländer Aktionsfront (SAF) Thomas Kubiak. Kubiak verunglückte ein Jahr später gemeinsam mit André Zimmermann, ebenfalls Mitglied der SAF und V-Mann. Auf der Beerdigung der beiden waren unter anderem Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes anwesend.

Alle Karten auf den Tisch

Auch wenn mit Peter Werner S. nun einer der mutmaßlichen Mörder von Samuel Yeboah identifiziert werden konnte, so ist es damit noch nicht getan. Zu viele Fälle sind noch immer ungeklärt. Zugleich muss unbedingt aufgeklärt werden, welche Rolle die Behörden in den damaligen Ermittlungen gespielt haben. Dass nun bereits ein halbes Jahr nach Wiederaufnahme der Ermittlungen ein mutmaßlicher Täter gefunden werden konnte, deutet auf grobe, möglicherweise sogar gewollte Versäumnisse in den früheren Ermittlungen hin.

Interessant ist auch, dass Peter Werner S. 1997 aus der Szene ausgeschlossen wurde, nachdem er über seine Kameraden ausgesagt hatte. Eine szeneübliche Abreibung habe er allerdings nie bekommen, die habe Peter S. verhindert, berichten Szenebeobachter aus dieser Zeit. Das habe in der Neonazisszene schon damals für Gerüchte gesorgt, beide Peters seien als V-Leute tätig. Abwegig scheint das nicht: »Schon Mitte der 1990er tauchten immer wieder Gerüchte auf, dass es bei führenden Mitgliedern der Saarlouiser Szene Kontakte zu Polizeiführung und Verfassungsschutz gäbe«, so eine Sprecherin der Antifa Saar/Projekt AK. Die Tatsache, dass neben dem Landespolizeipräsidium auch der saarländische Verfassungsschutz eine interne Aufarbeitungsgruppe eingerichtet hat, unterstreicht, dass es gravierenden Klärungsbedarf gibt.

Hier wird besonders deutlich, dass es dringend einer unabhängigen Überprüfung unter zivilgesellschaftlicher Beteiligung bedarf. Alle Ermittlungsakten müssen gesichert und öffentlich zugänglich gemacht werden, damit eine gründliche und transparente Aufklärung überhaupt erst möglich wird. Das kann der Verfassungsschutz als Geheimdienst nicht gewährleisten.

Auch die Überschneidungen mit dem Thüringer Heimatschutz bzw. dem NSU müssen in die Aufklärung einbezogen werden. Laut dem Landtagsabgeordneten Dennis Lander (Die LINKE) befanden sich auf den NSU-Feindeslisten Daten von 86 saarländischen Anschlagszielen. Jegliche Ermittlungen müssen deshalb unbedingt unter Rückschluss auf die gesamte Szene und ihren überregionalen Verbindungen getätigt werden.

Anmerkung:

1) »Ungeklärte Mordfälle auf dem Prüfstand«, in: Saarbrücker Zeitung, 21.8.2020